Soziologische Studien zeigen, dass in weiten Teilen Europas nicht nur die Bindung an die Kirche schwindet, sondern auch die religiöse Indifferenz wächst. Die Zeit des Atheismus, der sich im Protest gegen den kirchlichen Glauben manifestiert, scheint vorbei. Auftrieb hat der Agnostizismus – der sich seiner selbst gar nicht mehr bewusst ist. Nicht nur, dass man sich auf das christliche Evangelium Gottes keinen Reim mehr machen könnte, ist das Kennzeichen, sondern dass es sich ohne Gott ganz gut leben lasse, genauer: ohne den Glauben an Gott. Gott wird nicht vermisst, weil er nie eine Rolle im Leben gespielt hat oder endlich keine Rolle mehr spiele. Diese Entwicklung führt zu einer tiefen Irritation des traditionellen Verständnisses von Christsein, das immer noch an der Volkskirche Maß nimmt, sie bietet aber zugleich eine große Chance, jenseits von Plausibilitäten den Gottesglauben ins Gespräch zu bringen.
Die Auseinandersetzungen darüber, wie valide religionssoziologische Untersuchungen und wie divers das Kulturchristentum ist, führen nicht ins Zentrum. Im Kern stehen die Krise des personalen Gottesglaubens, die Krise des christlichen Evangeliums von Tod und Auferstehung Jesu, die Krise der Rede vom Heiligen Geist, der lebendig macht.
Der Hinweis auf die wachsende Religiosität, auch die christliche, in anderen Erdteilen hilft wenig, um den Rückgang kirchlicher Prägung, religiösen Wissens und spirituellen Interesses hierzulande auszugleichen. Die Frage, ob die Zustimmungskrise des Christentums in Europa die große Ausnahme auf der kulturellen Weltkarte oder der Vorposten entwickelter Gesellschaften ist, lässt sich derzeit nicht entscheiden.
Dass von einer postsäkularen Konstellation gesprochen werden könne, die jenseits kirchlicher Bindungen ein neues Interesse an Spiritualität kenne, lässt sich nicht mehr frohen Mutes bejahen. Zwischen Pastoraltheologie und Soziologie wird diskutiert, wie weit empirische Untersuchungen Aussagen nicht nur über die Mentalität einer Gesellschaft und das religiöse Interesse von Individuen, sondern auch über das transzendentale Wesen des Menschen zulassen.
Umso wichtiger ist eine theologische Grundsatzreflexion, wie von Gott und vom Menschen, von Glaube und Zweifel, von Wissen und Nichtwissen gesprochen werden kann. Die Auseinandersetzungen darüber, wie valide religionssoziologische Untersuchungen und wie divers das Kulturchristentum ist, führen nicht ins Zentrum. Im Kern stehen die Krise des personalen Gottesglaubens, die Krise des christlichen Evangeliums von Tod und Auferstehung Jesu, die Krise der Rede vom Heiligen Geist, der lebendig macht – und die Frage, ob sie eine Antwort findet.
Orientierung am Aufbruch der jungen Kirche
Der Blick im 21. zurück ins 1. Jahrhundert hilft, die Relativität des gegenwärtigen Lage im europäischen Westen zu erkennen. Er hilft auch, die Begriffe zu schärfen. Vor allem hilft er, die Illusion zu entzaubern, dass die Urkirche eine heile Welt gewesen wäre. Gerade deshalb ist die Orientierung am Aufbruch der jungen Kirche so wichtig.
Im Rückblick auf die Antike zeigt sich eine tiefe Religiosität. "Alles ist voll von Göttern", sagte Thales von Milet laut Aristoteles. Aber Religion hat in Ägypten, in Griechenland und Rom nichts mit Glauben zu tun, sondern ist Loyalität. Cicero sagt: pietas. Diese Religion ist extrem wichtig für den Zusammenhalt und das Gedeihen der Gesellschaft, weil Opfer die Götter bei Laune halten. Aber prägend für die Seele eines Menschen und das Ethos einer Gesellschaft ist diese Religion nicht.
Religiös zu sein heißt in der Antike, im wohlverstandenen Eigeninteresse Pflichten zu erfüllen – seien es familiäre, den Ahnen und Privatgöttern gegenüber, seien es politische, den Stadt- und Reichsgottheiten gegenüber. Bei aller schreienden Ungerechtigkeit, bei allen Kriegen und Katastrophen hat dieses System durchaus funktioniert: Weder herrschte moralisches Chaos noch gab es eine kulturelle Wüste. Die Ästhetiken Ägyptens, Griechenlands und Roms haben die europäischen Vorstellungen dessen, was schön und gut ist, tief geprägt. Die Touristenströme heute beweisen es.
Das Judentum: die große Ausnahme in der antiken Welt
Die große Ausnahme in der antiken Welt bildet das Judentum: wegen des Bekenntnisses zu dem einen Gott, wegen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und wegen der religiös codierten Ethik.
Hier knüpft das Christentum an, um den Universalismus Israels zu explizieren. Im Verhältnis zur großen Mehrheit der Juden, die nicht an Jesus glauben, werden unter dem Vorzeichen der Gottesliebe, des Gesetzesgehorsams und der heilsgeschichtlichen Sendung Israels zentrale Fragen an das Christentum gestellt, die bis heute virulent sind: Relativiert das Christusbekenntnis den Glauben an den einen Gott? Löst das Evangelium das Gesetz auf? Stellt die Sendung zu den Völkern das jüdische Israel ins Abseits?
Die neutestamentliche Antwort lautet: Der Christus-Glauben konkretisiert den Gottesglauben; das Evangelium erfüllt das Gesetz; die Völkermission bejaht die Verheißung, mit der Israel seit Abraham unterwegs ist. Mit den jüdischen Geschwistern zu diskutieren, wie diese neutestamentlichen Antworten die Beziehungen fördern, gehört zu den zentralen Aufgaben der Theologie, die eine aktive Mitarbeit der Exegese verlangen.
Mit herabgesetzten Preisen ist nichts zu gewinnen, mit exklusiver Religionsmode oder nostalgischer Sentimentalität allerdings auch nichts.
Allerdings stellt sich in der säkularisierten Gegenwart gleichzeitig die Aufgabe, die elementaren Aussagen, Einsichten und Haltungen des Glaubens auf dem freien Feld des Lebens, auf den Marktplätzen der Städte und Dörfer, an den Lagerfeuern der digitalen Gesellschaft und an den Hoffnungsorten des Glaubens ins Gespräch zu bringen. Mit herabgesetzten Preisen ist nichts zu gewinnen, mit exklusiver Religionsmode oder nostalgischer Sentimentalität allerdings auch nicht.
Die dramatischen Glaubensschwierigkeiten heute sind von denen in der Antike vielleicht gar nicht so verschieden: Wie kann Gott Mensch werden? Wie kann der Mensch vergöttlicht werden? Was soll daran gut sein, heilsam, tröstend, aufbauend, hoffnungsvoll? Wie kann Gott unendlich nahe sein, wenn er doch verborgen ist? Wie kann der Gerechte leiden, wenn es Gott gibt? Wie kann das Kreuz, das Skandalon, wie Paulus es nennt (weil er selbst es früher so gesehen hatte), das Zeichen des Heiles sein? Wie kann es eine Auferstehung der Toten geben, von der es einen Vorschein schon mitten im Leben gibt?
Die Antworten, die das Neue Testament auf einer breiten Skala von Positionen und Perspektiven gibt, bestehen zuerst darin, die Fragen nicht zu verdrängen, sondern sie zuzulassen – und zwar nicht als Fragen von anderen, sondern als Fragen der Jünger Jesu und der frühen Gemeinden selbst. Die dramatischen Konversionen einerseits von Petrus, andererseits von Paulus führen zwar ab und an dazu, im Stil von Konvertitenliteratur die Vergangenheit schlechtzureden und die neue Gegenwart in leuchtenden Farben darzustellen. Sie führen aber auch dazu, die dramatischen Auseinandersetzungen, die Blickwechsel und existenziellen Erschütterungen in die Erzählungen, in die Gebete und in die Gedanken des urchristlichen Glaubens einzuzeichnen. In der Auslegung dürfen sie nicht ruhiggestellt, sondern müssen in ihrem Erneuerungsschwung offengelegt werden.
Die gute Nachricht
Bei aller Bedeutung offener Gespräche bestehen die neutestamentlichen Antworten auf die Gottesfrage nicht darin, die Menschen den Zweifeln, den Ängsten und Brüchen auszuliefern, die es immer wieder geben wird, sondern die Weisheit in der Torheit, die Stärke in der Schwäche, die Rettung im Tod zu thematisieren, um Paulus im Ersten Korintherbrief zu paraphrasieren. Das geht nur von Gott her und auf ihn hin – mit Jesus Christus, im Heiligen Geist.
Was geht, formt sich neutestamentlich in Erzählungen, die in Minitaturen zeigen, was sich ereignet, wenn Gott – in der Person Jesu – das Leben von Menschen berührt: Krankheit verwandelt sich in Gesundheit, Unreinheit in Reinheit, Fremdheit in Nähe, Sünde in Liebe, Tod in Leben. Was geht, formt sich neutestamentlich in Gebeten, die am Hunger, an der Schuld und an der Versuchung von Menschen nicht vorbeireden, sondern alles in der Hoffnung vor Gott stellen, dass er auf seine Weise die Bitten erfüllt, die Klagen hört, den Dank entgegennimmt und das Lob verdoppelt. Was geht, formt sich neutestamentlich in Gedanken, dass Gott größer ist als alle Gedanken und Zweifel, dass er die Menschen aber nicht täuscht, sondern sich sehen lässt: in einem dunklen Spiegelbild (1 Kor 13,12). Was geht, ist der Segen für diejenigen, die meinen, verflucht, und die Vergebung für diejenigen, die meinen, verdammt zu sein, aber sich einladen lassen, umzukehren und Hoffnung zu schöpfen. Was möglich wird, ist die Befreiung aller, die gefangen sind, und die Erquickung aller, die mühselig und beladen sind, um es auf matthäische Weise mit Jesus zu sagen.
Ohne dass die Verheißung der Befreiung glaubwürdig gewesen wäre, weil sie im Gottesdienst, im Zusammenleben, in der Caritas, auch im Bekenntnis und in der Lehre der frühen Gemeinden erfahrbar gewesen wäre, wären die Antworten hohl geblieben.
Diese christliche Botschaft ist positiv: eine gute Nachricht. Nur deshalb konnte und kann sie überzeugen, ja: begeistern. Der Schlüssel ist ein Monotheismus, der philosophischer Kritik standhält, verbunden mit einer Ethik, die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verbindet, vermittelt durch Jesus, einen Menschen, der nicht nur von, sondern auch in und mit Gott gesprochen hat. So haben es diejenigen überliefert, die Jesus Glauben geschenkt haben und deshalb Teil seiner Gottes- und Menschengeschichte geworden sind: eine Liebesgeschichte.
Ohne die Verheißung der Befreiung wäre das Christentum eine von vielen Varianten levantinischer Erlebnisreligionen geworden.
Ohne dass die Verheißung der Befreiung glaubwürdig gewesen wäre, weil sie im Gottesdienst, im Zusammenleben, in der Caritas, auch im Bekenntnis und in der Lehre der frühen Gemeinden erfahrbar gewesen wäre, wären die Antworten hohl geblieben.
Die damalige Konstellation kann heute nicht kopiert werden. Aber die fehlende Plausibilität, die fraglich gewordene Tradition, der Abbruch an Kirchlichkeit bieten keinen Anlass zur Resignation, sondern zur selbstkritischen Prüfung, wo in der Kirche heute die Verheißung der Freiheit greifbar wird, die Klarheit des Glaubens, die Weite der Hoffnung. Wo öffnen sich die Kirchenräume, die anzeigen, wie groß eine Liebe ist? Wo finden sich Worte und Gesten, die der Trauer und Angst, aber auch der Hoffnung und Freude der Menschen Ausdruck verleihen? Es gibt diese Orte, diese Sprache, diese Beziehungen. An ihnen entscheidet sich die Zukunft der Kirche.
Rückzüge helfen nicht!
Das Projekt der Neuevangelisierung hatte unter Papst Benedikt XVI. die richtige Analyse, dass es weitverbreiteten Analphabetismus unter den Getauften gibt. Die Krise des Projektes hat zwei Ursachen: dass die ursprünglich präzise Adressierung verwischt worden ist durch die Eingliederung in die prä- und postbaptismale Katechese und dass Protagonisten der Neuevangelisierung den Eindruck erwecken wollten, die Kirche habe immer schon alle Antworten auf alle Fragen der Menschen und müsse sie nur richtig vermitteln. Das "Gespräch im Geist" geht anders.
Was nicht hilft, sind Rückzüge. Die leere Kirche mag ein Symbol unserer Zeit sein – ein Hoffnungszeichen ist sie nicht. Der Karsamstag gehört zum Triduum – das zentrale Fest der Christenheit bleibt Ostern. Wer das Gefühl hat, am Abend des christlichen Abendlandes zu stehen, wiegt sich in falscher Sicherheit. So herrlich war die Vergangenheit nicht – und so schlimm wird die Zukunft nicht sein, die Gott mit uns vorhat.
Was hilft, ist das ebenso demütige wie mutige Wissen, dass der eine Gott für alle auch der Gott ist, dessen Wort sich "heute" erfüllen soll. Dazu braucht es Menschen, die sich gut ausdrücken können und aufhorchen lassen.
Die Theologie ist dazu da, sie zu trainieren, die synodale Kirchenreform braucht es, damit sie verantwortlich dort arbeiten können, wo sie ihre Stärken ausspielen können. Die Exegese braucht es, um die Erinnerung an den befreienden Anfang mit der Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche und der Welt zu vermitteln, die im Auferstehungsglauben begründet ist.