Hochsommerliche Hitze hat Europa fest im Griff. Die Trockenheit setzt der Natur und den Menschen zu. Alles dürstet nach Wasser. Auch die Bibel ist voller "Durstgeschichten". Diese haben aber immer einen doppelten Boden und verbinden physischen mit seelischem Durst.

Während wir Mitte August Mariä Himmelfahrt feiern, wird in Italien der Ferragosto – die Ferien des Augusts – zelebriert. In der abnehmenden Sommerhitze wird in Rom gebetet, gefeiert, sich in Ostia ins Meer geschmissen, während Europa vor Hitze flirrt. In Bagdad wurden 51 Grad Celsius gemessen. Teheran geht das Wasser aus. Die Klimaanlagen müssen abgestellt werden. 15 Millionen Bewohner beklagen, menschenwürdiges Leben sei kaum noch möglich. Der Orient glüht vor Durst – vor elementarem Durst.

Durst geht lebensbedrohlich aufs Ganze – kann nicht einem bestimmten Sinnesorgan oder einer körperlichen Struktur zugeordnet werden. Kein Wunder also, dass das Verdursten zum Abgründigsten und Schlimmsten in der Kulturgeschichte zählt.

Durst ist anders als Finsternis oder Lärm oder Gestank, die ein einzelnes Sinnesorgan befallen. Wenn es dunkel wird, bleibt das Hören, die Ohren lassen sich zuhalten, Gestank wird adaptiert und trägt alsbald nicht mehr auf. Nicht so beim Durst. Durst geht lebensbedrohlich aufs Ganze – kann nicht einem bestimmten Sinnesorgan oder einer körperlichen Struktur zugeordnet werden. Kein Wunder also, dass das Verdursten zum Abgründigsten und Schlimmsten in der Kulturgeschichte zählt. Klassisch: Tantalos, der im Totenreich ewige Qualen erleiden musste durch unstillbaren Durst.

Durst – eine Urszene – Hagar in der Wüste (Gen 21,14-21). Ein zweites Mal wird sie von Abraham in die Wüste geschickt, dieses Mal mit ihrem Sohn Ismael an der Seite, zwar mit Proviant ausgestattet, der aber das Elend nur herauszögert. Was richtet schon ein "Schlauch mit Wasser" aus, wenn eine Mutter mit ihrem Kind in der Wüste "umherirrt" (Gen 21,14f.)? Es dauert nicht lange, und das Wasser geht aus. Durst geht aufs Ganze bei Hagar, bei Ismael, fährt in die Emotionen ein, macht überspannt. Hagar legt ihren Sohn nicht fürsorglich unter einen Strauch. Dazu ist sie nicht mehr in der Lage. Nein, sie "wirft ihn" darunter, will nicht mit ansehen, wie erstirbt (Gen 21,16). Ismael vor lauter Kummer und Schmerz weggeworfen. Als ihr Sohn kurz vor dem Verdursten ist, schickt Gott einen Engel und zeigt ihr einen rettenden Brunnen und erneuert, wie bei der ersten Wüstenerfahrung, die Verheißung großer Nachkommenschaft.

Belagerte Emotionen

Der italienische Rokokomaler Giambattista Pittoni hat diese Durst-Erfahrung in ein Ölbild gebannt. Und zwar genau den Kipppunkt, an dem die Aussicht auf Durststillung bei Hagar schon angekommen ist, beim verdurstenden Kind aber noch nicht. Das Gemälde ist mit einem in verschiedenen Blaufarben irisierenden Himmelhintergrund grundiert. In der linken Bildmittel die Verständigungsszene zwischen Engel und Hagar in rosige Farben getaucht. Links im Bild unten ein in das Leben aushauchendem Aschgrau gefasster, danieder liegender Ismael. Rosarot und Aschgrau.

Durst in der Wüste – elementar, geradezu klassisch beim Wüstendurchzug Israels. Das Volk lagert bei Refidim und hat kein Wasser (Ex 17). Kinder und Vieh drohen zu sterben (Ex 17,3). Durst geht auch hier aufs Ganze, belagert auch hier die Emotionen. Verdursten zerstört erhoffte Lebensperspektiven. Das Volk murrt. Mose hat Angst, gesteinigt zu werden; auch er gewiss durstig, schreit zu Gott. (Ex 17,4). Der Ausgang dieser Geschichte, die als Murrerzählung in Massa und Meriba in die Perikopenüberschriftshistorie gegangen ist, ist bekannt. Mose schlägt mit einem Stab gegen einen Felsen am Horeb – und Wasser fließt.

Durstgeschichten über Durstgeschichten

Eine solche Durstgeschichte im Neuen Testament, überliefert im Johannesevangelium, geht so: Jesus und seine Jünger rasten an einem Brunnen, "um die sechste Stunde", high noon also, Mittagsglut da. Es ist heiß. Die Sonne brennt auf die Glieder. Der Ort, Samaria. Eine Frau tritt an den Brunnen, und Jesus bittet sie: "Gib mir zu trinken!" Diese Bitte löst einen der für das Johannesevangelium typischen Gesprächsgänge aus, in dem die Semantik bei der Gesprächspartnerin hermeneutisches Staunen auslöst und religiös davongaloppiert vor der Frage, wer an welchem Brunnen eigentlich Wasser schöpfen darf, über die Frage, welches Gerät dafür nötig ist, bis zur elementaren Frage von "lebendigem Wasser". So rückt jenes Schlüsselelement in den Fokus, das lebt, belebt, lebendig macht (hydor zon), so dass physische Durststillung, Lebensdurst, Durst von Leib und Seele raffiniert ineinandergreifen. Auch dies eine Erzählung von Durst und Durststillung, die aufs Ganze geht.

Jesus selbst durstig, menschlich voller Durst, teilt den Durst in der Wüste der Lebenslagen, er, der im Namen Gottes unterwegs ist, um Lebensdurst zu wecken, den Gott Tag für Tag wecken will, um ihn gemeinsam mit Menschen zu stillen. Allerdings: Um was für eine Art der Durststillung geht es eigentlich? Ist Durststillung das erklärte Ziel?

Durst geht aufs Ganze, am Ende des Verdurstens, Einsamkeit und Trostlosigkeit.

Eine weitere Durstszene gibt zu denken: "Mich dürstet!", ruft Jesus am Kreuz (Joh 19,28). Elementarer Durst, Lebensdurst kurz vor dem Tod! "Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Ysop und hielten ihm den an den Mund". Es ist Essig mit dem Essig in Sachen Durststillung. Diesen Durst kann niemand stillen. Auch Gott nicht. Auch Wasser hätte wohl keine Perspektive gehabt. … "Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht. Und neigte sein Haupt und verschied." Das Johannesevangelium liest dies als Erfüllung eines Psalmwortes, nämlich Psalm 69,22. "Sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken für meinen Durst". Dieses Wort ist eingebettet in vergebliche Suche des Psalmbeters nach Empathie und Trost, "Ich warte, ob jemand Mitleid habe, aber da ist niemand, und auf Tröster, aber ich finde keine" (Ps 69,21). Durst geht aufs Ganze, am Ende des Verdurstens, Einsamkeit und Trostlosigkeit.

Der sterbende, durstige, lebensverdurstende Jesus am Kreuz, der durch und in dieser Situation Allesentscheidendes vollbringt. Wie dem nachzusinnen ist, das schlüsselt womöglich in Resonanz zu Psalm 69 der Wochenpsalm für den 9. Sonntag nach Trinitatis auf.

"Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein Leib verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist. … 4 Denn deine Güte ist besser als Leben" (Ps 63,2.4).

Mehr als schieres Leben

Durst geht aufs Ganze, auf den Leib, die Seele. Und aus der menschlichen Seele, dem Leib, der die Wüstenlage erkannt hat, entspringt der Ruf, der Schrei nach Gott in der merkwürdigen Einsicht, dass Gottes Güte besser als Leben sei. Wie das? Ist nicht das Leben, der Schutz des Lebens das Höchste der Gefühle? Ist nicht deshalb der Durst das, was überwunden sein will? Was ist das für eine Güte, die dem Leben nochmals überlegen ist?

In der Perspektive des gekreuzigten und Auferstandenen Jesus Christus ist es jene göttliche Güte, die mehr ist, als schieres Leben, als permanente Durststillung. Es ist jene Güte, die als Leben in den Tod geht und im intimen Durchleiden des Verdurstens, des Todes, vom Tod mitgenommen den Tod mitnimmt und überwindet. Es ist so gesehen eine Güte, die – insofern sie das von Tod und Todesüberwindung gezeichnete göttliche Leben qualifiziert – mehr als Leben verkörpert, indem sie auch unseren Todeszonen nicht fernbleibt, sondern Lebensdurst nach mehr als Leben entfacht.

Ist Europa im Begriff zu verdursten? Man wünschte ihm diesen Lebensdurst nach mehr als Leben.

Zurück ins Europa 2025 – nach Ferragosto. Ein erfrischender Sprung ins Wasser wie beim Strand in Ostia bei Rom steht nicht in Aussicht. Europa flirrt, sein Zustand ist deutlich anders als der einer rosarot hoffnungsfrohen Hagar oder eines aschgrauen Ismael. Engel, die göttliche Ansagen machen, sind nicht zu vernehmen. Europa erscheint eher trotz aller kommunikativen und ökonomischen Geschäftigkeit wüstenglühend müde und erschöpft in der Mittagshitze gesellschaftlicher und politischer Dynamiken – und unterwegs in ihm ein chronisches Murren. Ist Europa im Begriff zu verdursten? Man wünschte ihm diesen Lebensdurst nach mehr als Leben.

Das 1911 in Worte gebrachte Proslogion aus der Feder von Ernst Stadler könnte jedenfalls in diesen Tagen nicht nur für den Einzelnen, sondern für Europa zur täglichen Meditationsübung werden:

"Anrede
Ich bin nur Flamme, Durst und Schrei und Brand.
Durch meiner Seele enge Mulden schießt die Zeit
Wie dunkles Wasser, heftig, rasch und unerkannt.
Auf meinem Leibe brennt das Mal: Vergänglichkeit.
Du aber bist der Spiegel, über dessen Rund
Die großen Bäche alles Lebens gehen,
Und hinter dessen quellend gold’nem Grund
Die toten Dinge schimmernd aufersteh'n."
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