Wien ist in jüngster Zeit zu einem Ort geworden, an dem sich theologische Verhältnisse auf bemerkenswerte Weise verändert haben. Nicht im Sinne eines Bruchs, sondern eines stillen, aber tiefgreifenden Wandels.

Seit einem Jahr ist das Institut für Islamisch-Theologische Studien (IITS) Teil der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Was auf dem Papier wie ein administrativer Schritt erscheint, hat sich in der Praxis als ein hochdifferenziertes Experiment theologischer Pluralität erwiesen.

Dass ein solcher Prozess institutionell, personell und geistig möglich wurde, ist alles andere als selbstverständlich. Er erfordert eine neue Haltung zur Differenz: keine vorschnelle Einigung, keine harmonisierende Flucht in "das Gemeinsame", sondern die Bereitschaft, Differenz, als Herausforderung, als Zumutung und auch als Lernort, theologisch ernst zu nehmen.

Theologische Begegnung erschüttert

Im interreligiösen Raum bedeutet dies: Das Eigene im Angesicht des "Anderen" neu zu denken – nicht durch Vereinnahmung, sondern durch wechselseitige Fragwürdigkeit. Der münsteraner Theologe Ahmad Milad Karimi, Festredner beim jüngsten Dies Facultatis der Fakultät, hat dies in seiner eindrucksvollen Rede skizziert: Die theologische Begegnung, so Karimi, sei nicht dann gelungen, wenn sie Konsens herstellt, sondern wenn sie erschüttert – aus dem Innersten des Glaubens heraus.

In der islamisch-sufischen Tradition wird der "Andere" als Spiegel verstanden: nicht um sich selbst zu betrachten, und auch nicht, um nur den "Anderen" zu sehen, sondern um in dieser Spiegelung eine göttliche Spur zu entdecken. Der Spiegel sei ein Prüfstein und eine Waage, deren Neigung immer auf die Wahrheit gerichtet ist.

In dieser Spannung, in der sich Eigenes und Fremdes nicht auflösen, sondern gegenseitig herausfordern, gewinnt Auslegung an Tiefe. Theologische Rede bleibt hier nicht bei der Beschreibung von Differenz stehen, sondern öffnet sich einem Moment des Uneinholbaren. Jenem Überschuss, der sich nicht in Systemen fassen lässt, aber im Ernstnehmen des "Anderen" aufscheinen kann. Der neue Erzbischof von Wien, Josef Grünwidl, hat in einem Interview gesagt: "In der Pastoral brauchen wir keine Kirchenfunktionäre oder Beamten, die Dienst nach Vorschrift machen, sondern Mystikerinnen und Mystiker." Vielleicht gilt das auch für die Theologie (als Institution): dass sie nicht nur erklären, sondern existenziell tragen muss.

In der islamisch-sufischen Tradition wird der "Andere" als Spiegel verstanden: nicht um sich selbst zu betrachten, und auch nicht, um nur den "Anderen" zu sehen, sondern um in dieser Spiegelung eine göttliche Spur zu entdecken. Der Spiegel sei ein Prüfstein und eine Waage, deren Neigung immer auf die Wahrheit gerichtet ist.

Ahmad Milad Karimi
Ahmad Milad Karimi beim "Dies facultatis" der Wiener Katholisch-Theologischen Fakultät am 15. Oktober 2025 © Henning Klingen

Wie fremd darf der Andere sein?

Die Begegnung zwischen islamischer und katholischer Theologie – gerade in einem Raum wie Wien – kann in diesem Sinne selbst ein solcher Spiegel sein: nicht zur Selbstvergewisserung, sondern zur gemeinsamen Ausrichtung auf das, was keiner Tradition exklusiv gehört. Wer dem "Anderen" mit Offenheit begegnet, begegnet nicht selten auch sich selbst und gleichwohl auch gerade dem, was größer ist als das Selbst. Solche Perspektiven laden nicht zur Auflösung der Differenz ein, sondern zur Vertiefung der Verantwortung, die mit jeder Auslegung einhergeht – gegenüber der Offenbarung, gegenüber dem "Anderen" und somit gegenüber Gott.

Der Titel dieses Beitrags – Im Angesicht des "Anderen" – ist bewusst mehrdeutig gewählt. Er verweist nicht nur auf die räumliche Nähe verschiedener theologischer Traditionen an einem akademischen Standort, sondern auf eine tiefere hermeneutische wie ethische Herausforderung: Wie fremd darf oder muss der "Andere" sein, damit er mich theologisch berührt, ohne vereinnahmt zu werden? Und was bedeutet es, im Angesicht des "Anderen" zu sprechen – nicht über ihn, sondern vor ihm, vielleicht sogar mit ihm? Die Anführungszeichen markieren dabei keine Distanz, sondern eine offene Frage: Wer ist dieser "Andere" eigentlich – kulturell, theologisch, gesellschaftlich? Und wie sehr ist das Bild des "Anderen" auch ein Spiegelbild des Eigenen?

In einer Zeit, in der interreligiöse und innergesellschaftliche Differenz zugleich als Zumutung und als Chance erfahren wird, verweist diese Formulierung auf eine Grundspannung, die jede Auslegung begleitet: Sie geschieht nie neutral. Sie ist immer auch eine Bewegung der Verantwortung. Diese Spannung wird im Kontext islamisch-christlicher Dialoge besonders deutlich. In der Zusammenarbeit innerhalb der Fakultät, insbesondere in Form gemeinsamer Lehrangebote, zeigt sich, dass Differenz zwischen den Offenbarungslogiken nicht nivelliert, sondern durchdrungen werden kann: durch eine Haltung, die sich ihrer eigenen Voraussetzungen bewusst ist und die Differenz nicht als Defizit, sondern als geistige Ressource versteht.

Zugehörigkeit allein sichert keine Wahrheit

Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, wie ähnlich sich beide Traditionen sind, sondern vielmehr: Wie fremd ist mir der "Andere", damit ich mich im Angesicht dieser Fremdheit verantworten kann? Wie anders muss der "Andere" sein, damit ich das Eigene nicht nur wiedererkenne, sondern hinterfrage? Diese Fragen berühren den Kern hermeneutischer Theologie. Gerade im koranischen Diskurs – oft überlagert von apologetischen oder polemischen Zugriffen – zeigt sich eine komplexe Dynamik: Der "Andere" erscheint nicht einfach als Gegenbild, sondern als hermeneutische Figur, die das eigene Textverständnis in Bewegung setzt.

Im Koran wird religiöse Differenz nicht durch starre Kategorien definiert, sondern im Spannungsfeld von Offenbarung, Verantwortung und ethischem Handeln reflektiert. Zugehörigkeit allein sichert keine Wahrheit, und Andersheit ist kein Makel. Entscheidend ist, ob sich Glaube im Handeln bewährt – in Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit und der demütigen Haltung gegenüber dem "Anderen". In dieser Perspektive wird der "Andere" nicht entwertet, sondern zum Spiegel der eigenen Glaubenshaltung. Andersheit wird nicht als Gefahr verstanden, sondern als ernsthafte Anfrage an die Wahrhaftigkeit des eigenen religiösen Selbst.

Wenn Theologie heute relevant sein will, dann durch ihre Fähigkeit zur kritischen Unterscheidung, zur verantworteten Rede und zur Bildung des Gewissens – im Horizont einer Gesellschaft, die nicht nur nach Antworten, sondern nach Orientierungsfähigkeit verlangt.

Dass Theologie an einem Ort wie Wien diese Form der Auseinandersetzung mit Differenz ermöglicht, ist nicht zuletzt das Ergebnis struktureller Entwicklungen: Seit einem Jahr ist das Institut für Islamisch-Theologische Studien integraler Bestandteil der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Diese Konstellation ist nicht nur akademisch, sondern auch gesellschaftlich bedeutsam. Denn das Miteinander religiöser Weltzugänge, wie es in Wien institutionell gelebt wird, steht in scharfem Kontrast zu den Polarisierungen unserer Zeit: Rechtspopulismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, digitale Radikalisierung und verschwörungsideologische Narrative greifen dort um sich, wo Differenz nicht als Zumutung und Möglichkeit verstanden wird, sondern als Störfaktor. Theologische Institutionen, die der Differenz nicht ausweichen, sondern sie austragen, leisten hier einen Beitrag – nicht durch Anpassung, sondern durch das Angebot geistiger Orientierung in einer zersplitterten Welt.

Hier beginnt eine zweite Verantwortung theologischer Arbeit: Sie darf sich nicht in interne Selbstgespräche religiöser Institutionen oder konfessioneller Binnenlogiken zurückziehen, sondern muss Sprachfähigkeit für gesellschaftliche Krisen entwickeln – nicht parteipolitisch, aber geistig. Wenn Theologie heute relevant sein will, dann durch ihre Fähigkeit zur kritischen Unterscheidung, zur verantworteten Rede und zur Bildung des Gewissens – im Horizont einer Gesellschaft, die nicht nur nach Antworten, sondern nach Orientierungsfähigkeit verlangt.

Die Wiener Konstellation, mit ihrer institutionellen Nähe, ihren Formaten der Zusammenarbeit wie RaT, ihrer interdisziplinären Offenheit und personellen Durchlässigkeit, ist kein Sonderfall, sondern ein Modell theologischer Gegenwart: sie ist keine fertige Antwort, sondern eine Einladung, Pluralität nicht nur zu beschreiben, sondern gemeinsam zu verantworten.

Was sich hier entwickelt, ist kein fertiges Modell. Es ist eine offene Bewegung – getragen vom Versuch, Pluralität nicht als Belastung, sondern als geistige Möglichkeit zu verstehen

Zeit neuer theologischer Sensibilität

Die Ernennung von Josef Grünwidl zum neuen Erzbischof von Wien fällt in eine Zeit einer neuen theologischen Sensibilität. Die Resonanz auf seine Berufung war auffallend positiv: nicht aufgrund großer Gesten, sondern wegen der ihm zugeschriebenen Fähigkeit, zuzuhören, zu begleiten, ohne sich in den Vordergrund zu stellen. Ich selbst hatte bisher keine persönliche Begegnung mit ihm. Doch aus der Perspektive meiner Arbeit am Institut für Islamisch-Theologische Studien verbindet sich mit diesem Moment die leise Hoffnung, dass jene Offenheit, die in Wien gewachsen ist, auch weitergetragen wird: nicht als Konsens, sondern als Bereitschaft, Differenz nicht nur zu dulden, sondern als theologische Aufgabe ernst zu nehmen.

Was sich hier entwickelt, ist kein fertiges Modell. Es ist eine offene Bewegung – getragen vom Versuch, Pluralität nicht als Belastung, sondern als geistige Möglichkeit zu verstehen. Weil man verschieden glauben kann, ohne sich zu verlieren. Weil man streiten kann, ohne sich zu entzweien. Und weil man Institutionen bauen kann – nicht als Orte der Macht, sondern als Räume gemeinsamer Verantwortung.

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