Wann hat zuletzt eine Heiligsprechung solche Aufmerksamkeit in den Medien bekommen? Von Spiegel bis Tagesschau berichteten gestern alle über die Kanonisierung von Carlo Acutis, der 2006 im Alter von 15 Jahren gestorben ist. Vom gleichzeitig heiliggesprochenen Pier Giorgio Frassati war viel weniger die Rede. Woher kommt das große Interesse an dem ersten "heiligen Millennial"?
Mit Carlo Acutis zeigt sich die katholische Kirche einerseits von ihrer zeitgenössischen Seite: Der Italiener gilt als "Cyber-Apostel" und "Influencer Gottes"; er bekam mit sieben Jahren seinen ersten Computer. Andererseits aber gerade auch nicht: In Carlo Acutis vereint sich alles, was am Katholizismus schon seit der Reformation und verstärkt seit dem Antiklerikalismus des 19. und 20. Jahrhunderts als anstößig und rückständig gilt.
Als Elfjähriger hatte Acutis eine Online-Dokumentation von Hostienwundern angelegt. Nach seinem Tod entstand daraus einer Wanderausstellung, die bis heute durch katholische Pfarreien tourt. Der exhumierte und präparierte Körper des Jugendlichen ist in Assisi hinter einer Glasscheibe zu sehen. Zu allem Überfluss wurde seinem Leichnam auch noch eine Herzreliquie entnommen, die an zahlreichen Orten Europas zur Verehrung ausgestellt wurde – was, wie man hört, großen Anklang fand. Für eine Heiligsprechung wurden, wie üblich, unerklärliche Krankenheilungen, die auf seine Fürsprache hin geschehen sein sollen, von der zuständigen Behörde des Vatikans offiziell anerkannt.
Hat die katholische Kirche nun ihren Frieden mit der Aufklärung gemacht, oder nicht? Oder liegt die aufgeklärte Weltsicht vielleicht doch falsch und das Leben ist wundersamer, als man meint …
Carlo Acutis steht für Wunderglauben und Reliquienkult – und damit auch für die Frage: Hat die katholische Kirche nun ihren Frieden mit der Aufklärung gemacht, oder nicht? Oder liegt die aufgeklärte Weltsicht vielleicht doch falsch und das Leben ist wundersamer, als man meint …
Zwei Optionen
Die Frage beschäftigt ja auch die Katholiken selbst. Angesichts von Kritik schwankt die katholische Kirche seit jeher zwischen zwei Optionen: das Eigene betonen oder sich um Anschlussfähigkeit bemühen.
Während in früheren Epochen die erste Option überwog (etwa während der Gegenreformation oder im ultramontanen Katholizismus des 19. Jahrhunderts) waren in den letzten Jahrzehnten größere Kreise in der katholischen Kirche der zweiten Option zugeneigt.
Es mangelte angesichts der Heiligsprechung jedenfalls nicht an kritischen Stimmen. So warnten einige, unter den von Acutis zusammengetragenen Hostienwundern fänden sich auch mittelalterliche Legenden, die zum Hass gegen die angeblich hostienschändenden Juden aufgestachelt haben. Ein gewichtiger Einwand, dem höchstens entgegenzuhalten ist, dass dem Elfjährigen diesbezüglich das Problembewusstsein gefehlt haben dürfte. Das entschuldigt aber nicht diejenigen, die für die besagte Wanderausstellung Verantwortung tragen.
Auch hieß es, derlei Wundergeschichten würden die katholische Eucharistielehre mit ihrer genauen Unterscheidung von Substanz und Akzidenzien konterkarieren: Nach dieser wandelt sich bei der Eucharistie ja gerade nicht das, was man sieht. Indes ist auch das mangelnde Bewusstsein dafür einem Elfjährigen kaum anzulasten.
Nun wurde in den letzten Jahrzehnten allerdings auch das "offizielle" katholische Eucharistieverständnis – mit seinen Lehren von der Transsubstantiation, von der bleibenden Realpräsenz Christi und vom Messopfer – innerkatholisch stark angefragt. Theologen schlugen alternative Deutungen vor, die nicht zuletzt ökumenisch anschlussfähiger sein sollten. Auch die Praxis änderte sich: An die Stelle der großen Ehrfurcht, ja Scheu, mit der frühere Generationen sich der Eucharistie näherten, trat ein vergleichsweise unbefangener Umgang mit dem Sakrament.
Täuscht der Eindruck, oder spielt der Carlo-Acutis-Kult geradezu lustvoll mit der Spannung von Modernität und Antimodernismus, wenn etwas der Heilige in seinem Glassarg im Jogginganzug und mit Turnschuhen an den Füßen zu sehen ist?
Nicht alle waren mit dieser Entwicklung einverstanden. Der Streit zwischen Anpassung und Selbstbehauptung ist nicht entschieden. Wer in der heutigen Zeit eine Wanderausstellung über Hostienwunder organisiert, der will nicht zuletzt ein Zeichen gegen einen allzu profanen Umgang mit dem Sakrament setzen.
Täuscht der Eindruck, oder spielt der Carlo-Acutis-Kult geradezu lustvoll mit der Spannung von Modernität und Antimodernismus, wenn etwas der Heilige in seinem Glassarg im Jogginganzug und mit Turnschuhen an den Füßen zu sehen ist? Was die einen irritiert, fasziniert die anderen. Die säkulare Öffentlichkeit jedenfalls scheint den Katholizismus gerade dann wahrzunehmen, wenn er rätselhaft und etwas anstößig wirkt: zuletzt bei der Papstwahl, jetzt bei der Heiligsprechung des "Influencers Gottes".