Ein bundesweiter Kreis von Fachleuten
für das „Neue Geistliche Lied“
(NGL) aus nahezu allen Diözesen
Deutschlands hat im Jahr 2018 ein Impulspapier
veröffentlicht, über das in dieser
Zeitschrift bereits berichtet wurde (www.NGL-heute.de). Es ist in
einem mehrjährigen Reflexionsprozess aus
den Praxiserfahrungen mit NGL sowie aus
grundsätzlichen Überlegungen entstanden.
Davon ausgehend will der folgende Beitrag
das NGL liturgietheologisch würdigen, um
es zusammen mit seiner pastoralen Relevanz,
die unbestritten ist, auf zwei sichere
Füße zu stellen und es so als relevanten Beitrag
für die Zukunft von Kirche und Gottesdienst
auszuweisen.
Mehr als altbekannte Lieder
Im genannten Impulspapier wird der Terminus
NGL sehr weit verstanden, nämlich
als Oberbegriff von nicht nur altbekannten
Liedern, die evtl. schon im „Gotteslob“ stehen,
sowie aktuellem NGL, sondern auch
von Christlicher Popmusik, Lobpreis/Praise
& Worship, Gospel, Rap, elektronischer Musik
und weiteren Spielarten popularmusikalischer
Prägung. Diese Dehnung des Begriffs
liegt in der Tatsache begründet, dass sich in
den letzten 50 Jahren nach dem Aufkommen
des NGL kein Bruch ereignet hat, sondern
eine fortlaufende Weitung der Stilvielfalt.
Die Päpste seit Johannes Paul II. hatten
und haben nicht nur keine Berührungsängste,
sondern nutzen NGL und Popmusik pastoral
und liturgisch aktiv. Der Vatikan sieht
in Pop und Rock eine Inspirationsquelle für
geistliche Musik. Kardinal Gianfranco Ravasi,
der Präsident des Päpstlichen Kulturrates,
lässt sich zitieren mit den Worten: „Natürlich
hat liturgische Musik eine besondere
Form. Aber sie kann auch von Pop und anderer
Musik stimuliert werden.“ Papst Franziskus
selber sprach sich am Rande eines
Kongresses zu den Beziehungen zwischen
Kirchenmusik und Gegenwartskultur für
moderne Sakralmusik aus: Es geht darum,
„dass die geistliche Musik und die Kirchenmusik
vollständig inkulturiert werden in
der künstlerischen und musikalischen Sprache
der Gegenwart“.
Nicht nur im aktuellen Pontifikat kann
eine solche Wertschätzung von moderner,
populärer Musik wahrgenommen werden.
Johannes Paul II. hat bereits 1997 in Bologna
zusammen mit dem US-amerikanischen
Musiker Bob Dylan auf der Bühne gestanden,
eine Katechese zu dessen Hit „Blowin’
in the Wind“ gehalten und bekräftigt, dass populäre Musik ein Mittel der Verkündigung
sei. Papst Benedikt XVI. war sowohl
die Vielfalt der Kirchenmusik ein wichtiges
Anliegen als auch die Konzilsforderung
nach adäquater Musik für den Gebrauch
in den Gemeinden vor Ort.
Das NGL bietet solch singbares Liedgut
für die Gemeindeliturgie. Es nimmt die
musikalischen Anregungen der Pop- und
Rockmusik auf und transformiert sie in
liturgische Gesänge. In der Fülle der neuen
Lieder gibt es einen großen Schatz an
schlichten, aber kunstvollen NGL, die allen
kirchlichen Ansprüchen genügen. Um ihn
zu heben, braucht es sachkundige Kirchenmusikerinnen
und Kirchenmusiker, Liturginnen
und Liturgen mit einem geschulten
Blick für niveauvolle Kompositionen mit
geeigneten Texten.
NGL als Musik der Völker
Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen
Konzils öffnete die Kirchenmusik
und würdigte insbesondere die Lieder der
Völker in all ihrer Vielfalt (SC 37 und 119).
Die Musik in den Missionsgebieten, die die
Konzilsväter im Blick hatten, ist jene Musik,
auf der Pop und Rock aufbauen. Ihr sollen gebührende
Wertschätzung entgegengebracht
und angemessener Raum bei der Anpassung
der Liturgie gewährt werden (SC 119).
Das NGL ist die vom Konzil geforderte
Inkulturation des Kirchenliedes in die musikalische
Realität zeitgenössischer Lebenswelten
in den deutschsprachigen Ländern.
Die popularmusikalische Adaption im NGL
greift die Musikidiome der Völkerwelt auf.
Besonders seine rhythmische Struktur verdankt
sich der Öffnung gegenüber afroamerikanischen
Musikstilen. Musiktheoretisch
gesprochen orientiert es sich nicht primär
am Takt, sondern am Elementarpuls als bestimmender
Größe.
Der Reichtum der europäischen Musiküberlieferung
darf darüber natürlich nicht
verloren gehen. Vielfalt und Güte der Kirchenmusik
schließen sich keineswegs aus.
Die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker
haben die Aufgabe, für niveauvollen
Gesang entsprechend den unterschiedlichen
Bedürfnisse vor Ort zu sorgen (SC 121).
Wortgebundenheit des NGL
Der Gregorianische Choral, der laut Konzil
eine Vorrangstellung haben soll (SC 116),
verkörpert das Prinzip der strengen Wortgebundenheit,
die sich alle Kirchenmusik
zum Maßstab nimmt. Die Beachtung eines
gelungenen Wort-Ton-Verhältnisses ist ein
Gütekriterium bei allem liturgischen Gesang.
Neue Geistliche Lieder im Kontext von
Liturgie bringen dabei keine schlechte Voraussetzung
mit, da sie durch ihre Orientierung
an der Popularmusik ebenfalls engen
Kontakt zu den Affekten der aktuellen
Sprache haben. Ihre dem Sprechduktus
nachempfundenen Melodien, die je nach
Stilistik bis hin zum rhythmisch-musikalischen
Rezitieren reichen (so im Hip-Hop
oder Rap), transformieren auf ihre Weise
die Wortgebundenheit traditioneller Kirchenmusik
in die heutige Zeit.
Tätige Teilnahme mit NGL
Die Erneuerung der Liturgie, wie das Konzil
sie angestoßen hat, fordert die volle, tätige
und gemeinschaftliche Teilnahme der Gemeinde
(SC 21). Besonders die Kirchenmusik
und hier gerade die neuen Vertonungen
sollen die participatio actuosa der ganzen
Gemeinde fördern (SC 121).
Diese Vorstellung der aktiven Beteiligung
aller in Gesang und musikalischer Aktion ist
Grundanliegen des NGL. Es ist erwachsen
aus dem Antrieb, mit der Erneuerung der
musikalischen Sprache das ganze christliche
Volk stilistisch zu erreichen und zum Singen
und Spielen zu animieren. Die fortwährende
Gründung von NGL-Bands und -Chören belegt
dieses Bestreben zur tätigen Teilnahme
mit Neuen Geistlichen Liedern.
Das NGL greift auch die Anforderung der
Liturgiekonstitution auf, dass jeder all das,
aber auch nur das tun möge, was ihm aus der
Natur der Sache zukommt (SC 28), um einen Aktionismus in der Liturgie zu vermeiden.
Die verbreitete Praxis der Rollendifferenzierung
beim Musizieren von NGL trägt diesem
Anliegen Rechnung, die musikalischen Aufgaben
auf Gemeinde, Vorsänger, Chor und
Instrumentalisten aufzuteilen. Auch das
Hören des gesungenen Wortes (z. B. beim
Solovortrag von Liedstrophen) und das
Einschwingen in das Gehörte sind legitime
Formen einer erfüllten Teilhabe. Differenzierungen
entsprechend der liturgischen
Situation lässt auch das NGL-Repertoire zu.
Wenn dem NGL vorgeworfen wird, es sei
mitunter zu kompliziert zum Mitsingen, dann
lohnt sich ein differenzierteres Hinschauen.
Häufig besteht die Schwierigkeit, die Rhythmen
gleich mitzuvollziehen, besonders in
den Gemeinden, die schleppendes Singen
gewohnt sind, wofür es viele Ursachen geben
kann: überakustische Kirchen, Mängel am
Instrument etc. Ein akzentuiert rhythmisches
Orgelspiel könnte hier für Abhilfe sorgen. Zudem
lässt sich durch die Omnipräsenz von
Popmusik in unserer Gesellschaft inzwischen
ein Kulturwandel erkennen, der die rhythmischen
Fähigkeiten auch der Gottesdienstteilnehmer/
innen anhebt. Den rhythmischen
Puls zu vermitteln, ist gemeinsame Aufgabe
und Herausforderung an die Professionalität
sowohl der klassischen Kirchenmusik als
auch des NGL.
Liturgiehistorische Würdigung
des NGL
Historisch betrachtet steht das NGL unter
dem großen Bogen der Kontinuität in der katholischen
Liturgiegeschichte. Liedaufbrüche
wie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
waren mit ähnlichen musikalischen Mitteln
(Einzelsätze mit Tropierungen) schon für
das ganze Mittelalter charakteristisch. Wie
damals das Trienter Konzil als Wegweiser für
Würde und Verständlichkeit der Kirchenmusik
so hat auch das Zweite Vatikanische Konzil
das Liedschaffen gefördert: Die Gemeinde
wurde wieder zur entscheidenden Trägerin
der liturgischen Gesänge, die für den Ritus
nicht mehr nur begleitend waren, sondern
konstitutiv. Das NGL bietet einen reichen
und stetig wachsenden Fundus an Liedern,
die die liturgischen Ideale des Zweiten Vatikanischen
Konzils verkörpern.
Communio-Ekklesiologie und NGL
Band-Musik mit Neuen Geistlichen Liedern
ist in prophetischer Weise eine Realisation
von Kirche als Volk Gottes, dem zentralen
ekklesiologischen Akzent des Zweiten Vatikanischen
Konzils. Jeder Mitwirkende
aus den Reihen der Getauften hat mit seinem
Instrument, seiner Stimme eine eigene
Funktion in der Band, ein besonderes
Talent, das er einbringt. Diese einzelnen
Musikerinnen und Musiker kooperieren
miteinander – rhythmisch, harmonisch,
menschlich –, damit die Lieder gut zusammenklingen.
Das Arrangement ist dabei
von zentraler Bedeutung. Die musikalische
Kooperation basiert auf dem gemeinsamen
Groove, an dem alle mitwirken. Er ist der
Elementarpuls, die Microtime (innerer
Rhythmus), die den Song zusammenhält
und die Musik erst spannend macht.
Wenn wir Liturgie feiern, können wir
uns an den Musikerinnen und Musikern
der Band ein Beispiel nehmen, die den Ablauf,
die Form, natürlich beherrschen, bei
denen sich das Entscheidende aber in den
Zwischentönen abspielt, im Hinhören aufeinander,
im Mitmenschlichen sozusagen.
Hier wirkt der Geist, der uns als Gemeinde
Communio-Kirche sein lässt und in die Gemeinschaft
mit Gott führt.
Das NGL ist ein begeisternder, pastoral
bedeutsamer und liturgisch wertvoller Teil
der Kirchenmusik. Papst Franziskus sieht
für die Evangelisierung ein großes Potential
in einem solch unkonventionellen
„Weg der Schönheit“, der aktuell für viele
Menschen besonders attraktiv geworden
ist (vgl. Evangelii gaudium, Art. 167). Es ist
wünschenswert, dass sich flächendeckend
der Mut durchsetzt, Kirchenbands und ihr
Liedgut – das NGL im weiten Sinne – für
die Zukunft von Kirche und Gottesdienst
stärker zu fördern.