Richtig gute Socken sind entscheidend. Auch Merino-Unterhosen im Boxershorts-Schnitt sind empfehlenswert für alle, die pilgern. Um sich Blasen zu ersparen und um sich nicht wund zu laufen. Es stimmt auch, dass der Rucksack inklusive Wasser mit allem Drum und Dran nicht schwerer sein darf als Körpergewicht durch zehn minus zehn Prozent. Ich war mit 7,9 Kilogramm unterwegs. Ob dafür die Zahnbürste abgesägt werden muss, ist eine andere Frage. Ich habe da meine Zweifel, habe aber auch jeden Gegenstand mit der Küchenwaage abgewogen. Am Ende blieb mir nur ein Luxus, den mir die beiden erfahrenen Langstreckenwanderer, ein freier Journalist, der pilgert, sowie ein Freund, der Bergtouren macht, sicher versucht hätten auszureden: ein analoges Tagebuch und ein Füllfederhalter.
Gerade für Pilger-Debütanten wie mich würde ich sagen: Nicht einfach draufloslaufen, sondern sich umhören und einlesen. Diese Ausstattungsfragen sind wichtig. Meine Erfahrung: Nur wer beim Materiellen gut vorgesorgt hat, ohne sich in der Outdoor-Branche zu verlieren, kann jene spirituellen Erfahrungen ganz besonderer Art machen, wie sie nur auf Pilgerwegen möglich sind. Andernfalls bleiben Pilger erst recht dem Materiellen verhaftet, weil die Sandalen im Schlamm versinken – so gesehen auf dem Franziskusweg. Barfuß auf dem Franziskusweg – das mag stimmig klingen. Ist aber meines Erachtens Unsinn.
Was richtig sinnig ist: ein paar Tage Exerzitien vorschalten. Ich habe um Aufnahme in der Badia Fiorentina gebeten, einer einstigen Benediktinerabtei im Herzen von Florenz, die heute von Schwestern und Brüdern der Communauté de Jerusalem betreut wird. Die Idee dieser monastischen Gemeinschaften: Oasen in der Wüste der Großstadt anzubieten, in diesem Falle: Stille im Kulturtouristen-Remmidemmi. Die sehr konsequent einfache Lebensweise der Mönche, wie sie sich auch im Gästezimmer widerspiegelt, ist vielleicht nichts für jedermann. Für mich war dies eine entscheidende Herzkammer auf meinem Pilgerweg. Mit den Mönchen und anderen Gästen den Abwasch zu machen, dreimal am Tag am Gebet teilzunehmen, und zwischendurch Fra Angelicos Fresken im Dominikanerkloster oder das Franziskaner-Kloster Santa Croce zu besuchen – all dies hat mich bereit gemacht.
Es ist viel mehr möglich, als ich mir zutraue.
Dies soll keine Nacherzählung meines Weges werden, sondern die Reflexion einer Pilgererfahrung. Deswegen die Eckdaten nur in aller Kürze: Ich bin an einem Sonntag rausgelaufen aus Florenz, mehr oder weniger immer am Ufer des Arno entlang. Am zweiten Tag geht es rauf in den Apennin. Es ist Mai und für die Jahreszeit zu kalt und zu nass. Dafür ist alles derart grün, dass es kaum zu glauben ist, wobei ein Tag mit Höchsttemperaturen rund um die 8 Grad und mehreren Stunden Regen schon an die Substanz geht. Auch tausend Höhenmeter bergauf habe ich schon mindestens 20 Jahre nicht mehr gemacht. Das gilt auch für Etappen um die 20 Kilometer – mal weniger bei krassem Anstieg, mal deutlich mehr bei mehr oder weniger ebenem Weg. Ich war mir vorher nicht sicher, ob ich das schaffen würde. Auch das wird bleiben von diesem "Pilgerweg des Vertrauens", wie ich ihn für mich nenne: Es ist viel mehr möglich, als ich mir zutraue.
Stunden der Einsamkeit
Es geht über Pfade in kleine Dörfer und Städtchen. Erst am Ende des Weges gibt es reichlich Asphalt und Schotter. Aber gerade im Apennin erlebe ich eine Stille wie selten in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten. Über Stunden hinweg ist nichts zu sehen oder zu hören, was sonst Wanderungen beeinträchtigen kann: kein Motor- oder Windrad, kein Funk- und kein Strommast. Bis heute ist das Casentino wie eine Insel im Herzen Italiens – eine Insel so einsam, dass selbst Italiener sie nicht kennen.
Morgens gehe ich meist in eine der vielen Kirchen und Kapellen am Wegesrand, schaue mir für 20 Minuten das Stundengebet des Tages an – digital. Einen Satz, der mich berührt, kopiere ich in die Notizen-App. Und diesen Satz kaue ich den ganzen Tag wieder, wandele ihn ab, sodass er zum Rhythmus des Atems passt in diesem steilen Gelände. Es regnet von oben. Es spritzt das Wasser von unten. Seitlich durch all die Täler schießen die Bäche. Überall Wasser. Und dazu das Licht, das diese Buchen- und Eichenwälder im Regen gleichzeitig unheimlich und heimelig macht.
Das gelbe Franziskus-Kreuz weist den Weg – manchmal.
© Andreas Main
Und mein abgewandelter und wiedergekäuter Psalm, von dem ich gar nicht mehr weiß, welcher es ist – das überlasse ich den Expertinnen und Experten – passt so wunderbar, dass ich mich richtiggehend erfüllt, und getragen fühle. "Bei Dir / ist die Quelle des Lebens; in Deinem Licht / schauen wir das Licht."
Ein paar Meter weiter begegne ich erstmals in meinem Leben "Schwester Salamander". Sie leuchtet schwarz-gelb. Sie strahlt aus, was mich durchstrahlt. Eine mystische Erfahrung, sagt sich der Mönch in mir. Wobei ein echter Mystiker dann wohl nicht sein iPhone zücken und an all jene denken würde, denen er gleich dieses Foto schicken möchte. Dabei spielt mir das Casentino einen Streich. Selbstverständlich gibt es hier keinerlei Empfang und Netz.
"Schwester Salamander"
© Andreas Main
In diesen grünen Bergen war auch der heilige Romuald von Ravenna unterwegs. Vor ziemlich genau tausend Jahren hat er hier oben in endlosen Wäldern eine monastische Gemeinschaft begründet, die die benediktinische Lebensform mit Traditionen des Eremitentums neu beleben sollte. Das Kloster und die Einsiedelei von Camaldoli sind das Ziel an diesem Tag. Auch Franz von Assisi soll sich hier zurückgezogen haben. Die Kamaldulenser sind auf Kontemplation ausgerichtet. Aber diese kleine Ordensgemeinschaft nimmt auch Gäste auf.
Die Einsiedelei von Camaldoli
© Andreas Main
Noch nie bin ich stundenlang im Regen gelaufen – und hatte dabei gute Laune.
Der Weg war in den vergangenen Tagen so nass und matschig, dass ich mir im Kloster einen Ruhetag gönne. Zumal es noch stärker regnen soll. Unnötige Risiken müssen ja nicht sein. Noch nie bin ich stundenlang im Regen gelaufen – und hatte dabei gute Laune. Noch nie habe ich mich im Regen auf einen Stamm gesetzt und ein Picknick ausgepackt. Und noch nie bin ich auf einem Bergkamm gelaufen mit potenziell grandiosem Rundblick, ohne etwas sehen zu können außer Wolken und Bäume. Gestürzt bin ich auch nur einmal – später, als es heiß und trocken war. Aber da bin ich auf den Rücken gefallen. Der Rucksack hat mich aufgefangen. Ein weicher Sturz. Und immer wieder im Rhythmus des Atems die Ruminatio, so nennt man offenbar dieses Wiederkäuen, wie ich erst nach dieser Erfahrung von theologisch Gebildeteren gelernt habe: "Mein Fuß – steht auf festem Grund. – Ich gehe meinen Weg – in Treue zu Dir." Auch für das Jesus-Gebet – in unterschiedlicher Form – haben Allein-Pilgerinnen und -Pilger Zeit.
Sinngemeinschaft
Ich bin meist allein gelaufen, wiewohl so eine Pilgerreise auch eine menschlich tiefe Erfahrung sein kann. Wenn es sich ergab, bin ich mit einer jungen Italienerin, einem älteren niederländischen Paar oder dem mittelalten Mees gelaufen. Aufs Ganze betrachtet habe ich bei dieser Pilgerreise mehr Menschen kennengelernt als während mehrerer "normaler" Urlaubsreisen zusammen. Es entsteht Zusammenhalt, weil ja alle ein gemeinsames Ziel und ähnliche Hürden zu überwinden haben.
© Andreas Main
In dieser Sinngemeinschaft wird es auch in einem Maße möglich, "über Gott und die Welt" zu reden, wie das in einem säkularen Umfeld kaum geht. Dies alles komplett unorganisiert, eher wie ein Schwarm von Fischen, ziemlich intelligent. Wer wen wo trifft, ergibt sich. Ich will nicht sagen: zufällig. Mich hat intensiv berührt, wie dieser Mees, ein durch und durch säkularer, aber offener Niederländer neben mir im Pfingsthochamt in Assisi regelrecht durchgeschüttelt wurde. Er hat die ersten Tage des Weges als "emotionally, physically and mentally challenging" bezeichnet. Dann setzte eine Stabilisierung ein; am Ende war er nur noch dankbar. Er mochte gar nicht aufhören, ist über Assisi hinausgelaufen. Da trennten sich unsere Wege. Doch ich weiß noch immer die Namen der meisten Pilgerinnen und Pilger, denen ich begegnet bin – aus Italien, Australien, Österreich, Tschechien, Deutschland. Die Motive unterscheiden sich stark. Aber das geht gut zusammen.
Der Mensch hat seine Heimat nicht in dieser Welt
Sich darauf einzulassen, braucht Zeit. Die Folge: Ich habe als Vielleser pilgernd fast gar nichts gelesen. Zwar hatte ich, um keine Bücher aus Papier mitzuschleppen, zwei Bücher in einer Notizen-App exzerpiert und digitalisiert. Die wollte ich abends oder während der Pausen nochmals lesen – und zwar von Christian Rutishauser SJ und Anselm Grün OSB. Die waren also nicht in meinem Rucksack, aber in meinem Herzen und in meinem iPhone. Rutishauser, der Jesuit, ist vor einigen Jahren von der Schweiz aus nach Jerusalem gepilgert. Grün, der Benediktiner, wandert leidenschaftlich gern.
Das Büchlein von Anselm Grün sei allen empfohlen, die gern wandern und eine religiöse Ader haben, die gepilgert sind oder pilgern wollen. Er schreibt:
"Wandern formt den Menschen mit Leib und Seele. Alle Sinne werden angesprochen. Der ganze Mensch ist einbezogen, er erfährt sich auf dem Weg, lebendig, noch einer Wandlung fähig. Er wird als ganzer erfahren, als ganzer gewandelt. (…) Die vielen Menschen, die auf den alten oder neuen Pilgerstraßen wandern, erwarten sich davon eine innere Verwandlung. Die Christen unter ihnen erhoffen auf ihrem Pilgerweg eine intensivere Begegnung mit Christus. (…) Sie wollen seine Existenz begreifen – die eines Wanderpredigers, der drei Jahre lang sozusagen ohne festen Wohnsitz durch Palästina zog."
Anselm Grün sieht im Wandern in seiner religiösen Dimension "eine Weise leibhafter Meditation unserer christlichen Existenz, als Einübung unseres Glaubens, der seit Abraham wesentlich eine Wegstruktur hat: ein Ausziehen aus dem Vertrauten und sich Aufmachen in das Land der Verheißung." Wandern habe was zu tun mit – sich wandeln.
Auch bei Christian Rutishauser finden sich Anregungen, wie ein Pilgerweg theologisch unterfüttert werden kann, obwohl sein Schweiz-Jerusalem-Projekt selbstverständlich nicht zu vergleichen ist mit einer vergleichsweise gemütlichen Italien-Erfahrung.
Er empfiehlt, auf dem Weg alles Widerständige als Einladung zu Wachstum und Reifung anzunehmen. Das Beginnen sei gefordert, nicht das Vollenden. Sich erst vom Weg abbringen lassen, wenn äußere oder innere Not einen dazu zwingen, nicht früher. Der Exodus ins Gelobte Land sei nie einfach gewesen. Verletzungen seien unvermeidlich, das Vorankommen sei letztlich Gnade. Allein Wolkensäule und Feuerschein führen.
Rutishauser versucht, während er unterwegs ist, das Pilgern als eine Aktion zu verstehen, die durch ihren Zeichen-Charakter herausfordern will:
"Pilgern ist symbolisches und sakramentales Handeln. Es weist auf eine geistige Wirklichkeit hin, ist eine Art Sakrament dafür, dass der Mensch seine Heimat nicht in dieser Welt hat. Das Unterwegssein bringt geistig-geistliche Verwandlung mit sich. Was am Leib durch das Gehen vollzogen wird, bewirkt einen inneren Weg. Alle Sinne haben daran teil."
Auf der Suche nach Stille in Rom
Von Assisi aus führt der Franziskusweg nach Rom. Einige gehen die 600 Kilometer am Stück, andere splitten den Weg und verteilen die Etappen auf zwei oder mehrere Reisen. Mir wurde es am Ende zu heiß. Ich habe mich mit 300 Kilometer begnügt und bin von Assisi mit dem Zug nach Rom gefahren. Dass die Bahn in Italien um ein vielfaches sauberer, pünktlicher und günstiger ist, als die Deutsche Bahn, sollte am Rande auch vermerkt sein.
Von Termini, dem römischen Hauptbahnhof, bin ich bis zu meiner Unterkunft nordöstlich vom Vatikan zu Fuß durch die ganze Stadt gelaufen. Mit Stöcken wie auf dem Pilgerweg. Ich wollte Pilger bleiben. Das ist nur begrenzt gelungen. Rom war sehr voll. Und trotz der vielen Tipps, wo Stille möglich sei, fand ich sie nicht so recht.
Der Papst schien direkt zu mir gesprochen zu haben. Seine Worte erreichten mich da, wo sie mich mutmaßlich erreichen sollten – im Herzen.
Und doch gab es sie: auf meinem Balkon und vor allem ausgerechnet im Petersdom. Hier fand ich die Stille im Beichtstuhl, in den es mich schlagartig zog. Und auf dem Petersplatz bei einer Generalaudienz. Obwohl ich Italienisch kaum spreche und verstehe, verstand ich die auf Italienisch vorgetragene Katechese von Papst Leo weitgehend. Oder sogar ganz? Als er dann eine Kurzfassung auf Englisch vortrug, war klar: Ich habe ihn verstanden. Der Grund: Er schien direkt zu mir gesprochen zu haben. Seine Worte erreichten mich da, wo sie mich mutmaßlich erreichen sollten – im Herzen. Das war Anfang Juni. Mittlerweile sind drei Monate vergangen. Diese Worte gehen mir weiterhin nach. Der Pontifex hat eine Brücke zu einem Pilger gebaut.
Pilger bleiben
Und danach? Dann kommt das Schwierigste: das Pilger bleiben. Christian Rutishauser fasst seine Erfahrung so zusammen: Perfektion sei auf dem Weg nicht gefragt. Es gelte vielmehr, immer wieder umzukehren und neu zu beginnen. Er schreibt: "Diese Haltung des Pilgerns würde in mir hoffentlich noch jahrelang Bestand haben. Ich bleibe Pilger." Er schlägt vor, das Pilger-Sein als einen "spirituellen Habitus zu verstehen, der das ganze Leben durchwirkt." Und bleibe ich Pilger? Bei mir bleibt auf jeden Fall die Sehnsucht, dass ich das auch will: Pilger bleiben. Und es bleibt der Wunsch, dass ich mich bald wieder aufmache, um einen Camino zu beginnen.