Der Raum als PädagogeRaumgestaltung

Ganztagsschulen brauchen kluge Flächennutzung. Bei der Schulgestaltung können die Kinder viel mitbestimmen.

Der Raum als Pädagoge
© Sven Kästner, Berlin

Einhundert Jahre alt sind die dreistöckigen Gemäuer, sie umsäumen ein ganzes Straßenkarree im Berliner Stadtteil Wedding. Vorderhaus, Quergebäude, Garten- und Hinterhaus – die mächtige Architektur strahlt noch das autoritäre Klima der Kaiserzeit aus. Drinnen aber haben Lehrerinnen und Erzieher alte Pädagogikmauern längst niedergerissen. Sie haben jahrgangsübergreifenden Unterricht, Ganztagsbetreuung oder flexible Pausenzeiten für jede Klasse eingeführt. Die ehrwürdigen Gemäuer haben sie Schritt für Schritt ihrem modernen Schulkonzept angepasst.
Die Veränderungen begannen Anfang der 2000er-Jahre. Damals kamen nur 36 der damals gut 500 Schülerinnen und Schüler in die Betreuung. Doch ein mit dem Unterricht verzahntes Ganztagskonzept, das die Erzieherinnen und Erzieher mit den Lehrerkollegen zusammen entwickelt hatten, gewann schnell an Anziehungskraft: Betreuungsangebote schon in der 40-minütigen großen Pause am Vormittag, die Möglichkeit eines warmen Mittagessens und vielfältige Spielmöglichkeiten nach dem Unterricht lockten schnell neue Kinder. Heute besuchen 500 der mittlerweile 630 Schülerinnen und Schüler den Hort. „Wir hatten anfangs keine Räume“, erinnert sich Mike Menke, Ganztagskoordinator und in der Schule für etwa 50 Erzieherinnen und Erzieher des Trägers Deutscher Kinderschutzbund Berlin verantwortlich. „Es gab im ganzen Haus nur Klassenzimmer.“
Das änderte sich erst, als Lehrer und Erzieher gemeinsam die unter Denkmalschutz stehenden Gebäude zur integrierten Ganztagsschule umbauen ließen. Menke: „Die Idee war, sämtliche Winkel und Plätze der Schule zu nutzen, auch kleine Höfe, um Lerninseln zu schaffen. Damit nicht alles am Tag nur im Klassenraum stattfindet.“ Die Erzieherinnen und Erzieher haben seither für ihre Angebote eigene Räume, sind aber auch im Klassenzimmer dabei. Umgekehrt werden einige der Hortzimmer auch für den Unterricht genutzt. Für die Schüler entsteht so ein wirklicher Ganztag – statt eines halben Tages reinen Unterrichts und eines halben Tages nur Betreuung.

REINE NACHMITTAGSGEBÄUDE SIND KEINE LÖSUNG

Solche auch räumlich integrierten Ganztagsschulen sind in der föderalen deutschen Bildungslandschaft nicht selbstverständlich. In manchen Regionen entstehen noch immer reine Nachmittagsgebäude neu, kritisiert Karin Doberer, die mit ihrer Beratungsfirma „Lernlandschaft“ im fränkischen Röckingen Pädagogen und Architekten zusammenbringen will. „Solche Bauten stehen vormittags leer und sind nach Unterrichtsende überfüllt – während dann die Klassenzimmer verwaist sind.“ In der multifunktionalen Nutzung allein sieht Doberer allerdings auch keine Lösung. Ein guter Ganztagsraum definiere sich klar über seine Funktion. Zwar brauche nicht jedes Angebot einen eigenen Raum, betont die Beraterin. „Aber es gibt Räume, die würden besser funktionieren, wenn man eine ihrer oft vielfältigen Funktionen herausnimmt.“ Beispiel: Der Kreativbereich kann vom Kernlernbereich der Klasse getrennt werden. „Wenn ein Kind in Mathe oder Deutsch gerade eine große Niederlage erlebt hat, kann es nicht am selben Ort in der nächsten Stunde kreativ sein“, begründet Doberer.

LERNCLUSTER FÜR MEHRERE KLASSEN

Experten empfehlen für eine räumlich integrierte Ganztagsschule die Einrichtung sogenannter Lerncluster. Dabei teilen sich zum Beispiel zwei Klassen einen größeren Lernbereich. Direkt angrenzend hat jede Klasse zusätzlich ihren eigenen Raum, zu dem Kinder oft eine persönliche Beziehung wie zu einem Wohnzimmer aufbauen. Obwohl dort vormittags unterrichtet wird, muss er nachmittags nicht leer stehen. Dort können zum Beispiel die Hausaufgaben erledigt werden. „Aber nur von der Klasse, deren Raum das ist“, schränkt Doberer ein, „sonst geht der Charakter als Schutzraum, als ‚Wohnzimmer‘ für diese Klasse verloren.“
Schülerinnen und Schüler nehmen die Ganztagsschule als ihren Lebensort war – immerhin verbringen sie dort den Großteil ihrer Woche. Ulrich Deinet, Professor für Didaktik und methodisches Handeln an der Hochschule Düsseldorf, hat deshalb Kinder in sechs Grundschulen der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt nach deren Blick auf die eigene Schule befragt. Nur 55 Prozent der Mädchen und Jungen gaben an, sich gerne in ihrem Klassenraum aufzuhalten, 29 Prozent antworteten dagegen mit „geht so“. Und immerhin zehn Prozent verneinten sogar, sich dort wohlzufühlen. Deutlicher noch wird die mangelnde kindgerechte Ausstattung bei der Frage, ob die Kinder im Schulgebäude ausreichend Platz zum Spielen haben. 63 Prozent der Kinder beklagten, „drinnen“ sei es zu eng. „Wenn es regnet und es sind wenige Betreuer da“, zitiert Deinet eine Schülerin, „dann haben wir ja nur den Essensraum, damit wir da spielen können. Dann ist es da immer so laut, dann versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.“

WICHTIG: RÄUME ZUM ZURÜCKZIEHEN

Das zeigt den Platzmangel in vielen Schulhäusern – und auch, wie wichtig Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder sind. Das können ruhige Ecken im Gruppenraum sein oder auch ein ganzer Raum. „Die Möglichkeit des Rückzuges ist in jedem Alter ausgesprochen wichtig für Kinder“, sagt die Verhaltensbiologin Gabriele Haug-Schnabel. „Sie brauchen einen Ort, wo man zwar in der Gruppe ist, sich aber zurückziehen kann. Und wo man weiß: Der ist jetzt für mich reserviert.“ Viel Aufwand ist nicht nötig, um so etwas einzurichten: Schon ein quer gestelltes Regal kann eine Ecke abtrennen, hinter der ein Sitzsack oder ein Schaumstoffpolster eine gemütliche Sitzmöglichkeit bietet. Dazu sollte es ein paar Stifte mit Papier, eine Malwand oder einige immer wieder wechselnde Bücher geben, damit die Kinder inhaltlich andocken können. „Der Geist braucht zuerst Anregung, um sich in etwas hineinzuversetzen“, sagt Haug-Schnabel. „Ein das ganze Schuljahr gleich aussehender Raum lockt kein Kind und schon gar nicht seine Fantasie!“
In der Berliner Erika-Mann-Schule gibt es fürs Abschalten einen ganzen Raum. Der liegt in der dritten Etage, hört auf den poetischen Namen „Schnaub-Garten“ und ist mit kleinen drehbaren Sitzkabinen ausgestattet. Darin kann jeweils ein einzelnes Kind Platz nehmen und sich abgeschirmt wie in einem Vogelnest fühlen. Kleinere Rückzugsmöglichkeiten gibt es aber auch anderswo im Haus. Ganztags-Koordinator Menke begründet das nicht nur mit dem inklusiven Ansatz der Schule. „Kinder beispielsweise mit Asperger-Syndrom brauchen zu einer selbst bestimmten Zeit Ruhe in einem extra Raum. Aber auch andere Schüler üben mal mit der Lehrerin, dem Erzieher oder dem Schulhelfer außerhalb des Klassenzimmers. Weil vielleicht die Mitschüler gerade zu viel sind oder ein Kind in einem bestimmten Moment eine Krise hat und Ruhe braucht.“

FREIGELÄNDE NICHT KOMPLETT VERPLANEN

Während der nachmittäglichen Betreuungszeit fassen die Berliner Fachkräfte immer zwei Klassen zu einer Gruppe zusammen. 45 Kindern stehen im Hort zwei große Räume und ein kleines Spielzimmer zur Verfügung. In den großen Gruppenräumen gibt es Nischen zum Lesen oder Ausruhen. Zum Toben finden die Kinder genügend Möglichkeiten auf den zwei Höfen.
Mitunter werden die Freigelände bei der Neugestaltung einer Schule zu stark verplant. Kinder brauchen aber nicht nur Funktionsbereiche mit Aufforderungscharakter – also einen gut ausgerüsteten Spielplatz oder Fußballtore –, sondern auch ganz offene Flächen, in denen die Fantasie zum Tragen kommt. Ulrich Deinet hat die Düsseldorfer Schülerinnen und Schüler für seine Studie gebeten, ihre Lieblingsorte auf einer Schulkarte zu markieren: „Da erschienen auch Orte, denen man als Erwachsener gar keine Bedeutung beimisst – zum Beispiel ein Gebüsch am Rand des Hofes.“ Außerdem kam heraus, dass die Mädchen und Jungen bei der Ausstattung ihrer Schule gerne mitreden würden.

SCHÜLER BEIM UMBAU EINBEZIEHEN

Viele Fachleute haben dieses Bedürfnis erkannt. Der Pädagoge Otto Seydel und der Architekt Jochen Schneider haben Konzepte zur Mitbestimmung im Schulbau entwickelt und setzen sie seit Jahren bei ihren Projekten ein. „Der dritte Pädagoge ist der Raum“, lautet Seydels Credo. Beim Umbau der Erika- Mann-Schule zur Ganztagsschule hat schon vor zwölf Jahren das Schülerparlament mit den Architekten zusammengearbeitet. Gemeinsam haben sie die Geschichte vom Silberdrachen erarbeitet, der durch die Schule fliegt und den Kindern hilft. Überall finden sich seine Spuren – in den Fluren erinnert die Gestaltung der Garderobenschränke an Drachenschuppen, in der dritten Etage sieht man den Drachen durch das Dach hinausfliegen. „Die Entwürfe für den Umbau kamen alle ins Schülerparlament – und das hat oft ‚Nein‘ gesagt“, erinnert sich Erzieher Menke. Dann wurde nachgebessert, bis alle zufrieden waren.
Den Umbau hat 2005 das Berliner Architektenbüro „die Baupiloten“ geplant. Architektin Susanne Hofmann nutzte die Erfahrungen von damals und entwickelte einen spielerischen Workshop zur Mitbestimmung, den sie im Laufe der Jahre immer wieder angepasst hat. In Diskussionen, mit gemeinsam erstellten Papiercollagen und -mosaiken sollen sich Lehrer, Erzieher, Schüler und Eltern vor jedem Bau darüber klar werden, was für eine Schule sie eigentlich wollen. „Auf diese Weise können die in ihren unterschiedlichen Fachwelten gefangenen Pädagogen und Architekten, aber auch Kinder und Eltern eine gemeinsame Sprache entwickeln“, sagt Hofmann. Es wird zum Beispiel gefragt, wie sich Pädagogen und Schüler ihr neues Foyer vorstellen. „Wenn da der Begriff ‚lichtdurchfluteter Treffhafen‘ herauskommt oder ‚bunte Bastelhütte‘ als Beschreibung eines Werkraumes, dann kommen wir als Architekten viel näher an die Bedürfnisse der jeweiligen Schule heran“, beschreibt Hofmann den Ansatz.
Der Workshop steht ganz am Anfang der Planungen. Engagierte Schulbauexperten sehen diese sogenannte „Phase null“ als wichtigsten Schritt beim Um- oder Neubau. Wenn von Anfang an klar ist, in welche Richtung eine Schule gehen will, kann das in späteren Jahren aufwendige Umbauten sparen. Ähnliches gilt für die Ausstattung der Klassenräume. „Es geht nicht darum, was dem einzelnen Lehrer gefällt“, sagt Lernlandschaft- Geschäftsführerin Doberer, „sondern es geht darum, wie Raum und Ausstattung helfen, den pädagogischen Auftrag zu erfüllen.“

Abschalten unter Aufsicht

Snoezelen-Räume sind zur Entspannung da. Ohne einen zuständigen Pädagogen stehen sie aber oft leer.

Es ist eine Wortschöpfung aus den niederländischen Verben für kuscheln und dösen: Snoezelen. Und genau darum geht es auch in den so bezeichneten Räumen: Sie sollen ein Ort zum Abschalten und Entspannen im sonst recht lauten Schulalltag sein, wo nicht nur neues Wissen und viele Anforderungen, sondern auch andere Reize auf die Kinder einstürmen. Im Snoezelen-Raum mit seiner reduzierten Einrichtung, sparsamen Beleuchtung und bequemen Sitzgelegenheiten können die Kinder zwischendurch neue Kraft sammeln.

Das Konzept hat sich mittlerweile in vielen Bereichen etabliert – von der Therapie bestimmter Krankheiten bis zur Palliativmedizin. Auch in der Ganztagsschule taugt es als Rückzugsort, wenn bestimmte Voraussetzungen gelten. „Das wirkt nur dann, wenn Regeln aufgestellt und auch eingehalten werden“, sagt Ulrich Deinet, Professor für Didaktik und methodisches Handeln an der Hochschule Düsseldorf. Einige Kinder könnten zum Beispiel die Aufgabe übernehmen, dort auf Ruhe zu achten. Sonst kann es sein, dass die lauten, tobenden Kinder schnell auch den Ruheraum übernehmen. Ohne Aufsichtspersonal besteht außerdem die Gefahr, dass die oft recht teuer eingerichteten Räume nur selten genutzt werden. „Wir haben in vielen Schulen unglaublich viele, schön ausgestattete Räume, die leer stehen, weil organisatorisch nicht geklärt ist, wie sie im Alltag genutzt werden sollen“, kritisiert Schuleinrichtungsberaterin Karin Doberer.

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