Es ist für mich eine große Ehre und eine noch größere Verantwortung, heute hier zu sein. Ich bin nicht als Experte für internationale oder geopolitische Angelegenheiten hier, auch nicht als Wissenschaftler mit dem Spezialgebiet internationale Beziehungen, sondern als Hirte – als Zeuge für die gelebte Erfahrung des Heiligen Landes. Ich möchte hier versuchen, meine Stimme dem stillen Schrei eines Landes zu geben, das noch immer blutet und hofft. Und als Hirte möchte ich mich auch äußern.
Es ist nicht meine Absicht, die Ereignisse der letzten zwei Jahre zu schildern, die jeder in den Medien verfolgt hat. Die akute Phase des Konflikts scheint nun vorbei zu sein, doch alles muss neu aufgebaut werden – nicht nur die Infrastruktur, sondern mehr noch Menschlichkeit und Vertrauen. Vielleicht haben wir jetzt mehr inneren Raum als zuvor für den Versuch zu verstehen, was dieser bewaffnete Zusammenstoß nicht nur in unserer persönlichen Wahrnehmung, sondern auch in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften entscheidend verändert hat, und wie dies geschah.
Wenn ich die Lage der Menschen im Heiligen Land in diesen Monaten in ein Bild fassen müsste, wäre es dieses: Schmerz, der den Schmerz anderer nicht sieht. Das Herz ist so voll, so durchdrungen, so zerrissen vom eigenen Leiden, dass nicht einmal ein Millimeter Platz für das Leiden eines anderen bleibt. Jeder fühlt sich als Opfer – als das einzige Opfer – dieses Tsunamis der Feindseligkeit. In dieser Landschaft aus materiellen und moralischen Trümmern hat uns der jüngste Waffenstillstand eine prekäre Erleichterung gebracht, aber keine Gelassenheit. Das Ende der Feindseligkeiten markiert nicht den Beginn der Versöhnung. Die Wunden sind zu tief.
Wo also fangen wir wieder an? Welche Sprache können wir verwenden, wenn alle Worte abgenutzt scheinen? Auf welchen Horizont können wir blicken, wenn der Qualm von Explosionen unseren Himmel so lange verdunkelt hat? Aus dieser Frage gehen meine heutigen Überlegungen hervor. Ich möchte Sie auf eine Reise mitnehmen, die von der rauen Realität eines verwundeten Landes zu einer ewigen Berufung führt. Leuchtturm und Kompass dieser Reise ist das mächtigste und widersprüchlichste Symbol der Menschheitsgeschichte: die Stadt Jerusalem.
Ich werde nicht auf politische Fragen und Verantwortlichkeiten eingehen – nicht weil ich mich davor fürchte. Meine Meinung zu diesem Thema habe ich bereits mehrfach geäußert, und ich muss mich nicht unbedingt wiederholen. Außerdem erfordert dieser prestigeträchtige Ort Überlegungen, die ich so gehoben wie möglich halten möchte. Ich werde versuchen, die Oberfläche der Realität aufzuritzen, um eine Idee, einen Traum, eine Berufung zu befragen, die im Herzen der Offenbarung verankert sind.
Die Realität – Die Trümmer der Gegenwart
Zunächst müssen wir uns, wie gesagt, bewusst machen, wo wir derzeit stehen: in gemeinschaftlichen Beziehungen, in sozialen und politischen Perspektiven und im religiösen Leben, das einen so wichtigen Einfluss auf das zivile Leben der Völker im Heiligen Land hat. Seit dem 7. Oktober 2023 sind wir in ein Meer aus Blut und Feuer getaucht. Wir haben Tod, Zerstörung, Groll und Rachegelüste erlebt. Mit Gottes Hilfe haben wir versucht, eine Brücke zu sein und einen Funken Hoffnung am Leben zu erhalten. Nun hat der Waffenstillstand Szenen des Jubels hervorgerufen. Die Freude geht jedoch mit tiefer Skepsis einher, denn wir wissen, dass die eigentliche Herausforderung jetzt erst beginnt.
Die Krise hat dem jahrelangen mühseligen interreligiösen Dialog geschadet, und er ringt nun um einen Neubeginn. Die Illusion einfacher Aussichten auf Frieden oder einer kurzfristigen Lösung der israelisch-palästinensischen politischen Frage ist zerronnen. Gemeinschaften sind innerlich gespalten, sodass jeder in seinem eigenen Schmerz, seiner Wut und Enttäuschung gefangen ist, und die Krise hat das Vertrauen der Bevölkerung in ihre jeweilige politische Führung untergraben.
Zunächst werde ich kurz auf diese drei Punkte eingehen, obwohl ich weiß, dass es andere, nicht weniger wichtige Themen gibt, etwa die Rolle der internationalen Gemeinschaft und multilateraler Gremien, die gegenwärtige Relevanz und Wirksamkeit internationaler Konventionen und vieles mehr. Anschließend werde ich versuchen, anhand des Bildes von Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes einige Zukunftsperspektiven aufzuzeigen und zu präzisieren, was unsere Berufung als Christen sein sollte.
Interreligiöser Dialog
Der tiefe Hass sowie die politische und militärische Gegnerschaft sind offensichtlich. Es gibt aber auch eine Art „spirituellen Konflikt“, wenn man es so nennen will. Ich werde jetzt nicht auf theologische oder spirituelle Diskussionen eingehen, die allerdings interessant und nützlich wären. Ich beziehe mich nicht auf den Kampf zwischen Gut und Böse, als ob das Gute auf der einen und das Böse auf der anderen Seite stünde, wie oftmals und von vielen in diesem Konflikt behauptet wurde. Die tiefe Abneigung und ihre Folgen – Tod und Leid, deren Bilder um die Welt gegangen sind – stellen jedoch eine erhebliche Herausforderung für das spirituelle Leben im Heiligen Land dar, für diejenigen, die in der Existenz der Welt und ihrer Bewohner einen Widerschein der Gegenwart Gottes sehen. Dieser bewaffnete Konflikt wirkt sich eindeutig auf das innere Leben der Bewohner des Heiligen Landes aus. Diejenigen, denen das spirituelle Leben am Herzen liegt, kann das Geschehen nicht gleichgültig lassen. Im Heiligen Land sind Glaube und Religion entscheidend für die Existenz der verschiedenen Gemeinschaften: Christen, Muslime und Juden. Welche Rolle haben Glaube und Religion in diesem Konflikt gespielt, der verheerende Auswirkungen auf das Leben aller hatte?
Der soziale Fortschritt hat uns die wesentlichen Werte des bürgerlichen Lebens immer klarer bewusst gemacht. Die Welt erkennt sich zunehmend in einigen wenigen Worten wieder, die allen gemeinsam sind: Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden und die Würde jedes Menschen, um nur einige zu nennen. Nach den Tragödien des 20. Jahrhunderts verfassten internationale Organisationen wichtige Dokumente über die Beziehungen zwischen den Völkern, auch in Zeiten von Konflikten, mit sehr klaren internationalen Gesetzen und Konventionen. Der interreligiöse Dialog hat ebenfalls schöne Dokumente über die Geschwisterlichkeit der Menschen, über uns alle als Kinder Gottes und über den notwendigen gemeinsamen Einsatz für die Achtung der Menschenrechte hervorgebracht. All diese Früchte gehen aus einem Tun hervor, das ich als spirituell betrachte, insbesondere letztere, die mir aus offensichtlichen Gründen am nächsten steht.
Und doch scheint all dies in unserem aktuellen Kontext bedeutungslos geworden zu sein. Offenbar hatten die Worte des Geistes im gerade erwähnten Sinne keinen Einfluss auf die getroffenen Entscheidungen. Scheinbar waren die Menschen nur von blindem Groll gegeneinander bewegt, und dies war das Hauptkriterium für ihre Entscheidungen.
Es muss auch zugegeben werden, dass in diesem Konflikt eine bedeutende Lücke bestand und immer noch besteht: die Stimme der religiös Führenden. Mit wenigen Ausnahmen, insbesondere in den letzten Monaten, haben wir keine Erklärungen, Überlegungen oder Gebete von lokalen religiösen Führungspersönlichkeiten gehört, die sich von den Äußerungen anderer unterscheiden, die politische oder soziale Führungsrollen haben. Es entsteht der Eindruck, dass jeder ausschließlich aus der Perspektive seiner eigenen Gemeinschaft spricht – Juden mit Juden, Muslime mit Muslimen, Christen mit Christen und so weiter. Jede Gruppe wahrt und bekräftigt das Narrativ der eigenen Gemeinschaft, oft gegen den anderen.
Während des Konflikts war und ist es beispielsweise recht schwierig, interreligiöse Treffen zu veranstalten, zumindest öffentlich. Jüdische, muslimische und christliche Führungsgestalten können sich nicht treffen, nicht einmal, um ihre unterschiedlichen Ansichten zu äußern. Interreligiöse Beziehungen, die einst gefestigt schienen, sind nun offenbar ausgesetzt. Jeder fühlt sich vom anderen betrogen, nicht verstanden, nicht verteidigt, nicht unterstützt.
In den letzten Monaten habe ich mich oft gefragt: Ist der Glaube an Gott wirklich die Grundlage des persönlichen Denkens und Bewusstseins und schafft dadurch unter uns Gläubigen ein gemeinsames Verständnis – zumindest in einigen zentralen Fragen des sozialen Lebens? Oder ist unser Denken von etwas anderem geprägt und begründet? In anderen Worten gefragt: Fürchte ich in meinen Taten und Worten eher Gott oder die Reaktionen der Menschen, Politiker und der Medien? Habe ich, wenn ich mich an meine Gemeinde wende, den Mut zur Parrhesia, zur wahren Orientierungshilfe? Eröffne ich neue Horizonte oder wäge ich einfach meine Worte ab, um niemanden zu stören? Sind die biblischen Propheten nur Erinnerungen an die Vergangenheit oder ein Vorbild für unsere heutige Rolle?
Das ist keine triviale Angelegenheit. Gerade in diesen Zeiten des Schmerzes und der Verwirrung, in einem Kontext, in dem Religion eine so bedeutende öffentliche Rolle spielt, müssen wir uns unaufhörlich fragen, ob und wie der Glaube unsere Gemeinschaften zur Selbstprüfung ohne Selbstgefälligkeit einladen und ihnen so Orientierung geben kann. Der Glaube muss eine Quelle von Trost und Unterstützung sein, in gewisser Weise auch eine herausfordernde Kraft. Wenn der Glaube in einer Erfahrung der Transzendenz verwurzelt ist, muss er auch das Denken dazu anregen, den gegenwärtigen Moment zu überschreiten und die Grenzen von Verstand und Herz zu öffnen, um darüber hinauszugehen. Gläubige können Wut und Schmerz in Gebete umlenken. Sie sollten ihren Blick heben und erkennen: Gott beruft sie letztlich, auf andere zu schauen, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sind.
Dieser Konflikt markiert auch einen Wendepunkt im interreligiösen Dialog, der zumindest zwischen Christen, Muslimen und Juden nicht mehr wie bisher fortgesetzt werden kann. Die jeweiligen Religionsgemeinschaften haben sich von den anderen nicht unterstützt, manchmal sogar abgelehnt gefühlt. Wellen des Antisemitismus sind weltweit zu einer Quelle von Anschuldigungen gegen Christen durch jüdische Gemeinschaften geworden, die sich nicht unterstützt fühlen. Islamische Gemeinschaften fühlen sich als Zielscheibe von Islamophobie. Fast jeder beschuldigt die Christen, auch sie selbst untereinander. Kurz gesagt: Offenbar waren wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in diesem Moment der Wahrheit nicht in der Lage, einander zu verstehen und mit Autorität ein starkes gemeinsames Wort zu sprechen.
In der Vergangenheit habe ich einige Kontroversen ausgelöst, weil ich gesagt habe: Der 7. Oktober und der Gaza-Krieg haben Jahre des interreligiösen Dialogs zunichte gemacht. Heute bin ich weniger drastisch. Wir sehen dies auch im Zusammenhang mit den verschiedenen Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Dokuments „Nostra Aetate“. Der 7. Oktober und der Gaza-Krieg waren wahrhaft Wendepunkte in unseren Beziehungen, doch die Jahre des interreligiösen Dialogs wurden dadurch nicht ausgelöscht. Meiner Meinung nach ist eine Etappe der Reise, die wir bisher zurückgelegt haben, abgeschlossen – eine wichtige Etappe. Wir können uns nicht mehr auf ein Urteil darüber beschränken, was in unserer gemeinsamen Vergangenheit getan oder nicht getan wurde. Wir müssen von unseren gegenwärtigen Erfahrungen ausgehen und die Themen diskutieren, die für unsere jeweiligen Gemeinschaften heute zentral sind: das Verhältnis zwischen Religion und Politik, unterschiedliche Auslegungen der Heiligen Schrift, der Begriff des Personseins, Rechte und Würde, personale und kollektive Identität – kurz gesagt, Themen, die den religiösen Bereich direkt mit dem zivilen und sozialen Leben unserer Gemeinschaften verbinden.
Aus dieser Erfahrung heraus müssen wir neu beginnen und uns dabei bewusst sein, dass Religionen eine zentrale Rolle als Orientierungshilfe spielen und dass der Dialog unter uns einen wichtigen Schritt vorwärts machen muss, ausgehend von unseren gegenwärtigen Missverständnissen, unseren Unterschieden und unseren Wunden. Und dies muss nicht notgedrungen oder erzwungen geschehen, sondern aus Liebe. Denn trotz unserer Unterschiede lieben wir einander, und dieser Liebe wollen wir nicht nur in unserem persönlichen Leben, sondern auch im Leben unserer Gemeinschaften konkreten Ausdruck geben. Einander zu lieben bedeutet nicht unbedingt, gleicher Meinung zu sein, sondern zu wissen, wie man Meinungen zum Ausdruck bringt und wertschätzt, indem man einander respektiert und akzeptiert.
Die Sprache der Politik
Wie wir gesehen haben, hat die Politik in dieser Krise sowohl auf lokaler als auch auf internationaler Ebene die Hauptrolle gespielt und wird dies auch weiterhin tun. Wie ich jedoch eingangs sagte, werden wir dies hier nicht diskutieren. Stattdessen möchte ich einen anderen Aspekt ansprechen, der dennoch damit zusammenhängt: die Beziehung zwischen der Sprache, die die Politik in den letzten Jahren verwendet hat, und der aktuellen humanitären und sozialen Katastrophe.
Dies ist kein völlig neues Thema, aber vielleicht wurde es zumindest in unserem Kontext noch nie eingehender behandelt. In den letzten Monaten wurde viel über die Unmenschlichkeit dieses Konflikts diskutiert – über die Unmenschlichkeit der begangenen Taten, die eindeutig auf Bildern gezeigt wurde. Tatsächlich waren Bilder zu sehen, die aufgrund ihrer Grausamkeit und des hervorgerufenen Schmerzes fassungslos machen. Hinter diesen Bildern, die mehr sagen als Millionen von Worten, stehen reale, konkrete, greifbare Situationen. Die Folgen dessen, was am 7. Oktober im Süden Israels geschah und was in Gaza geschah, dauern nicht nur an, sondern werden wahrscheinlich weitergehen. Dies stellt eine tiefe Wunde für unser Gefühl für Menschlichkeit und unsere Achtung vor dem Menschen dar. Ich habe Menschen getroffen, Israelis und Palästinenser, die von diesen Ereignissen betroffen sind: wütend, doch tief verletzt, gedemütigt, unfähig zu begreifen, was geschah, verloren, und doch auch bedürftig der Worte voll Nähe, Empathie und Verständnis.
Mir wurde klar, wie wichtig es ist, nicht nur dafür zu sorgen, dass die eigenen Dienststellen ihre Verantwortung erfüllen, sondern auch mit Worten der Ermutigung und vor allem der Orientierung und Leitung präsent zu sein, in einem Kontext des anscheinend totalen Verlustes. Auf Bilder von Schmerz und Hass müssen wir mit Bildern und Worten von Hoffnung und Licht reagieren.
Davon war in den letzten Jahren in der Politik nichts zu sehen; stattdessen hat sie weiterhin frei und reichlich Worte des Hasses, der Verachtung und der Ablehnung des anderen verbreitet. Minister und politische Autoritäten auf der einen Seite, Führungsgestalten von Bewegungen und politischen Organisationen auf der anderen Seite, die zu Hass anstacheln, den Wert des Lebens anderer verachten und Gewalt schüren und dazu anstiften, waren und sind nach wie vor kein nebensächlicher Aspekt der gegenwärtigen politischen Landschaft. Sie spielen weiterhin eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, politische Entscheidungen und Aussichten auf Frieden und Stabilität zu verhindern. Welche Zukunft kann ein Politiker, der Feindseligkeit und Ideen der eigenen Überlegenheit verbreitet, oder eine politische Führungsgestalt, die sich über den Tod anderer freut, jemals aufbauen?
Welchen Sinn hat es, von politischen Aussichten auf Frieden, Wege der Versöhnung, Begegnungen, Dialog oder endgültige politische Lösungen für Völker zu sprechen, die unabhängig von der politischen Ordnung zur bleibenden Nachbarschaft bestimmt sind, wenn auf lokaler Ebene das Motto vorherrscht: „Ich und sonst niemand!“ (Jes 47,10)? Diese abweisende Haltung haben wir oft auch bei vielen Demonstrationen auf der ganzen Welt gesehen, auf beiden Seiten.
Mehrfach habe ich über die Notwendigkeit eines Wechsels in der politischen Führung gesprochen – eine Notwendigkeit, die sich aus dieser Beobachtung ergibt. Multilaterale Organisationen, die in diesem Konflikt stark geschwächt sind, blieben oft blockiert und gelähmt, weil sie sich nicht auf die Verwendung von Worten und auf eine Sprache für ihre Erklärungen einigen können.
Kurz gesagt: Es braucht Mut, zu sagen, was man denkt, aber auch den Mut, darüber nachzudenken, was man sagt, und man muss sich bewusst sein, welche entscheidende Rolle Worte bei der Gestaltung von Gedanken, Kultur und Richtung spielen. Die Träger öffentlicher Verantwortung haben die Pflicht, ihre Gemeinschaften mit einer angemessenen Sprache zu leiten – mit einer Sprache, die gemeinsame Gefühle und Wahrnehmungen ausdrücken, aber auch das Denken leiten und notfalls die Verbreitung von Hass und Misstrauen eingrenzen kann, die oft in den Medien wuchern. Man darf nicht einfach mit dem Strom schwimmen, sondern muss wissen, wie man ihn lenkt, und dabei das Risiko von Missverständnissen und Einsamkeit in Kauf nehmen. Es gilt unbedingt ein Gefühl für Menschlichkeit zu bewahren, vor allem in der eigenen Sprache, privat wie auch öffentlich, und dies auch in den sozialen Medien, die einen starken Einfluss auf die öffentliche Meinung haben, aber keinen Tiefgang oder Einblick in komplexe Situationen erlauben, wie wir sie gerade erleben.
Sprache prägt Meinung und Denken; sie kann Hoffnung wecken, aber auch Verbitterung. Menschlichkeit – das Bedürfnis, menschlich zu bleiben, die Würde jedes Menschen und sein Recht auf Leben und Gerechtigkeit zu wahren – beginnt mit der Sprache. Eine gewalttätige, aggressive Sprache, voller Hass, Verachtung, Ablehnung und Ausgrenzung, war in diesem Konflikt kein nebensächliches Element. Die Entmenschlichung des anderen, von welcher Seite auch immer, ist eine Form der Gewalt, die weitere Gewalt in vielen Kontexten und Formen rechtfertigen kann.
Beim Nachdenken darüber müssen wir erkennen, dass dieses Phänomen schon lange vor dem 7. Oktober begann. Wie oft musste man in den letzten Jahren darauf achten, bestimmte Worte, die in einem Kontext üblich waren, in einem anderen Kontext nicht zu verwenden, und umgekehrt? Jede Seite, die israelische und die palästinensische, hatte ihr eigenes Vokabular und ihr eigenes Narrativ, voneinander unterschieden und unabhängig, mit seltenen Berührungspunkten in kleinen, begrenzten Kreisen.
Daher ist der Mut zu einer inklusiven Sprache notwendig. Selbst in den schroffsten Konflikten und Gegensätzen muss sie das Gefühl für Menschlichkeit klar und fest bewahren, denn wir bleiben immer Menschen, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, egal wie sehr es durch böse Taten entstellt sein mag.
In der Öffentlichkeit und im Privatraum, in den Medien, in Synagogen, Kirchen und Moscheen ist der Mut nötig, Worte zu verwenden, die Horizonte öffnen und nicht zu Gewalt oder Ablehnung anstiften. Ist dies nicht letztlich der größte Beitrag der Kirche in unserer Situation – eine Sprache bereitzustellen, die in der Lage ist, eine neue Welt zu schaffen, die noch nicht sichtbar ist, aber bereits am Horizont aufscheint? Selbst Universitäten, die kritisches Denken fördern sollten, sind manchmal zu Orten moralischer Intoleranz geworden. Die europäische Geschichte hat uns bereits gezeigt, welche Risiken das Streben nach Reinheit mit sich bringt: Böses entsteht auch aus der Unfähigkeit, zu denken und zu hinterfragen. Heute besteht die reale Gefahr darin, dass kritisches Denken und Zweifel als Schwäche angesehen werden.
Zentren der Kultur wie diese spielen daher eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Sprache und Denken, welche die Rechte von Individuen und Gemeinschaften respektieren, zur Interpretation der Realität verhelfen und auch zu deren Gestaltung beitragen. Es gilt Bildungswege zu schaffen, die das Verständnis für die großen Veränderungen, die im Gange sind, fördern, anstatt sie passiv zu erdulden. Politik ohne Vision, ohne ein Denken, das auf einem gemeinsamen Sinn für Menschlichkeit und Zugehörigkeit sowie auf der Achtung der eigenen Würde und der Würde anderer beruht, kann nur zum Ruin führen, wie wir gesehen haben.
Die gelebte Erfahrung der Gemeinschaften
In den letzten Jahren sahen sich die israelische und die palästinensische Gemeinschaft mit einer beispiellosen internen Krise konfrontiert, die das Vertrauen in die Möglichkeit von Veränderungen und sogar die Hoffnung auf eine Zukunft mit politischer Stabilität und Frieden zutiefst untergrub. Ein allgegenwärtiges Gefühl der Depression und Erschöpfung, das der Waffenstillstand nicht beseitigt hat, hält weiterhin an. Die Freilassung der Geiseln brachte der israelischen Gemeinschaft Erleichterung, hat jedoch die politische Krise des Landes nicht gelöst, das in der Frage der staatlichen Identität offenbar zunehmend gespalten ist.
Während unter den Israelis nach der Freilassung der Geiseln eine gewisse Erleichterung herrscht, ist die Situation für die Palästinenser völlig anders. In Gaza ist alles zerstört, und es gibt keine klare Vision für die Zukunft, weder im Hinblick auf den Wiederaufbau noch auf die Regierung. Im Westjordanland verschlechtern sich die Bedingungen weiter, da die Siedler fortlaufend Angriffe verüben, ohne Rücksicht auf das Gesetz oder das Leben der lokalen Bevölkerung. Eine Änderung dieser Situation ist nicht in Sicht.
All dies, zusammen mit den Gräueln des Konflikts, hat das Gefühl des Misstrauens, der Verlassenheit und der Hoffnungslosigkeit weiter vertieft. Feindseligkeit und Ablehnung zwischen Israelis und Palästinensern werden immer stärker.
Ich muss betonen: Ohne politische und religiöse Führungspersönlichkeiten, die in der Lage sind, ihre jeweilige Bevölkerungsgruppe in eine neue Richtung zu lenken, wird ein Weg vorwärts schwierig sein. Wir müssen alles wieder aufbauen – nicht nur Häuser, sondern auch Vertrauen. Um dies zu erreichen, müssen die Worte „Gerechtigkeit“, „Wahrheit“, „Vergebung“ und „Versöhnung“ nicht länger bloße Wunschvorstellungen sein und wieder gelebte Realität werden.
Aber wie baut man die Seele eines Volkes wieder auf? Ein Vorbild ist nötig, eine kraftvolle Idee. Hier hört der Glaube auf, privater Trost zu sein, und wird zu einer prophetischen Linse, durch die man die Geschichte deuten kann.
Ich glaube, dass die vor uns liegende Zeit dem Wiederaufbau nach der menschlichen, sozialen und religiösen Zerstörung gewidmet sein muss, die dieser Konflikt verursacht hat. Die Universitäten sind voll von politischen Analysen, internationale Gerichte befassen sich mit Klagen, und in den Parlamenten wird debattiert.
Jetzt ist es notwendig, die Fundamente zu legen und Kriterien für den Wiederaufbau festzulegen, um unsere kirchliche Berufung neu zu definieren. Ich möchte dies anhand des Bildes von Jerusalem aus dem Buch der Offenbarung tun, wie es in den letzten beiden Kapiteln erscheint. Dieses Bild liegt mir sehr am Herzen, nicht zuletzt, weil ich Bischof von Jerusalem bin. Ich glaube, es spiegelt sehr gut wider, was die Berufung der Kirche heute in unserem spezifischen Kontext sein muss.
Die Berufung – Der Traum Gottes namens Jerusalem
Die Bibel beginnt mit einem Garten, Eden, endet jedoch mit einer Stadt: dem neuen Jerusalem. Das ist kein geringfügiges Detail; es ist eine Offenbarung. Die Erfüllung der Menschheitsgeschichte ist keine Rückkehr zur ursprünglichen Unschuld, sondern der Eintritt in eine reife, komplexe, versöhnte Gemeinschaft – eine Stadt. Jerusalem ist in der Vision des Buches der Offenbarung keine Utopie, sondern ein Modell der Existenz. Es repräsentiert die christliche Art, in der Welt zu sein. Betrachten wir seine charakteristischen Merkmale, die – ich wiederhole es – meiner Meinung nach unsere derzeitige Berufung als Kirche des Heiligen Landes – und vielleicht darüber hinaus – zum Ausdruck bringen.
Eine Stadt mit offenem Himmel (Offb 21,1)
"Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr" (Offb 21,1).
Das Erste, was Johannes sieht, ist nicht die Stadt, sondern ihr Himmel. Ein neuer Himmel. Jerusalem hat einen Himmel. Das mag selbstverständlich erscheinen, ist es aber nicht. Jerusalems Gegenspielerin Babylon wird in der Bibel bis ins Detail beschrieben: die Flüsse, Wüsten und Abgründe. Doch der Himmel von Babylon ist nie zu sehen. Es ist eine Stadt ohne Himmel und daher ohne Gott, eingeschlossen in einem rein menschlichen Horizont, dem Untergang geweiht.
Jerusalem hingegen hat nicht nur einen Himmel, sondern einen besonderen Himmel: Es ist ein „neuer“ Himmel. Warum ist er neu? Es ist nicht das erste Mal, dass Johannes vom Himmel spricht. In Kapitel 4, nach den Briefen an die sieben Gemeinden, beginnen die Visionen mit einer Ankündigung: Der Seher sieht, dass eine Tür im Himmel offen ist (Offb 4,1). Der Himmel ist grundlegend neu, weil er offen ist, und er ist offen, weil der Menschensohn vom Himmel herabgestiegen und in den Himmel zurückgekehrt ist (vgl. Joh 1,51). Er ist neu, weil der glorreiche Herr bei seiner Rückkehr in den Himmel nach der Auferstehung die ganze Menschheit mit sich nimmt: Der neue Himmel ist bereits von Menschen bewohnt. Wo es einen neuen Himmel gibt, gibt es auch eine neue Erde (Offb 21,1) und eine neue Stadt (Offb 21,2). Das Jerusalem in dieser Vision der Offenbarung zeichnet sich durch eine völlige Neuheit des Lebens aus: Das Frühere ist vergangen: Seht, ich mache alles neu (Offb 21,4-5).
Dies ist eine schöne Beschreibung der Identität Jerusalems und erinnert die Gläubigen: Um die Stadt aufzubauen, um Beziehungen untereinander und zwischen unseren Gemeinschaften aufzubauen, müssen wir zuallererst mit dem Bewusstsein der Gegenwart Gottes, mit dem Glauben beginnen. Gott darf nicht ausgeschlossen werden. Jerusalem hat einen Himmel, hat die Gegenwart Gottes. Jerusalem ist daher nicht nur eine Frage politischer Grenzen oder technischer Vereinbarungen. Das Hauptmerkmal, die Identität der heiligen Stadt und des Heiligen Landes im Allgemeinen – so müssen wir erkennen – besteht darin, der Ort der Offenbarung Gottes zu sein, der Ort, an dem die Glaubensgemeinschaften zu Hause sind. Viele frühere Vereinbarungen über Jerusalem sind gescheitert, und auch zukünftige Vereinbarungen werden scheitern, wenn die religiösen und spirituellen Empfindsamkeiten der Gemeinschaften, die dazugehören – Juden, Muslime und Christen – nicht gleichermaßen berücksichtigt werden. Jerusalem muss in erster Linie ein Haus des Gebets für alle Völker sein. Wir brauchen wirklich etwas Neues, um über den jeweiligen Status quo hinauszugehen und neue Modelle des Lebens und der Beziehungen aufzubauen, in denen der gemeinsame Glaube an Gott Anlass der Begegnung und nicht der Ausgrenzung wird und uns für den Himmel und die Welt öffnet, in der alle Gläubigen sich berufen fühlen, die Menschheit zu Gott zu bringen.
Kein Friedensprojekt im Heiligen Land kann die vertikale Dimension außer Acht lassen, das Bewusstsein, dass dieses Land vor allem der Ort der Offenbarung ist.
Eine Stadt, die herabkommt (Offb 21,2.10)
"Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. Da entrückte er mich in der Verzückung auf einen großen, hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam" (Offb 21,2.10).
Jerusalem erhebt sich nicht stolz zum Himmel, sondern kommt herab. Johannes sieht es zweimal herabkommen. Das ist kein einmaliges Ereignis, sondern Jerusalems Seinsweise. Diese herabkommende Bewegung ist nicht ein für alle Mal geschehen, sondern sie ist eine Existenzform. Es ist eine Stadt, die sich ständig von Gott empfängt. Ihr Leben ist nicht Eroberung, sondern Geschenk. Johannes verwendet die biblischen Bilder einer Braut, die sich für den Bräutigam schmückt, und eines Zeltes, in dem Gott wohnt. Daher ist diese Stadt dazu berufen, in tiefer Vertrautheit mit dem Herrn zu leben, und zugleich – wie das biblische Zelt – ein Ort der Begegnung zwischen Gott und den Menschen zu sein.
Dies ist eine entscheidende Warnung für religiöse Institutionen: Ohne ein kontinuierliches „Herabkommen vom Himmel”, ohne demütig aus der Quelle der Beziehung zu Gott zu schöpfen, läuft Religion Gefahr zu verkümmern. Religionen ohne dieses fortwährende „Herabkommen vom Himmel” – das heißt, ohne ihre Denkweise kontinuierlich aus der Beziehung zu Gott zu schöpfen und sich ständig aus dem Wort Gottes zu nähren – laufen Gefahr, zu uneinnehmbaren Festungen zu werden und nicht Städte zu sein, die offen für die Welt sind. Das kontinuierliche Empfangen von Kraft und Perspektive von Gott ist nicht ein für alle Mal gegeben; es erfordert eine fortwährende spirituelle Anspannung.
Eine Stadt ohne Tempel (Offb 21,22)
"Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, Gott, der Allherrscher, ist ihr Tempel, er und das Lamm" (Offb 21,22).
So stellt sich Gott eine Stadt vor, in der er unter den Menschen leben kann. Im Alten Testament wurde Gottes Gegenwart durch den Tempel garantiert, durch den Ort, an dem Gott wohnt und die Menschen ihm begegnen können. In dieser Hinsicht stellt die Vision von Jerusalem im Buch der Offenbarung eine bedeutsame Neuerung dar, die besonders deutlich wird, wenn man sie mit dem Text vergleicht, auf den Johannes sich bezieht: die Kapitel 40–48 des Propheten Ezechiel, die ausdrücklich vom Tempel als Ort der Gegenwart Gottes sprechen: Und der Name der Stadt soll von heute an sein: Hier ist der Herr (Ez 48,35).
Nichts davon findet sich im Buch der Offenbarung. Hier macht die Vision einen außergewöhnlichen Sprung: „Einen Tempel sah ich nicht“. In der Stadt Gottes ist das Heilige nicht mehr eingegrenzt. Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen heilig und profan. Gott wohnt nicht in einem Gebäude, sondern in einer Beziehung: Der Herr, Gott, der Allherrscher, ist ihr Tempel, er und das Lamm. Es gibt nicht einen Ort, an dem Gott gegenwärtig ist, und einen anderen, an dem er nicht gegenwärtig ist; einen Ort, an dem er zuhört, und einen anderen, an dem er nicht zuhört. Das bedeutet auch: Es ist nicht etwa der eine einbezogen, während andere ausgeschlossen sind. Alle sind zugelassen, gerade weil es keine Trennung mehr gibt. Bei Ezechiel war der Zutritt zum Tempel nur Priestern gestattet, und alles war nach einer sehr strengen Einstufung organisiert. Im neuen Jerusalem kann jeder eintreten: Männer, Frauen, Kinder, Freie und Sklaven, Gesunde und Kranke.
Im neuen Jerusalem gibt es keine Orte, die man besitzen kann, sondern es gibt nur Beziehungen, die aufzubauen sind. Dies ist eine wichtige Botschaft in einem Kontext, der von Konflikten um Land, um die Festlegung von Grenzen und von gegenseitiger Ausgrenzung geprägt ist. Die Besetzung von Räumen scheint unser Hauptanliegen zu sein. Fast scheint es so, als müsse man, um Beziehungen aufzubauen oder eine Stimme zu haben, Eigentum besitzen, Räume besetzen und seine Anwesenheit durch Besitz rechtfertigen. Wer keinen Platz hat, ist ein Niemand. Auf allen Ebenen – Grenzen, heilige Stätten, Eigentum – scheint alles auf Besitz aufgebaut zu sein. Alles scheint sich um die Frage der Räume zu drehen, die zum einzigen Kriterium für die Interpretation politischer und sozialer Perspektiven geworden sind. Und wir haben gesehen, wohin das geführt hat. Vielleicht ist es notwendig, diese Kriterien zu überdenken.
Wir dürfen nicht naiv sein. Grenzen sind notwendig. Wir müssen unsere lebenswichtigen Räume definieren. Sie dürfen jedoch nicht Grund zur Spaltung werden. Wir müssen – und wir können – einen Weg finden, zusammenzuleben, und dabei die Orte des anderen respektieren. Wo Orte geteilt werden, lassen sich Wege des Einvernehmens finden, um die Geschichte und unterschiedliche Sensibilitäten zu respektieren. Der Gott des neuen Jerusalem nimmt keine Räume ein und schafft keine Barrieren. Niemand ist ausgeschlossen. Deshalb darf man Gott nicht benutzen, um Entscheidungen der Ausgrenzung zu rechtfertigen.
Das ist keine geringe Lektion, besonders in einer Zeit, in der eine völlig andere Sprache vorherrscht, in der man den anderen, seine Orte, seine Geschichte, in extremen Fällen sogar seine Anwesenheit leugnet. Es ist eine wichtige Botschaft, insbesondere in dieser Zeit. Es ist eine kopernikanische Wende.
Eine Stadt, die von einer Lampe erleuchtet wird (Offb 21,23)
"Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm" (Offb 21,23). "Es wird keine Nacht mehr geben und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten und sie werden herrschen in alle Ewigkeit" (Offb 22,5).
Es gibt keinen Tempel, sagten wir. Wo aber ist dann Gott, und wie wohnt er in Jerusalem? Wo begegnet man ihm? Gottes Gegenwart in der Stadt ist weder niederdrückend noch überwältigend; sie nimmt keinen Raum ein, zieht keine Aufmerksamkeit durch ihre Erhabenheit auf sich und drängt sich nicht auf. Gott ist gegenwärtig in der Stadt als Lampe, als Licht. Er ist gegenwärtig als eine neue Sichtweise und damit als eine neue Lebensweise; er erleuchtet Beziehungen, das Leben und alle Dinge.
Gott ist ein österliches Licht, das es uns ermöglicht, Leben zu entdecken, selbst wo unsere Augen nur Tod sehen. Gott lädt uns ein, die Zukunft der Stadt jenseits von engen Kriterien wie das Besitzen von Räumen, Grenzen und Eigentum zu überdenken. Wir müssen über diese klaustrophobische Perspektive hinausgehen. Licht wird nicht besessen, es wird willkommen geheißen und verbreitet.
Eine Stadt der stets offenen Tore (Offb 21,25)
"Die Stadt hat eine große und hohe Mauer mit zwölf Toren und zwölf Engeln darauf. Auf die Tore sind Namen geschrieben: die Namen der zwölf Stämme der Israeliten. Die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine; auf ihnen stehen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes" (Offb 21,12-14).
Etwas überrascht uns durch seine Unstimmigkeit, als ob es sich um einen chronologischen Fehler handelte. Die Apostel werden als Fundament des Gebäudes dargestellt, als seine Basis, während die Tore – die in einer typischen Konstruktion später kommen – durch die zwölf Stämme Israels repräsentiert werden. Auf dem Weg der Erlösung gehen die Stämme Israels den zwölf Aposteln voraus, daher erschiene es logischer, wenn sie das Fundament und nicht die Tore bilden. Das ist einzigartig und neu an dieser Konstruktion: In Gottes Plan bleibt das, was älter ist, nicht unbedingt das Fundament. Gott erschafft die Geschichte neu und legt neue Fundamente, ermöglicht eine neue Realität. Doch nichts wird verworfen oder geht verloren; alles ist notwendig, und alles findet seinen Platz innerhalb des neuen Gebäudes. So wird Jerusalem zur Erfüllung sowohl für die zwölf Stämme als auch für die zwölf Apostel, und nur darin kann jeder seine Bedeutung und seine Mission finden.
Dies wirft eine wichtige Frage auf: die Interpretation der Geschichte. Heute hat jeder seine eigene Lesart der Geschichte, sein eigenes Narrativ der Ereignisse, oft geprägt von einer Perspektive, die den anderen als jemanden sieht, gegen den man sich verteidigen muss – manchmal zu Unrecht, manchmal zu Recht. Ein Umdenken bezüglich der Kategorien von Geschichte, Erinnerung und folglich Schuld, Gerechtigkeit und Vergebung ist notwendig. So wird die religiöse Sphäre direkt mit dem moralischen, sozialen und politischen Bereich verbunden. Ein Großteil der heutigen Gewalt stammt aus der Unfähigkeit, das eigene historische Narrativ aufzuarbeiten – oder, religiös gesprochen, zu erlösen. Wir sehen dies auch in der Verwendung unterschiedlicher Terminologien und Ortsbezeichnungen, die die Geschichte dieser Orte auf völlig unterschiedliche Weise wiedergeben. Wir werden nie weiterkommen, wenn wir unsere eigene Geschichte nicht neu interpretieren – ohne die Tatsachen der Vergangenheit zu leugnen, aber auch ohne sie die Entscheidungen von heute bestimmen zu lassen.
"Ihre Tore werden den ganzen Tag nicht geschlossen – Nacht wird es dort nicht mehr geben" (Offb 21,25). Die Mauern einer Stadt werden zur Verteidigung errichtet. Hier jedoch sind sie nicht erbaut, um irgendetwas zu verteidigen. Sie dienen zur Bestimmung, wer im Stil des neuen Jerusalem, im Licht des Lammes, leben möchte und wer nicht. Es gibt nichts zu verteidigen, nur eine Lebensweise vorzuschlagen. Denn mein Haus soll ein Haus des Gebets für alle Völker genannt werden (Jes 56,7).
Die Tore sind in alle vier Richtungen offen, so dass jeder zu jeder Zeit eintreten und Teil dieser neuen Wirklichkeit werden kann, in der ein neues Leben für alle möglich ist, ohne jemanden auszuschließen. Jeder und jede kann Teil des heiligen Volkes Gottes sein. Dies ist ein weiteres klares Zeichen: Niemand kann ein Monopol beanspruchen. Frieden wird nicht aufgezwungen. Er wird nicht von jemandem auferlegt, sondern ist das Ergebnis eines gemeinsamen Projekts, an dem alle beteiligt sind.
Eine Stadt, die die Völker heilt (Offb 22,1-2)
"Die Völker werden in diesem Licht einhergehen, und die Könige der Erde werden ihre Pracht in die Stadt bringen. Und man wird die Pracht und die Kostbarkeiten der Völker in die Stadt bringen" (Offb 21,24.26).
Die Völker stellen nicht nur keine Bedrohung dar, sondern werden im Gegenteil als Quelle des Reichtums angesehen. Dies ist eine weitere große Neuerung. Die Anwesenheit der Völker macht die Schönheit Jerusalems aus. Die Richtlinien für Schönheit, Heiligkeit und Reinheit sind völlig umgekehrt: Nicht das Unberührte, Vereinzelte oder Isolierte ist schön, sondern das, was offen ist für andere, wird zum Symbol der Schönheit. Jerusalem wird bereichert durch das, was es aufnimmt.
Wie wir am Anfang gesehen haben, hat Jerusalem sich ebenso sehr selbst aufgebaut, wie es von Gott empfängt; nun ist die Vision vollständig, und wir stellen fest: Jerusalem wird in dem Maße reicher, wie es von anderen empfängt. Beides geht Hand in Hand.
Offenbar erfüllt sich die Prophezeiung des Jesaja: Zum Berg mit dem Haus des Herrn strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: „Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen“ (Jes 2,2-3).
Das Heilige Land ist kein in sich geschlossener Mikrokosmos. Es ist untrennbar mit der ganzen Welt verbunden – und umgekehrt. Auch deshalb sind wir heute hier, um über das Heilige Land zu sprechen – wegen dieser historischen, kulturellen und religiösen Nähe zu dem, was im Heiligen Land geschieht, dem Land, das Zeugnis ablegt von der Geschichte der Offenbarung und als Paradigma für die Dynamik dient, die die ganze Welt erfasst. Das Herz der Welt schlägt in Jerusalem. Davon zeugen die Millionen von Pilgern, die aus aller Welt in die Heilige Stadt kommen. Pilger sind Teil der Identität der Stadt. Ohne sie ist die Stadt unvollständig, wie wir leider in diesen Tagen sehr deutlich sehen.
Die lokal Herrschenden müssen sich stets vor Augen halten, dass das, was in Jerusalem geschieht, das Leben von Milliarden von Gläubigen auf der ganzen Welt berührt. Es ist nicht nur die Privatangelegenheit derer, die das Glück haben, an diesen Orten zu leben, oder die Entscheidung einer der verschiedenen Gemeinschaften, die dort zusammenkommen. Die Welt hat die Pflicht und das Recht, sich dafür zu interessieren und einzugreifen. Jerusalem gehört allen, und niemand kann ein ausschließliches Monopol darauf beanspruchen.
Ein Fluss mit dem Wassers des Lebens
"Und der Engel zeigte mir einen Strom, das Wasser des Lebens, klar wie Kristall; er geht vom Thron Gottes und des Lammes aus. Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, stehen Bäume des Lebens. Zwölfmal tragen sie Früchte, jeden Monat einmal; und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker" (Offb 22,1-2).
Die Berufung Jerusalems beschränkt sich zudem nicht auf seine eigenen Mauern; sie erschöpft sich nicht in sich selbst. Es wäre zu wenig, wenn Jerusalem „nur“ all das wäre, was wir bisher gesagt haben. Aus seinem Herzen, wo das Lamm herrscht, sprudelt eine Quelle von lebendigem Wasser hervor und ermöglicht das Wachstum eines Baumes des Lebens – nicht nur für sich selbst, sondern für die ganze Welt.
Jerusalem ist eine Stadt, die hinausgeht, eine Stadt, die berufen ist, Frucht zu tragen für die Menschheit. Die Stadt hat eine einzigartige Mission: die Völker zu heilen. Heilung wovon? Der Text sagt nichts Genaueres. Er sagt allerdings: Das Heilende ist seine Lebendigkeit, seine Teilhabe am Leben Gottes.
Das Heilige Land wird Heilung brauchen. Es wird lange Wege der Heilung für die vielen und sehr schmerzhaften Wunden brauchen, die dieser Konflikt im Leben aller Gemeinschaften hinterlassen hat. Heilung von Wunden, von Hass, von vergifteten Erinnerungen – das ist seine höchste und erhabene Aufgabe.
Vom Symbol zur Geschichte
Natürlich fehlen in meiner Darstellung viele andere biblische Abschnitte. Vor allem fehlen Abschnitte über die Bestrafung derer, die diese Vision ablehnen und sich dafür entscheiden, außerhalb zu bleiben. Ich wollte mich jedoch besonders auf das konzentrieren, was ich für ein kraftvolles Bild halte – eine Inspiration für die christliche Gemeinschaft Jerusalems und für das, was ihre Berufung in diesem historischen Moment sein muss.
Wir brauchen in der Tat einen idealen Bezugspunkt, zu dem wir zurückkehren und aus dem wir Inspiration für unser Nachdenken schöpfen können. Jede der von mir zitierten Abschnitte kann auch unmittelbare politische Implikationen haben. Die religiöse Identität Jerusalems erinnert uns jedoch daran: Wir sollten nicht meinen, die Probleme des Heiligen Landes könnten allein in einem politischen Kontext gelöst werden. Die Misserfolge der Vergangenheit haben deutlich gezeigt, wie notwendig es ist, die verschiedenen religiösen Sensibilitäten zu berücksichtigen.
Zelt und Braut sind schöne Bilder, die von Intimität und Gemeinschaft sprechen. Die verschiedenen Gemeinschaften Jerusalems – Juden, Muslime und Christen – bilden zusammen die Identität der Stadt. Die Vertrautheit mit Gott geht Hand in Hand mit der Harmonie unter den Gemeinschaften. Barrieren und Spaltungen zwischen den Gemeinschaften verleugnen die intime Vertrautheit jedes Einzelnen mit Gott. Es ist daher die Pflicht der politischen und religiösen Führungsgestalten, immer engere Beziehungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften zu fördern, die einander leider nicht gut kennen.
Wenn religiöse Institutionen ihre religiöse Dimension nicht bewahren, sperren sie sich und werden starr; anstatt zum Wachstum im Glauben zu verhelfen, werden sie zum Hindernis für eine echte Erkenntnis Gottes.
Die Gegenwart des Lammes, das die Quelle des Lichts ist, hebt auch eines der schmerzhaftesten Elemente dieses Konflikts und früherer Konflikte hervor: Grenzen, Land, Eigentum, die Heiligen Stätten. Der biblische Text kennt diesen Aspekt jedoch nicht. Es müssen daher neue Abwägungen gefunden werden, in denen Eigentum, Heilige Stätten und Grenzen nicht als absolut oder unantastbar betrachtet werden. Die Geschichte und der gegenwärtige Konflikt haben das Scheitern dieses Ansatzes schmerzlich gezeigt. Wir müssen uns daher um Lösungen bemühen, die Rücksicht nehmen auf die Realität des Territoriums und die lebenswichtigen Bedürfnisse jeder Gemeinschaft, jedoch auf andere Weise als in der Vergangenheit.
All dies wird uns nicht gelingen ohne eine ernsthafte Relecture der Geschichte und ein Umdenken in Bezug auf die Kategorien der Erinnerung, folglich nicht ohne Wege der Heilung und Vergebung. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten Lösungen allein finden. Jerusalem gehört allen, denn alle sind in der Stadt geboren (Ps 87,4). In diesem Zusammenhang ist die internationale Gemeinschaft aufgerufen, ihren Teil beizutragen, mehr als sie es bisher vermochte.
Wir müssen uns nun als Gemeinschaft neu entdecken, um die Beziehungen mit Juden und Muslimen wieder aufzunehmen. Wir werden auch eine neue Führungsschicht brauchen, vor allem aber brauchen wir eine neue Sprache, neue Perspektiven, etwas anderes, auf dem wir die Beziehungen der Zukunft aufbauen können. Wir werden nicht alles tun können, und doch werden wir einen idealen Bezugspunkt brauchen, zu dem wir zurückkehren können und mit dem wir nach und nach, Schritt für Schritt, sicherlich über einen langen Zeitraum hinweg, unsere Beziehungen neu gestalten können.
Gott schuf die Welt mit dem Wort. Wir schaffen die unsere mit unseren Worten. Das wird die Sendung der Kirche von Jerusalem sein: von diesem kraftvollen Bild aus neu zu beginnen. Die christliche Gemeinschaft von Jerusalem, klein und doch widerstandsfähig, ist aufgerufen, hier und jetzt, in der dramatischen Realität des Konflikts, den Stil des himmlischen Jerusalem zu leben.
Es gilt eine Brücke zu sein, keine Barriere. Ein österliches Licht zu sein, das die Dunkelheit des Grolls erhellt. Ein Haus mit offenen Türen zu sein, in dem der andere als Geschenk willkommen geheißen und nicht als Bedrohung gefürchtet wird. Ein Instrument der Heilung zu sein, das niemals müde wird, Wunden zu heilen.
Jerusalem, die irdische Stadt mit ihren Wunden, ist dazu berufen, immer mehr zu einem Zeichen, zu einem Sakrament jenes Jerusalem zu werden, das von Gott herabkommt, reich an Frieden, offen für alle, und dessen einziger Zweck es ist, die Welt zu heilen.
Der Text wurde von Barbara Hallensleben übersetzt.