"Da wartet die Welt auf mich!"Kinder zwischen 6 und 12 Jahren

Im Alter von sechs bis zwölf Jahren öffnen sich neue Türen zur Welt. Kinder entdecken, wie bunt sie ist, und suchen ihren eigenen Platz. Es sind verheißungsvolle, aufregende Jahre, an die sich manch einer sein Leben lang erinnern wird. Wie wird man Mädchen und Jungen in diesem Alter gerecht? Ein Gespräch mit den Verhaltensbiologen Dr. Gabriele Haug-Schnabel und Dr. Joachim Bensel.

Wie war Ihre Welt als Kind?
Dr. Gabriele Haug-Schnabel: Wir lebten in einer traumhaften Umgebung voller Gärten, unbebauter Grundstücke und Obstwiesen. Es gab auch noch Ruinen vom Krieg. Ich konnte darin herumklettern und unendlich viel spielen: Im Juni haben wir Berge von Kirschen geerntet und im Spankorb für wenige Groschen verkauft. Im Herbst stieg ich mit meinen Freundinnen im Keller auf Apfelkisten und beobachtete durch die Kellerfenster mit dem Fernglas die Nachbarhäuser. Oft sind wir auch hinter der Garage verschwunden, den Zaun und die ungeschnittene Hecke des Nachbarn direkt vor der Nase – da waren wir völlig ungestört.

Dr. Joachim Bensel: Ich hatte das Gefühl schier endloser Zeit. Wir lebten in einem Vorort von Darmstadt nahe am Wald. Einer meiner Freunde war der Sohn eines Gärtners, der hatte ein riesiges Gelände mit Teichen und hohen Bäumen, auf dem wir „Raumschiff Enterprise“ spielten oder kickten. Einmal ging beim Fußball die Scheibe eines Gewächshauses zu Bruch, das war meine erste Begegnung mit sozialer Scham, ich konnte den Vorfall erst zu Hause meinen Eltern gestehen. Ein anderer Freund nahm mich mit in Felder und Wiesen: Er hatte Pfeil und Bogen gebaut, und wir übten damit auf Ziele zu schießen. Das hatte etwas Geheimnisvolles und Verbotenes.

Haben Ihnen diese Jahre etwas gegeben, das Ihr Leben bis heute prägt?
Haug-Schnabel: Viel von meinem Glauben, dass das, was man will, auch möglich ist, stammt aus dieser Kinderzeit. Ich durfte sehen, wie bunt die Welt ist. Diese Neugier auf Menschen und Kulturen bestimmt mein Leben bis heute.

Bensel: Ich schöpfe bis heute Kraft in der Natur. Durch meine Freude am phantasievollen Ausspinnen fiktiver Szenarien habe ich möglicherweise auch die Fähigkeit gewonnen, Arbeit und Tagesgeschäft recht rasch loszulassen und zeitliche Freiräume zu genießen.

Viele Erwachsene erinnern sich recht gut an die Jahre zwischen sechs und zwölf – und berichten davon mit leuchtenden Augen!
Haug-Schnabel: Es ist ein besonders erlebnisreiches Alter, in dem man sich für nahezu alles interessiert und man viel über sich erfahren möchte. Es sind die Jahre, in denen Kinder den Geist und die zunehmende Erfahrung haben, um zu merken: Da wartet die Welt auf mich!

An welchem Punkt steht ein Kind in seiner Entwicklung, wenn es in die Schule kommt?
Haug-Schnabel: Es braucht jetzt mehr als die Familie, vor allem andere Kinder und andere Milieus. Die Häuser in Bullerbü sind gerade mal vierzig Meter voneinander entfernt, aber in jedem Haus herrscht ein anderes Klima. Wie man miteinander umgeht, welche Gebote und Verbote es gibt – wie unterschiedlich Leben sein kann, das muss man in diesem Alter erfahren. Auf der ganzen Welt kommen Kinder etwa mit sechs Jahren in die Schule. Das ist kein Zufall. Ein französischer Kollege von mir sagte einmal: Der Schulanfang ist so etwas Ähnliches wie Advent. Eine Zeit voller Erwartungen. Und es ist die Zeit einer ersten Bilanz.

Bensel: Kindergartenkinder haben den Eindruck, sie können alles, sie überschätzen sich leicht. Mit etwa sechs Jahren kommt es zu einer zunehmend realistischeren Einschätzung – auch, was ihre Stärken betrifft. Sie sollten in diesem Alter unbedingt ihren Interessen folgen können: Wer die Sterne faszinierend findet, soll auch die Gelegenheit bekommen, die Sterne zu beobachten. Es ist wichtig, dass Kinder merken: Hier bin ich gut! Und es ist wichtig, dass sie sich in Gruppen erfahren, und zwar nicht nur als Schüler in Klassen, sondern auch in der Nachbarschaft oder im Verein. So wird der Boden für Toleranz und Akzeptanz gelegt. Und so entscheidet sich auch, ob die Kinder sich später als Erwachsene auf neue Umgebungen, Menschen und Welten einlassen können.

Sich in der Gruppe erleben, seine Interessen verfolgen – das geht auch an der Ganztagsschule und im Schulhort. Inwiefern entsprechen diese Einrichtungen den Entwicklungsbedürfnissen von Kindern?
Haug-Schnabel: Wenn ein Kind den ganzen Tag in einer vorgegebenen Gruppe verbringen muss, wenn die Zeiteinteilung maximal vorgegeben ist und die Hausaufgaben das Dominierende sind, dann geht Ganztagsschule weit an den Bedürfnissen von Jungen und Mädchen in diesem Alter vorbei. Dann können sie die Welt nicht entdecken.

Bensel: Solange der Nachmittag den Vormittag fortführt, mit demselben didaktischen Repertoire, ist das letztlich angeleitetes Lernen. Dann untergraben wir die Individualität, die wir später wollen. Anders ist es, wenn das Ganztagsangebot eher Hortcharakter hat und Freiräume integriert: Dann kann auch die Ganztagsschule ein sinnvolles Angebot sein.

Haug-Schnabel: Leider ist der Ganztag heute vielerorts die Fortsetzung der Vormittagsschule. Wie soll ein junger Mensch, der den ganzen Tag vorstrukturiert bekommt, später in der Lage sein, seine Zeit selbst einzuteilen, und zwar so, dass er etwas mit dieser Zeit anfangen kann? Ganztagsschulen und Horte müssen sich hier öffnen. Die vollkommene Außenstrukturierung und Verplanung macht die Kinder unmündig: Wenn sie beispielsweise nach dem Mittagessen erst die Hausaufgaben machen müssen, obwohl sie gerade am Tisch einen Kontakt zu einem anderen Kind geknüpft haben, mit dem sie jetzt etwas Bestimmtes machen könnten, nimmt man ihnen nicht nur Freiraum, sondern auch die Möglichkeit, das Selbstentscheiden lernen zu können.

Wie werden eine Ganztagsschule oder ein Hort den Kindern stärker gerecht?
Bensel: Man sollte sie den Nachmittag auch selbst gestalten lassen und sie nicht ständig unter Erwachsenenaufsicht stellen. Wir haben heute zwar nicht mehr die Freiheit von Bullerbü, können aber Zonen der verringerten oder sporadischen Aufsicht bieten. Grundschulkinder müssen auch mal ihr eigenes Ding machen!

Haug-Schnabel: Kinder brauchen Räume, in denen sie länger eine Idee verfolgen können, und zwar ihre Idee. Das berühmte „den Raum wieder auf Null drehen“, wenn die Kinder gehen, ist der Untergang jeder längerfristigen Idee! Und allein schon die schulische Bestuhlung und Betischung erschwert das Erleben und Gestalten. Ein guter Ansatz sind Bildungsinseln – wie sie etwa das „infans“-Konzept bietet, die kann man auch der Nachmittagssituation anpassen.

Sind „Angebote“ also gar nicht so sinnvoll?
Haug-Schnabel: Gegen eine anregungsreiche Umgebung – ein visuelles Büfett zum Selbstaussuchen – ist nichts einzuwenden. Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Angebotssituation und einer Beantwortungssituation. Eine Beantwortungssituation setzt voraus, dass ich als erwachsener Begleiter mit den Kindern rede und beobachte, wo sie stehen, welche Themen und Interessen sie haben – ob in der Schule oder im Hort. Dann frage ich etwa: Was haltet ihr davon, zu schauen, wo wir das Material herbekommen, um eure Idee durchzuführen? Der Erwachsene muss sich dann allerdings auf ein Thema einlassen, mit dem er noch nicht gearbeitet hat, auf einen Ort einlassen, an dem er noch nicht gearbeitet hat, und trotzdem seine positive Professionalität behalten, auch wenn er nichts vorbereitet hat und das Neue nicht sofort funktioniert.

Bensel: Es gab eine Einrichtung, in der die Kinder eine Geisterbahn aufgebaut haben. Die Erzieherinnen haben nur das ein oder andere Material gebracht. Die Jungen und Mädchen haben die gesamte Konstruktion und audiovisuelle Untermalung überlegt und realisiert. Sie waren Feuer und Flamme, weil die Idee von ihnen ausging. Das ist etwas anderes, als wenn die Erzieherin sagt: „Wir haben jetzt das Projekt ‚Geisterbahn’.“

Ein Thema, das Schulhorte und Ganztagsbetreuungen stark beschäftigt, sind die Hausaufgaben.
Haug-Schnabel: Die Hausaufgaben stellen für alle Beteiligten ein riesiges Problem dar. Horterzieher sind mindestens so ungeeignet wie Eltern, die Hausaufgaben zu begleiten. Wieso muss Schulstoff im Hort, der Nachmittagsbetreuung oder zu Hause überprüft werden? Dass es in der Schule Lernzeiten geben darf, in denen Unterrichtsstoff aufgefrischt wird, ist vollkommen in Ordnung. Aber doch nicht in einem Umfeld mit in keiner Weise dafür ausgebildetem Personal! Zudem bringen Hausaufgaben große soziale Ungerechtigkeit mit sich – für viele Eltern mit Migrationshintergrund etwa sind sie eine immens große Hürde. Ich würde Hausaufgaben grundsätzlich abschaffen und Lernvielfalt in den Ganztag bringen!

Ein weiteres heißes Eisen in der Schulkindbetreuung ist die Inklusion. Was muss getan werden, um ein wirklich inklusives System umzusetzen? Und wo sind ihre Grenzen?
Haug-Schnabel: Jede Form von Inklusion ist machbar, aber es braucht die richtigen räumlichen und personellen Voraussetzungen. Ich verbringe jedes Jahr mehrere Wochen in Südtirol, wo italienische Inklusionsgedanken wirken. Dort gibt es auch liegende Kinder mit Sauerstoffversorgung im Klassenzimmer. Hierzulande passen die Rahmenbedingungen allerdings noch gar nicht und es fehlen angepasste, individuell erweiterte Konzepte. Der politische Beschluss allein ist zu wenig.

Hunderte Schulen gehen derzeit ihren ganz eigenen Weg, sei es als gebundene oder offene Ganztagsschule. Wie steht es um die Qualitätsdiskussion?
Bensel: Wir brauchen eine viel stärkere Qualitätsdiskussion für den Ganztagsschul- und Hortbereich. Was macht die Qualität von Bildungs- und Entwicklungsbegleitung in diesem Alter tatsächlich aus? Wie können wir diese erreichen und sichern? Thüringen erweitert seinen Bildungsplan auf das Alter bis 18 Jahre. Diesem Beispiel sollten die anderen Bundesländer folgen. Wir brauchen unter anderem qualifizierte Fachberater, eine veränderte Grundschullehrerausbildung und eine bessere Vernetzung von Lehrern beziehungsweise der Schule und den verschiedenen Betreuungsangeboten außerhalb der Unterrichtszeiten. Eine Vernetzung auf Augenhöhe.

Haug-Schnabel: Es gibt Schulen, die diese qualitätsorientierten Modelle seit vielen Jahren proklamieren. Denken Sie an Reinhard Kahl und sein „Archiv der Zukunft“. Ich sehe die Entwicklung hoffnungsvoll. Hier ist viel Spielraum, um den Markt gut zu bedienen.

Welche Kompetenzen brauchen die Betreuer und Begleiter der Kinder im Ganztag?
Bensel: Das ganze Wissen, das man im elementarpädagogischen Bereich gesammelt hat, muss auch in die Ganztagsschule eindringen: Wissen über Selbstbildungsprozesse, Entfaltung von Lebenskompetenzen, aber auch Kenntnisse darüber, was Kinder stark macht und wie man einen kreativen Boden zum vielfältigen Denken bereitet. Da können durchaus auch Hortpädagogen konzeptionelle und gedankliche Anschübe geben.

Haug-Schnabel: Wir müssen bedenken, dass die Jahre bis zur Pubertät die wichtigen salutogenen Jahre sind: Sie entscheiden darüber, wie stark sich ein Kind später fühlt und wie gut es auch mit komplizierten Lebenslagen zurechtkommt. Damit das glückt, muss man einem Kind immer mehr an Aktivitäten zutrauen. Wenn die Ganztagsschule gut gemacht ist, dann kann sie hier viel ausrichten. Auch später, in der frühen Pubertät, einer stark persönlichkeitsprägenden Zeit, ist sie gefragt: In dieser Zeit sollte kein Kind den Eindruck bekommen, es sei ein „absoluter Loser“ oder jemand, der keinen Platz in einer Gruppe finden kann.

Würden Sie sagen, Grundschulpädagogik braucht eine Erweiterung – also sozusagen: mehr Hortpädagogik für die Schule?
Bensel: Schulhorte haben sicher traditionell eher das pädagogische Repertoire, um den Themen und Interessen der Kinder zu folgen. Wir müssen uns klarmachen: In den Grundschuljahren geht es vor allem um die Entwicklung sozialemotionaler Kompetenzen. Wenn sich diese Zeit nur um kognitive Inhalte, Wissen und Leistung dreht, kann später eine große Lücke im Leben dieser Schüler klaffen: Dann kommt man am Ende möglicherweise zu dem Punkt, warum jetzt so viele Wirtschaftsvertreter bedauern, dass diese zwanzigjährigen Bachelor-Absolventen, die in den Beruf einsteigen, sozial unerfahren, wenn nicht gar inkompetent sind.
Haug-Schnabel: Diese jungen Menschen haben nicht genug Lebenswelten kennengelernt. Sie haben nur diese einschränkenden Kindergarten-, Schul- und Ausbildungsjahre hinter sich gebracht und nicht herausfinden können: Wer bin ich eigentlich? Was schlummert in mir? Und wie kann ich die Welt verändern?

Interview: Kirsten Wörnle

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