Im Gespräch mit Prof. Dr. Renate ZimmerImmer in Bewegung! Motorische Entwicklung und Förderung

Motorische Entwicklung bedeutet mehr als das Erlernen neuer Kletter- oder Greiftechniken. Wie fortschreitende Bewegung u. a. die kognitive und emotionale Entwicklung von Kleinkindern beeinflusst, beschreibt Prof. Dr. Renate Zimmer im Gespräch mit Marion Lepold von der QiK-Online Akademie. Hören Sie im Interview mit der Expertin auch, wie pädagogische Fachkräfte die Jüngsten in ihrer motorischen Entwicklung am besten unterstützen, ob in der Kita oder Natur.

Auf einem orangenen Kreis steht in orangener Schrift Kleinstkinderpodcast und die Grafik eines Lautsprechers ist darüber

Marion Lepold: Hallo und herzlich willkommen zu unserem Gespräch mit Frau Professor Zimmer. Schön, dass Sie Zeit für einen Austausch mit mir haben, Frau Zimmer.

Prof. Renate Zimmer:Ja, hallo, Frau Lepold. Ich freue mich darauf.

Marion Lepold: Sie beschäftigen sich ja schon seit vielen Jahren unter anderem mit dem Thema Bewegung von Kindern. Dazu sind schon eine ganze Reihe von Veröffentlichungen von Ihnen erschienen. Ganz aktuell auch im Verlag Herder vor kurzem das Buch „Bewegung erleben in der Krippe“ und jetzt kommt ganz frisch im März ein Kleinstkinder-Themenheft, in dem es um die motorische Entwicklung und Förderung geht.
In dieser Altersspanne U3 passiert ja unglaublich viel Entwicklung, gerade im motorischen Bereich. Und wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, dann wird ganz schnell klar, es geht hier bei Weitem nicht nur darum, dass junge Kinder lernen, sich fortzubewegen oder irgendwas zu greifen. Was steckt denn in dieser Phase da noch alles drin, Frau Zimmer?

Prof. Renate Zimmer: Man kann zunächst einfach mal feststellen, wer sich bewegt, kommt voran. Das stimmt aber in doppelter Hinsicht. Voranzukommen ist für das Kind ja wichtig. Es fängt an zu robben, zu krabbeln, kann seinen Aktionsradius vergrößern, aber es kommt auch voran in Hinsicht auf seine zunehmenden Fertigkeiten, Fähigkeiten. Also, das kleine Kind erlebt ja über Bewegung, dass es auf die Welt einwirken kann und dass es die Welt im Grunde genommen auch ein Stück weit beeinflussen kann, indem es mit den Dingen agiert und hantiert. Und das hat aber natürlich auch Konsequenzen für die kognitive Entwicklung. Denn jede sinnliche Erfahrung, jede Bewegungsaktivität bringt auch den Prozess der Differenzierung der Nervenzellen, der Bildung der Synapsen im Gehirn weiter. Jede Aktivierung führt zu einer Befeuerung. Im Grunde genommen kann man sagen, das Netzwerk des Gehirns wird differenzierter.
Gleichzeitig gibt's aber auch so etwas auf der psychisch-emotionalen Ebene, was das Kind ja auch beflügelt, sich weitere Unternehmungen zuzutrauen. Also, es erwirbt Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Es spürt, das mehrfache Handlungen, Versuche irgendwann dann doch zum Erfolg führen. Das ist einerseits auf der kognitiven Ebene ein Fortschritt_ Wie gehe ich eigentlich an ein Problem heran? Andererseits gewinne ich aber auch die Erfahrung, dass jeder kleine Misserfolg eigentlich wieder zum nächsten Versuch anspornt, also dieses Emotionale und Psychische und die Bewegung umfassend Ineinandergreifen. Das, was eigentlich auch der Begriff der Psychomotorik beschreibt. Ich versuche ja auch immer in meinen Veröffentlichungen zu definieren, dass es keine Bewegung gibt ohne emotionale und psychische Beteiligung. Bewegung hat immer auch Rückwirkungen auf die eigene Einschätzung, auf die realistische Einschätzung meiner Fähigkeiten. Aber auch auf die Erweiterung meiner Grenzen, und darauf, herauszufinden: Was kann ich mir zumuten? Dazu ist Bewegung eigentlich das einzige Medium. Über den Körper greift das Kind ja in die Umwelt ein. Und es spürt, dass es da auch Erfahrungen und Wirkungsprozesse in Gang setzen kann. Diese Selbstwirksamkeitserfahrungen, das ist eigentlich das, was in den ersten drei Lebensjahren eine ganz, ganz, ganz wichtige Rolle spielt. Aus dem hilflosen Säugling wird ein aktiv in die Umwelt eingreifendes Lebewesen, was spürt: Ich kann auf meine Umwelt einwirken und das kann ich mit meinen Fähigkeiten und mit meinen sich tagtäglich auch verändernden Kompetenzen bewirken.

Marion Lepold: Jetzt haben Sie gerade den Begriff der Umwelt genannt. Da ist bei mir jetzt das Bild der Räume, also der Welt, in der sich das Kind bewegt hochgeploppt, denn die motorische Entwicklung steht ja eben auch im Zusammenhang mit den jeweiligen räumlichen Bedingungen, die die Kleinkinder vorfinden. Was ist Ihnen Bezug auf die räumliche Gestaltung von Krippen ein Anliegen?

Prof. Renate Zimmer: Also, der erste Bewegungsraum ist ja erstmal der Boden. Der muss also liebevoll gestaltet sein. Gerade Kinder im Krabbelalter, wenn sie anfangen zu robben, zu krabbeln, brauchen sie ja auch kleine Hindernisse, die sie gerne überwinden wollen. Sie entwickeln sich weiter und zunehmend wird der Bewegungsradius eben auch größer, geht vom Boden weg in die Höhe. Also, ich brauche Hocker, ich brauche Podeste, an denen ich mich hochziehen kann. Wenn man den Prozess der motorischen Entwicklung betrachtet, dann muss der Raum für alle Stufen was hergeben, für alle Kinder, denn auch es gibt auch Dreijährige, die vielleicht in ihrer Entwicklung nicht so weit sind wie ein Einjähriges, was sehr früh schon beginnt, sich aufzurichten. Also unter dem inklusiven Aspekt ist es wichtig, dass alle Kinder genügend Herausforderungen räumlicher Art finden. Anregungen, die vom Raum ausgehen und die ihnen auch immer wieder die Möglichkeit geben, zurückzukommen auf Prozesse, wo sie sich noch nicht ganz erfolgreich erlebt haben. Die Treppe ist ja für die Kinder ein wunderbarer Raum, an dem sie Stück für Stück ihre Fähigkeiten erweitern können. Treppen vielleicht mit Teppichboden bespannt, dass sie weich sind, dass sie runde Kanten haben, dass sie mal Randbegrenzungen haben, sind neben Podesten, neben Matratzen, über die man hinweg kriechen und rollen kann, sind wunderbare Herausforderung. Ein Raum für Kleinkinder muss alle Sinne ansprechen.

Marion Lepold: Jetzt haben wir ja nicht nur die Innenräume der Kita, sondern auch das Außengelände bzw. die nähere Umgebung der Kita. Was ist denn aus Ihrer Sicht die besondere Chance, die im bewegten Spiel im Außenbereich steckt?

Prof. Renate Zimmer: Draußen zu spielen heißt für Kinder ja, sich mit höchster Intensität und Konzentration den Bedingungen zuwenden, die sie draußen vorfinden. Und da gibt es nichts, was langweilig ist. Eine Wiese, ein Maulwurfshügel, ein Stock, alles bietet wunderbare kreative Anlässe sich zu betätigen. Da werden kreative Kräfte freigesetzt, da gibt es keine Funktionsfähigkeit, die vorgegeben ist, sondern jedes Kind gestaltet seine Außenwelt wieder neu. Ich wünsche mir eigentlich für Kinder gerade im Krippenalter, dass sie jeden Tag mehrere Stunden draußen verbringen können. Und dass nachmittags die Matschhose auch entsprechend aussieht - und die Eltern dies als Erfolg der Kita werten.
Draußen spielen bietet Freiheit und Grenzen gleichzeitig. Das ist für Kinder auch sehr schön zu erleben. Den Regen muss ich akzeptieren. Aber ich kann ihn auch für die Spielsituation nutzen.

Marion Lepold: Wenn man jetzt ihre Veröffentlichungen zu dem Thema liest, dann liest man auch heraus, was ihnen ganz wichtig ist: Dass die Kinder, wenn sie unter freiem Himmel spielen, auch die Möglichkeit haben, echte Bewegungsherausforderungen zu meistern und die Chance, reale Risiken einzugehen. Warum ist Ihnen der Aspekt so wichtig?

Prof. Renate Zimmer: wachsen ja eigentlich in einer recht überbehüteten Umwelt auf. Also Eltern tun alles dafür, keine Risiken auftreten zu lassen und alles vorzubedenken, weil sie berechtigterweise ja auch Angst haben, dass den Kindern etwas zustößt. Aber die kleinen Malessen, die kleinen Spuren eines kleinen Misserfolgs, eine Beule, eine Schramme ist ja auch für das Kind ein Signal. Da habe ich mich zu weit gewagt. Da habe ich nicht achtsam genug auf die Umwelt geachtet, da habe ich mich nicht richtig eingeschätzt. Und dieses Signal braucht es. Risiken zu bewältigen, heißt, sich fit zu machen für die Vorbeugung größerer Gefahrensituationen. Man muss ja auch unterscheiden zwischen Risiko und Gefahr. Ein Kind muss Gefahren erkennen, aber das kann es nur, indem es auch Risiken bewältigen lernt. Und dafür ist natürlich das Draußenspielen eine wunderbare Herausforderung. Dafür sind aber auch kleine Angebote in einer Bewegungslandschaft hilfreich, die einem Kind helfen, seine Fähigkeiten zu erproben kann.

Marion Lepold: Ja, und dann noch eine abschließende Frage. Wenn Sie über Bewegung von Kindern sprechen oder schreiben, dann geht's ganz oft auch um das Gleichgewicht zwischen Bewegung und Ruhe. Warum spielt dieses Gleichgewicht denn so eine wichtige Rolle? Und wie können pädagogische Fachkräfte das unterstützen?

Prof. Renate Zimmer: Ruhe und Bewegung sind eigentlich zwei Pole der kindlichen Aktivität. Wenn Kinder sich ausreichend bewegen können, entsteht ein ganz natürliches Bedürfnis nach Ruhe und Stille, die sie auch genießen, wenn sie nicht permanent vom Erwachsenen hören würden. Kannst du nicht mal ruhig sein! Sei doch mal still! Sei nicht so laut.“ Das hören Kinder öfter von Erwachsenen, als dass diese sagen: Ja, du darfst jetzt mal laut toben, wild spielen.“
Wir haben als Erwachsene ein größeres Bedürfnis nach Ruhe. das ist auch verständlich von unserer Entwicklung her; aber von der Entwicklung des Kindes her muss da tatsächlich ein ausgewogenes Verhältnis herrschen. Also ich plädiere schon dafür, den Kindern auch wilde Spiele zuzugestehen und dabei ist der Grad des Wildseins bei jedem Kind sicher ein bisschen unterschiedlich. Aber gleichzeitig kann man ihm auch den Genuss des ruhevollen Spiels, des Erlebens der Stille gönnen. Eine Kissenschlacht kann ja auch damit enden, dass man sagt: Okay, das Kissen ist ein wunderbares Kuschelkissen, da kann ich einer Geschichte zuhören, da kann ich ein kleines Ruhespiel, ein Entspannungsspiel, eine kleine Ballmassage oder Ähnliches genießen. Ich würde mir sehr wünschen, dass Kinder die Ruhe und Stille mehr unter dem Aspekt des Genießens erleben und nicht nur als Aufforderung der gestressten Erwachsenen.

Marion Lepold: Alle, die jetzt Interesse an den Themen entwickelt haben, lade ich ganz herzlich ein, einen Blick in Ihre Veröffentlichungen zu werfen. Es ist ja bunt gemischt, was es von Ihnen gibt. Ich danke Ihnen, liebe Frau Zimmer, ganz herzlich für das Interview und die Zeit. Es war mir wieder eine Freude mit ihnen zu sprechen.

Prof. Renate Zimmer: Danke schön, Frau Lepold. Für mich genauso.

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