John Henry Newman (1801–1890) hatte sich bis ins hohe Alter eine engelhafte Jugendfrische bewahrt. Auch deshalb fühlte sich Papst Benedikt XVI. diesem Kirchenmann und Künstler verwandt. Am Vorabend der Seligsprechung (2010) wandte er sich im Londoner Hyde Park besonders an die Jugendlichen. Die "lieben jungen Freunde" sollten offen für Jesus werden, "gerade jetzt spricht sein Herz zu eurem Herzen". Damit zitierte der Papst das Motto Cor ad cor loquitur des britischen Konvertiten und Kardinals, dessen Lieder und Predigten weit über England hinaus Menschen beflügelten. So auch Edith Stein, die Newmans Briefe und Tagebücher nach ihrer Konversion übersetzte. Newman war für die Erneuerungsbewegung innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland ein Hoffnungsträger und Vorbild. Denn er hatte das Erwachen der Kirche, von dem Romano Guardini sprechen sollte, in seiner Seele erlebt.
Der Berufung folgen
"Jeder von uns hat eine Sendung", sagte der Papst ganz in Newmans Sinn. Eine Berufung ist mehr als ein Beruf. Der junge John Henry Newman hatte einen Beruf als anglikanischer Geistlicher, aber noch keine Berufung. Sie vernahm er 1833 auf seiner ersten Italienreise. Für Rom konnte er damals keine Begeisterung empfinden. Auf Sizilien wurde er krank, todkrank befürchtete der Diener. "Ich werde nicht sterben", sagte Newman. Drei Wochen lag er im Fieber. Dann setzte er sich aufrecht ins Bett und weinte bitterlich. Newman war mit dem Tränencharisma gesegnet. Er weinte über die Dunkelheit seines bisherigen Lebens, die tiefe Nacht der Heimatlosigkeit. Er weinte über seinen Stolz und die bewegende Erfahrung, dass er auf diesem dunklen Weg des Lebens vom Licht begleitet gewesen war. Dem Diener gegenüber konnte er über diese Erfahrung von Führung und Geleit nicht sprechen. Er sagte nur: "Ich habe ein Werk in England zu vollbringen." Das war die Stimme seines Schutzengels. Sie erinnert jeden Menschen an die nur ihm anvertrauten Talente. Wer ihr nicht folgt, wird an Leib und Seele krank.
"Ich habe einen Auftrag!" oder "Ich habe eine Sendung!" – dieser Satz führt aus Lethargie und Depression zum Sinn des Lebens. Wenn Christus mit den Engeln wiederkommt, dann geht es allein um die Frage nach der Treue zur eigenen Berufung.
"Lead, kindly Light"
Drei Wochen musste Newman in Palermo auf ein Schiff warten. Dann fuhr ein Boot mit einer Ladung Orangen in Richtung Marseilles. Der Aufbruch fand in der Windstille der Straße von Bonifacio eine Unterbrechung von sieben Tagen. Newman nutzte sie und schrieb Gedichte, darunter jenes berühmte Lied "Lead, kindly Light": "Führ, liebes Licht, im Ring der Dunkelheit führ du mich an". Es beginnt mit der bilderreichen Beschreibung seiner Krise und endet mit einem neuen Leben, da "morgendlich der Engel Lächeln glänzt am Tor, / die ich seit je geliebt, und unterwegs verlor."
John Bacchus Dykes (1823–1876) hat später dieses Engellied vertont. Es hat eine bewegende Wirkungsgeschichte wie Jahrzehnte später Dietrich Bonhoeffers "Von guten Mächten" im deutschen Sprachraum. Unter Tage eingeschlossene englische Bergleute und Gefangene im KZ Ravensbrück sangen es. Das Engellied gehörte zu den letzten Gesängen auf der Titanic und gab Menschen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges Trost.
Im Cofton Park von Birmingham zitierte Benedikt XVI. eine weitere Engeldichtung des Kardinals. "Der Traum des Gerontius" (1865) erzählt die Geschichte einer Seele und ihres Schutzengels bis zur Vollendung beider Leben im Himmel. "Ich soll auf meinem Posten ein Engel des Friedens, ein Prediger der Wahrheit sein", sagte der Papst. Engel waren für Newman nicht nur Vorbilder, Seelenbegleiter, Boten der Fürsorge und Vorsehung. Dem Zeitalter des aufkommenden Materialismus hielt er das Bild einer durchseelten Schöpfung entgegen:
"Ich sehe die Engel auch als die eigentliche Ursache der Bewegung, des Lichtes, des Lebens, dieser Grundtatsachen der physischen Welten an", lehrte Newman. Die Natur selbst und ihre Gesetze offenbarten ihm die Schönheit Gottes. "Aber jedes Lüftchen, jeder Strahl und Licht und Wärme, jedes Aufschimmern von Schönheit ist gleichsam nur der Saum des Gewandes, das Rauschen des Kleides jener, die Gott von Angesicht zu Angesicht schauen."
Zur größeren Ehre Gottes
In seiner berühmten Jenseitsreise "Der Traum des Gerontius" bedient sich Newman des Bildes rauschender Wasser, um Gottes Gegenwart im Lobpreis der Engel anzudeuten. Als die Seele nach dem Tod von ihrem Schutzengel in den Himmel geleitet wird, vernimmt sie einen geheimnisvollen, mächtigen Klang:
"A grand mysterious harmony:
It floods me, like the deep and solemn sound
Of many waters."
Die Präraffaeliten, mit ihrer Vorliebe für Engel und Heilige, haben in Newman einen Weggefährten erkannt. John Everett Millais (1829–1896) ließ sich vom Rauschen der himmlischen Wasser zu dem Gemälde "The sound of many waters" (1876) inspirieren. 1881 portraitierte er Newman im herrlichen Gewand aus Kardinalpurpur. Das Bild zeigt einen gütigen alten Mann mit jenem offenen Blick, der in die Tiefen des Herzens zu schauen scheint. Edward Elgar (1857–1934) komponierte auf der Grundlage von Newmans Seelendrama ein berühmt gewordenes Oratorium (1900). Als praktizierender Katholik schrieb er sein Werk "ad maiorem Dei gloriam", zur größeren Ehre Gottes.
Voll Liebe zum Himmlischen, dennoch geerdet
Schutzengel begleiten den Menschen unsichtbar durch das irdische Leben. Erst nach dem Tod kann die Seele ihren Begleiter schauen und entsprechend begrüßen:
"Mein Schutzengel, sei gegrüßt!"
"My Guardin Spirit, all hail!"
Newman hatte die Kirchenväter studiert und kannte die himmlische Hierarchie, an deren höchster Stelle die Seraphim stehen. Mögen sie Gott näher stehen, mögen sie tiefer in die Geheimnisse des Schöpfers und der Schöpfung eingeweiht sein, vom Menschen verstehen die Schutzengel mehr als die höchsten Engel:
"Schutzengel weiß durch liebendes Verstehn
Mehr als der Seraph von dem erlösten Volk."
Das ist nicht ohne Humor gesprochen und vielleicht auch mit einem Seitenhieb gegen eine Hierarchie, die den Kontakt zur Basis verloren hat. Trotz seiner Liebe zu den Himmlischen war Newman geerdet. Er führte ein sehr bescheidenes und demütiges Gebetsleben. So groß seine Ausstrahlung auf Künstler und musische Menschen war, so sehr wurde er von Kreisen der anglikanischen und katholischen Kirche in England geschnitten. Papst Leo XIII. erkannte Newmans Größe und hob ihn aus dem Stand eines einfachen Priesters in den Rang der Purpurträger.
Zwischen Fegefeuer und Gericht
Die Jenseitsreise der Seele mit ihrem Schutzengel geschieht zeitgleich mit dem Totengebet, das der Priester am Leichnam spricht: Die Heiligen und die Engel mögen nun kommen und die Seele in Abrahams Schoß leiten:
"Subvenite sancti Dei,
occurrite angeli Domini"
Der Schutzengel verweist die Seele auf diesen Gesang:
"Das sind der Freunde Stimmen um dein Bett;
Das 'Subvenite' sprechen sie nun,
Das Echo tönt herauf."
Doch zwischen Fegefeuer und Gericht toben die Dämonen und versuchen die aufgeschreckte Seele wie wild gewordene Hunde mit Scheinangriffen einzuschüchtern.
Newmans Todesphantasien
Newmans Engelwelt ist auch Anselm von Canterbury verpflichtet. In "Cur Deus homo", seiner Schrift über die Menschwerdung, entwarf der Kirchenvater ein Panorama jener Frühzeit der Schöpfung, aus der Luzifer und seine Engel stürzten. Über die Zahl der gefallenen Engel konnte oder wollte Anselm keine Angaben machen. Aber er glaubte zu wissen, dass die leeren Ränge im Himmel gefüllt werden mussten. Deshalb schuf Gott den Menschen. Nach dieser Restitutionstheorie sollten die Menschen eines Tages die leeren Ränge im Himmel einnehmen. Wie sehr die Dämonen heulen und die Seele zu verunsichern suchen, sie haben doch keine Macht. Mit dem Schutzengel an seiner Seite lässt sie die Seele links liegen.
John Henry Newman war 63 Jahre alt, als ihn jene Todesphantasien bedrängen, die zur Niederschrift der Jenseitsreise führten. Gleichzeitig schrieb er an seiner berühmt gewordenen Autobiografie "Apologia pro vita sua" – "Geschichte meiner religiösen Überzeugungen". Autobiografisches Schreiben tut offensichtlich der Seele gut. Newman lebte noch gut drei Jahrzehnte. Papst Franziskus erhob ihn mit der Heiligsprechung im Jahr 2019 zur Ehre der Altäre. Die Inschrift auf Newmans Grabstein bezeugt den Weg der Seele ins Licht der Wahrheit, deren Abglanz doch in allen Schatten und Bildern erkennbar ist:
"Ex umbris et imaginibus in veritatem"