Gott zeigt sich im ZwischenNostra Aetate und die Zukunft der Theologien

Mit "Nostra Aetate" brach die katholische Kirche mit Jahrhunderten der christlichen Abgrenzung vom Islam. Sechzig Jahre später braucht es mehr als eine respektvolle Würdigung – nämlich eine Theologie, die sich vom Anderen befragen lässt.

Ahmad Milad Karimi
Ahmad Milad Karimi beim "Dies facultatis" der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät am 15. Oktober 2025© Henning Klingen

Vor 60 Jahren, im Oktober 1965, verabschiedete das Zweite Vatikanische Konzil ein Dokument, das zu den feinsinnigsten und zugleich folgenreichsten Texten des 20. Jahrhunderts gehört: "Nostra Aetate". In wenigen Absätzen veränderte sich der Ton der Theologie. Zum ersten Mal sprach die katholische Kirche mit einer solchen Klarheit, Achtung und Feinfühligkeit über die anderen Religionen. Der Text ist kurz, aber von seltener Dichte. Er wendet sich dem Judentum, dem Hinduismus, dem Buddhismus und – in einem bemerkenswert knappen, doch bedeutsamen Absatz – dem Islam zu. Dort heißt es, dass die Kirche "mit Wertschätzung" (cum aestimatione) auf die Muslime blickt, die den einen Gott anbeten, den Schöpfer des Himmels und der Erde, den barmherzigen und allmächtigen, der zu den Menschen gesprochen hat.

Diese Passage war nicht selbstverständlich. Sie entstand nach langen innerkirchlichen Debatten, nach theologischen Kämpfen und politischen Widerständen. Dass der Islam überhaupt Erwähnung fand, zeigte, dass eine neue Zeit nur beginnen kann, wenn man den Anderen nicht länger als Schatten, sondern als Mitadressaten der göttlichen Rede versteht.

Das Ende der Polemik

Diese wenigen Zeilen waren – gemessen an der Geschichte der christlich-islamischen Beziehungen – ein Bruch mit Jahrhunderten der Polemik. Sie standen im Schatten von Kreuzzügen, Mission und Misstrauen, aber sie öffneten ein Tor. Die Sprache von "Nostra Aetate" war nicht allein ein diplomatisches Signal, sondern ein theologisches Ereignis. Es war ein Text, der sich selbst überstieg: er sprach leise, aber diese leise Stimme war lauter als viele Bekenntnisse vor ihm.

Heute, 60 Jahre später, verdienen diese Sätze eine doppelte Haltung: Würdigung und Prüfung. Würdigung, weil sie unter den Bedingungen ihrer Zeit Mut bedeuteten – theologisch, geistlich, kirchenpolitisch, interreligiös. Prüfung, weil jeder Text, der vom Anderen spricht, auch von sich selbst spricht. Die Frage ist, ob die Geste der "Wertschätzung" inhaltlich eingeholt wurde, wenn sie das Eigene im Modus des Anerkennens bewahrt, ohne sich wirklich anfragen zu lassen.

Auffällig bleibt, dass der Name des Propheten Muḥammad – und damit auch nicht das Herz des islamischen Glaubens mit keiner Silbe Erwähnung findet, wie auch all jene theologische Positionen, die sich vom christlichen Glauben unterscheiden oder sogar im Widerspruch dazu stehen. Dieses Schweigen ist theologisch aufschlussreich.

Denn "Nostra Aetate" spricht über den Islam insofern mit Wertschätzung, als dabei strukturelle Gemeinsamkeiten hervorgehoben wird. Der Glaube an den einzigen und lebendigen Gott, Gerichtsbarkeit, sittliches Leben etc. Es verweist auf Maria und Jesus, der nicht als Gott, aber (immerhin) als Prophet verehrt werde. Auffällig bleibt, dass der Name des Propheten Muḥammad – und damit auch nicht das Herz des islamischen Glaubens mit keiner Silbe Erwähnung findet, wie auch all jene theologische Positionen, die sich vom christlichen Glauben unterscheiden oder sogar im Widerspruch dazu stehen. Dieses Schweigen ist theologisch aufschlussreich. Es zeigt, wie tief die Scheu reicht, den Anderen in seiner eigenen Offenbarungsstruktur ernst zu nehmen. Der Prophet Muḥammad ist im islamischen Verständnis nicht nur der Überbringer einer Botschaft, sondern die Verkörperung des Hörens selbst, das sich ganz in den Dienst des Wortes stellt. Ihn zu nennen, hieße, das prophetische Prinzip neu zu denken – als lebendige Kategorie, nicht als abgeschlossenes Phänomen. Dass "Nostra Aetate" hier verstummt, ist Ausdruck einer Grenze, die bis heute den interreligiösen Diskurs prägt: Bestenfalls sind wir auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, strukturelle und/oder inhaltliche. Die Differenzen werden benannt, die roten Linien gezeichnet und geduldet. Zweifelsohne stellt dies einen großen Fortschritt dar, aber ist er auch zukunftsweisend?

Sich von der Differenz verwandeln lassen

Die Anerkennung bleibt dort stehen, wo die Nähe für die eigene Theologie noch bequem bleibt. Sie hebt hervor, was anschlussfähig ist, und lässt aus, was irritiert. Aber eine Theologie, die nur das anerkennt, was sie ohnehin versteht, bleibt im Kreis ihrer eigenen Verständlichkeit gefangen.

Die Frage ist, ob es genügt, das Andere zu würdigen, ohne sich von ihm berühren zu lassen. "Nostra Aetate" war ein Anfang, nicht ein Ziel. Der interreligiöse Dialog, den es begründete, ist bis heute geprägt von Respekt und Vorsicht. Doch die Haltung allein verändert nichts. Eine Theologie, die Zukunft hat, darf nicht nur den Anderen dulden, das Gemeinsame feiern, sie muss sich von ihm, von der Differenz des Anderen verwandeln lassen.

Eine abrahamitische Theologie

Hier setzt die Idee einer abrahamitischen Theologie an. Sie versteht sich nicht als Fortsetzung dieses Dialogs, sondern als dessen innere Vertiefung. Ihr Ausgangspunkt ist nicht der Vergleich, sondern die gemeinsame Herkunft. Abraham steht nicht am Beginn einer genealogischen Linie, sondern an einem Kreuzungspunkt göttlicher Anrede. Er ist der, der hört, bevor er versteht. Der, der aufbricht, ohne das Ziel zu kennen. Der, der glaubt, weil er gerufen wird.

In ihm erfüllt sich, was das Konzil in seiner Sprache ahnt: die Unterwerfung unter den göttlichen Ratschluss als Form des Glaubens. In islamischer Sprache heißt das islām, im eigentlichen Sinn: Hingabe. Eine abrahamitische Theologie müsste diese beiden Sprachen ineinander übersetzen, nicht um sie zu vermischen, sondern um das Göttliche als Beziehung zu denken, das in beiden atmet. Bequem ist immer, den anderen Glaubenstradition als eine defizitäre Form der eigenen Religion zu betrachten. Schwieriger, aber vielleicht erfüllender: sich von der Fremdheit des anderen ergreifen zu lassen.

In dieser Figur liegt ein stiller Widerstand. Abraham ist weder Jude, noch Christ, noch Muslim, und doch ist er allen drei Religionen innerlich zugehörig. Er steht für ein Glaubensverhältnis, das sich keiner Identität verschreibt, sondern in der Bewegung des Vertrauens besteht.

Eine abrahamitische Theologie nimmt diese Bewegung ernst. Sie betrachtet die Offenbarungen nicht als parallele Linien, sondern als sich gegenseitig befragende Stimmen. Sie will nicht alles relativieren, übergriffig integrieren, sondern durchdringen. Sie glaubt nicht, dass alle Religionen dasselbe sagen, sondern dass keine allein genug sagen kann.

Was geschieht, wenn ich die Glaubensgewissheit des Anderen als Anfrage an meine eigene Wahrheit verstehe?

Diese Theologie der Imperfektibilität beginnt dort, wo das Eigene fraglich wird. Nicht im Sinne einer Relativierung, sondern einer Selbstbefragung, einer Selbstkritik. Sie fragt: Was bedeutet es für meinen Glauben, dass der Andere anders glaubt – nicht gegen mich, sondern vor Gott? Was bedeutet es, dass die Wahrheit nicht nur in meiner Sprache, sondern auch in der des Anderen ausgesprochen wird? Was geschieht, wenn ich die Glaubensgewissheit des Anderen als Anfrage an meine eigene Wahrheit verstehe?

Eine solche Theologie würde nicht die Unterschiede glätten, sondern sie schätzen lernen, deren Schönheit entdecken, und gerade darin Tiefe gewinnen. Sie wäre ein Denken in der Spannung, nicht in der Harmonie. Sie würde das Fremde nicht entschärfen, sondern als Form göttlicher Anrede begreifen. Denn wenn Gott einer ist, dann kann er nur im Modus der Vielstimmigkeit zu uns sprechen. Einheit ohne Differenz wäre Stille, keine Offenbarung.

Zumutungen

In diesem Sinn genügt es nicht, den Islam als monotheistische Religion zu würdigen, die an den einen Gott glaubt. Es genügt nicht, auf die Gemeinsamkeiten zu verweisen. Der Islam denkt Gott als den Einen, der sich nicht in ein Bild fassen lässt, der nicht Mensch wird, nicht Teil des Geschaffenen. Diese Radikalität ist nicht bloß Differenz, sie ist eine theologische Zumutung, und genau darin eine Einladung. Sie erinnert daran, dass der Glaube an Gott immer auch der Glaube an seine Unverfügbarkeit ist.

Die christliche Rede von der Menschwerdung Gottes ist für den Islam keine bloße Fremdheit, sondern eine Herausforderung, vielleicht eine Zumutung, aber deshalb Grund genug, den Gedanken göttlicher Nähe neu zu denken.

Umgekehrt gilt: Die christliche Rede von der Menschwerdung Gottes ist für den Islam keine bloße Fremdheit, sondern eine Herausforderung, vielleicht eine Zumutung, aber deshalb Grund genug, den Gedanken göttlicher Nähe neu zu denken. Wenn Gott sich offenbart, warum nur durch Wort, warum nicht auch durch Menschlichkeit? Eine abrahamitische Theologie würde solche Fragen nicht umgehen, sondern ihnen Raum geben. Nicht um sie aufzulösen, sondern um sie fruchtbar zu machen.

Diese Haltung bedeutet, dass der Glaube des Anderen nicht mehr Objekt, sondern Subjekt des theologischen Nachdenkens wird. Dass die Wahrheit des Anderen nicht nur respektiert, sondern als Möglichkeit eigener Erkenntnis ernst genommen wird. Eine abrahamitische Theologie fragt nicht: "Wie können wir uns verständigen?", sondern: "Wie kann ich durch den Glauben des Anderen Gott tiefer verstehen?"

Das verändert die Blickrichtung. Es geht nicht mehr um Koexistenz, sondern um Ko-Reflexion. Nicht mehr um bloße Toleranz, sondern um gegenseitige Befragung. Der Andere ist nicht mehr ein Prüfstein meiner Geduld, sondern ein Teil meiner Gottesfrage.

Schule der Demut

So verstanden, wird interreligiöses Denken zu einer Schule der Demut. Es lehrt, dass Wahrheit nicht in der Behauptung, sondern in der Beziehung liegt. Dass Offenbarung nicht abgeschlossen, sondern fortlaufend ist – nicht in neuen Büchern, sondern in der Art, wie wir einander lesen. Eine abrahamitische Theologie wäre daher keine Disziplin, sondern eine Haltung: das Hören als Form des Glaubens, die Begegnung als Form der Erkenntnis.

Dieser Text war ein Aufbruch aus dem Geist der Verhärtung. Aber der Weg, den er eröffnet hat, ist noch nicht gegangen. 

Wenn wir heute auf 60 Jahre "Nostra Aetate" zurückblicken, können wir dankbar sein für das, was dieser Text möglich gemacht hat. Er war ein Aufbruch aus dem Geist der Verhärtung. Aber der Weg, den er eröffnet hat, ist noch nicht gegangen. Wir stehen in der Versuchung, uns auf die Erinnerung zu berufen, statt sie fortzuschreiben. Eine Erinnerung, die sich selbst feiert, bleibt stumm. Eine Erinnerung, die weiterfragt, wird fruchtbar.

Vielleicht braucht es heute, 60 Jahre später, ein zweites "Nostra Aetate" – nicht als neues Dokument, sondern als geistige Haltung. Ein Text, der nicht über die Religionen spricht, sondern mit ihnen. Der nicht beschreibt, sondern sich beschreibt. Der nicht trennt, sondern befragt. Der Mut, mit dem das Konzil damals gesprochen hat, müsste sich heute in einem Mut der Öffnung verwandeln: zum Hören auf die Stimmen, die jenseits des eigenen Kanons liegen. Der Dialog darf nicht mehr auf der Ebene des Bekenntnisses bleiben, sondern muss zu einer Form des gemeinsamen Denkens, gemeinsamer Mission werden.

Vielleicht liegt die Aufgabe unserer Zeit darin, das, was "Nostra Aetate" begonnen hat, in eine neue theologische Tiefe zu führen. Eine Theologie, die den Glauben des Anderen nicht als Ausnahme behandelt, sondern als notwendige Komponente der eigenen Wahrheit. Eine Theologie, die nicht das Fremde entschärft, sondern es zulässt, dass es weh tut, dass es befragt, dass es verwandelt. Denn nur dann wird Fremdheit zur Gabe.

Das wäre keine Theologie des Vergleichs, sondern des Glaubens. Keine Theologie der Nähe, sondern der Bezogenheit.

Dialog ist nicht das Ziel, sondern der Anfang

Das Jubiläum von "Nostra Aetate" erinnert daran, dass Dialog nicht das Ziel ist, sondern der Anfang. Dass Wertschätzung nicht reicht, wenn sie nicht in Verwundbarkeit übergeht. Dass der Name Gottes nur dort ausgesprochen wird, wo man auch den Namen des Anderen mitsprechen lernt.

Denn vielleicht ist das das eigentliche Vermächtnis: Dass Gott sich immer im Zwischen zeigt – zwischen Sprachen, zwischen Religionen, zwischen Glaubenden. Sie lebt vom Atem, der von Mund zu Mund weitergegeben wird. So wird Erinnerung zu Gegenwart, Glaube zu Bewegung, und Theologie zu jenem Ort, an dem das Wort Gottes weiterwandert,  in den Sprachen derer, die einander zuhören.

So könnte das Vermächtnis von "Nostra Aetate" weiterleben: als Aufruf zu einer Theologie, die nicht nur zuhört, sondern der globalen Herausforderungen antwortet, nicht nur ehrt, sondern sich öffnet. Eine Theologie, die weiß, dass Gott nicht in der Übereinstimmung wohnt, sondern in der gegenseitigen Frage.

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