Das so genannte „Kinderevangelium“, überliefert bei Markus 10,13–16 (parallel bei Lukas, Kapitel 18) lautet: „Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an. Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.“ In der Geschichte der Exegese wurde dieser Text vielfach als Aufruf an Erwachsene verstanden, kindlich zu werden. Manche Idealisierung des unschuldigen Kindes wurde hier abgeleitet, manch süßlicher Liedtext und manch rührselige bildliche Darstellung entstanden in diesem Zusammenhang.
Die rechtliche Stellung der Kinder zur Zeit Jesu aber war eine der klaren Unterordnung. Sie wurden als Arbeitskräfte genutzt, anderen zur Dienstleistung zur Verfügung gestellt, in jedem Fall waren sie dem Haushaltsvorstand völlig ausgeliefert. Diese sozialkritische Annäherung an die Stellung der Kinder in biblischer Zeit ist ein spannender neuer Zugang. Erst in den letzten Jahrzehnten werden bei der Exegese in der sozialgeschichtlichen Forschung die „Ungenannten“ entdeckt, die Deklassierten, die Frauen etwa und die Kinder. Denken wir näher darüber nach, so wird sehr einleuchtend, dass Kinder anwesend waren, wenn etwa die Rede davon ist, dass „viel Volk“ zusammen war, dass Tausende gespeist wurden oder dass später eine Hausgemeinschaft getauft wurde.
Im Markusevangelium wird bereits in Vers 9,36f. die Aufmerksamkeit auf ein Kind gelenkt, und zwar im Zusammenhang mit der Frage der Jünger, wer „der Größte sei“. Jesus stellt ein Kind in die Mitte und sagt: „Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.“ Schon das ist eine ungeheure Provokation. Nach der größten Anerkennung wird gefragt – ein Kind, dem keinerlei Rang in der Gesellschaft gebührte, wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Indem Jesus es in die Mitte stellt, zeigt er, dass aus Gottes Perspektive die gesellschaftlichen Strukturen umgekehrt werden. Gerade die Unscheinbaren stehen im Mittelpunkt.
Im wenig später anschließenden „Kinderevangelium“ werden Kinder zu Jesus gebracht. Vor den Augen derer, die um den höchsten Rang streiten, werden diese Kinder umarmt. Als Erwachsener musste Jesus hierfür in die Knie gehen. Die Kindersegnung ist damit eine Provokation für ein status-orientiertes Denken. Es geht um den Abbau sozialer Grenzen. Diese Vorgabe des Evangeliums ist auch für die kirchliche Haltung gegenüber Kindern von großer Bedeutung. Sind Kinder eine nette Begleiterscheinung oder stehen sie im Zentrum?
Interessant an der genannten Perikope ist, dass Kinder als Subjekte von Theologie vorgestellt werden. In unseren theologischen Überlegungen sind Kinder meist diejenigen, die noch werden müssen, die erzogen werden, die gebildet werden, die Objekt unseres Handelns und Denkens sind. Mit dem bei Markus wie Lukas überlieferten Satz „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“, werden Kinder zu Vorbildern für Erwachsene. Der kindliche Zugang zum Reich Gottes, zum Glauben wird nicht als defizitär dargestellt, sondern als geradezu vorbildlich. In der Art und Weise, wie Kinder sich bedingungslos anvertrauen, wie sie mit allergrößter Offenheit ohne jeden Hintergedanken ein Geschenk annehmen können, gilt es, den Glauben anzunehmen.
Ich bin überzeugt, dass wir tatsächlich theologisch von Kindern lernen können. Allem voran gilt es, die Elementarität herauszuheben. Viele unserer theologischen Aussagen, in vielen Fällen auch unsere Sprache in der Verkündigung, sind derart komplex geworden, dass sie den Grundfragen des Glaubens nicht mehr in einer Weise nachgehen, die Menschen berühren, die Menschen nahe kommen. Gerade auch bei unserer Suche nach einem Ausweg aus dem Dualismus von Geist und Leib, einer neuen Ganzheit der theologischen Wahrnehmung, kann uns das Denken der Kinder helfen, das meist wesentlich weniger abstrakt ist als das von uns Erwachsenen.
Von hier aus gedacht ist es nur konsequent, dass der Begriff der „Gotteskindschaft“ theologisch das Verhältnis Gott-Mensch immer wieder beschreibt. Gotteskindschaft meint als Begriff keine Entmündigung, sie bezeichnet eine Beziehungsrealität, die von Vertrauen geprägt ist. Das „Kind“ wird gerade nicht kleingemacht, sondern ernst genommen. Ja, mehr noch, Gott selbst kam als Kind zur Welt. Gott ist sich nicht zu groß, Kind zu sein.
Ich denke, wir sollten unser Engagement für Kinder bewusst als Weisung unseres Glaubens wahrnehmen. Das wird uns auch daran hindern, Kinderfragen zu verniedlichen.