Unter KetzerjägernÜber eine Wimmelbild-Geschichte von Jorge Luis Borges

Niemand hat das Fach beschwingter charakterisiert als der Weltautor aus Argentinien. "Ein Zweig der phantastischen Literatur" sei die Theologie. Angesichts mehrfachbödiger Wirklichkeiten, mit denen wir es allemal zu tun haben, mag hier durchaus auch ein Kompliment herausklingen. Zugleich steht diese Form der Wissenschaft stellvertretend für mittlerweile in anderen Kontexten gängiges Aufspüren und Skandalisieren abweichender Positionen. Wie reagiert der Höchste darauf?

Jorge Luis Borges (1899-1986) litt an einer Augenkrankheit und erblindete schließlich völlig. (Foto von 1963)
Jorge Luis Borges (1899-1986) litt an einer Augenkrankheit und erblindete schließlich völlig. (Foto von 1963) © Alicia D'Amico (1933-2001), Public domain, via Wikimedia Commons

I.

Zauberer? Doch, die gibt es! Jorge Luis Borges etwa war so einer. Zur Inspiration für viele andere Schriftsteller wurde er damit. Jene "magischen Realisten" besonders, die sich dem "real maravilloso" zuwandten (wie ein Kollege aus Kuba das nannte, Alejo Carpentier), dem wundersamen Anteil, der allem vermeintlich Gesichert-Wirklichen innewohnt.

Auf sparsamste Weise brachte Borges doppel-, nein: mehrfachbödige, labyrinthische Welten hervor, und tiefere als solche, in denen wir uns so fraglos tummeln. Wer auch nur einmal etwas von diesem Kabbalisten der Moderne aus Buenos Aires aufmerksam gelesen hat, dürfte Zustimmung hier kaum schwer fallen.

Unverwechselbar "borgesian" – wie sich, analog zu "kafkaesk", im Englischen eingebürgert hat – sind diese schwindelerregenden Geschichten. Mit seinem (so über sich selbst) "der Literatur und (gelegentlich) der metaphysischen Verblüffung gewidmeten Leben" zählt der Autor zu den weltweiten Fab Six seines Landes, neben Diego Maradona oder Lionel Messi, neben Evita Perón, Che Guevara wie Jorge Mario Bergoglio, der ihn bewunderte).

II.

"Ich weiß nicht, ob ich Christ bin", gab Borges zu Protokoll, sowie, den Glauben betreffend einmal: dass "diese Art von Ding vielleicht" unbemerkt in ihm arbeite. In der Nacht vor seinem Tod hat er womöglich noch die Absolution empfangen.

Obwohl ihr Urheber wohl Agnostiker war, berühren Texte von ihm nicht selten Religiöses. In Geschichten, die das zum Teil von vornherein zu erkennen geben (wie Drei Fassungen von Judas etwa, "eine christologische Phantasie", oder Das Evangelium nach Markus), Versen auf Sätze des Neuen Testaments auch, allenthalben aber durch enorm viel an Unterfütterung. Wie sollte "lo real maravilloso" auch ohne Antenne für derlei auskommen?

III.

Diesem Umfeld gehört auch Die Theologen zu, eine kurze Erzählung unter den anderthalb Dutzend des Bandes Das Aleph (1949) einem Stern aus der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Deren Titelgeschichte (so viel Abschweifung darf sein, wo von Borges gehandelt wird) gilt als exemplarisch für seine realitätsaufsprengende Kunst.

Um den augengleich leuchtenden "Punkt" im "Winkel des Kellergeschosses" eines Hauses der argentinischen Hauptstadt geht es. Des Universums Sämtlichkeit läuft hier zusammen, was immer dort vorhanden ist, war und sein wird. Unverkürzt spiegelt sich deren immenses Netz von Details, Perspektiven und Bedeutungen darin, die Menge aller jemals möglichen Zeichenkombinationen. Göttliches Wissen, das nicht ansatzweise beschreibbar ist.

"Aleph" lautet der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, ein Symbol zugleich für den "Grund, daraus alle Dinge sind herkommen und darinne sie stehen" (wie "Jahwe" durch den frühbarocken Kabbalisten Jacob Böhme aus Görlitz paraphrasiert wurde). Eine unendliche Intelligenz, deren vollkommener Schau nichts entgeht. Unheimlich ist sie.

IV.

Womit haben wir es auf den wenigen Seiten von Die Theologen zu tun? Wie immer bei Borges entfalten sie ein Wimmelbild von Sinnbezügen und Verknüpfungen, um manche Ecken herum, mit unerwarteten Kippfiguren. Gott unter anderem ist hier enthalten, "das Problem Zeit" (hypothetisch kausale oder simultane) samt der "Ewigkeit", das Zustandekommen bzw. Verfehlen von Wissen, der Mensch als Doppelwesen. Eingebunden in all das (und noch mehr) gelehrte Annotationen zur "Häretikerforschung" – so anderweitig einmal wie nebenbei. Doch was ist für diesem Autor schon nebenbei!

V.

In die Spätantike mit ihren spirituellen Fraktionierungen führt die Handlung. Aurelian, "Koadjutor von Aquileja", und Johannes von Pannonien, zwei Gottesgelehrte, streiten gegen die aufgekommene Ketzerei der "Monotonoi" mit ihrem zirkulären Zeitbegriff. Nicht nur im Vollgefühl des Rechthabens tun sie dies. Eigentliche Triebkraft von Aurelians Publikation ist der Wettbewerb mit Johannes. Auch jetzt reicht aber allein die rhetorisch weniger aufwendige, doch intellektuell schärfere Schrift des Pannoniers hin, um dem Oberhaupt der Ketzer den Scheiterhaufen zu bereiten.

Umgehend breitet sich eine neue Häresie aus, die der "histriones" (bzw. "speculares" bzw. "absymales" bzw. "simulacra" bzw. "formae", auch "Kainiten" genannt), mit "zahlreichen und voneinander abweichenden Mythologien". Just in einem "Gebet" von Johannes' Stellungnahme gegen die "Monotonoi" stößt Aurelian auf eine Stelle, die ihm vor deren Auftreten bereits kainitische Positionen zu unterstützen scheint. Für seine Intrige um "Beistand seines Schutzengels" flehend, denunziert er den Rivalen. Dessen Pochen auf "strenge Orthodoxie" mutiert unter den gewandelten Umständen nun zum Frevel. Außerdem begeht er "den ungeschicktesten Fehler, indem er seinen Richtern geistvoll und ironisch" entgegentritt. Das geht gar nicht. Der einstige Schreibtischtäter wird kurzerhand selbst verbrannt.

Wie "von einer unheilbaren Krankheit geheilt", rechtfertigt Aurelian, wenn auch mit gediegen angefochtenem Gewissen, seine Anzeige fortan. Schließlich wird er ebenfalls vom Feuer gefressen, nach einem durch Blitzschlag verursachten Brand in der Natur.

VI.

Personal und Szene sind nicht historisch, sondern der Imagination entstiegen. Um sie rührt Borges eine Mixtur von Tatsachen und Erfindungen an, alternativen Fakten sozusagen, weil er weiß, wie leicht das Empirische unter verschiedener Warte wie Konstellation zu irrlichtern beginnt.

Lustvoll wird ein komödiantisches Verwirrspiel inszeniert, das mehr als die Hälfte der Erzählung einnimmt. Mit teils entlegensten Bezügen zitiert der Erzähler (auch diese Liste muss sein!) aus dem Neuen Testament, "den hermetischen Schriften" und dem Zohar, bemüht er geistliche wie weltliche Autoritäten – dort Origenes, Augustinus, Johannes Damascenus wie die Patrologia Latina von Migne (in der Aurelian vertreten sein soll, während von des Pannoniers Werk so gut wie nichts überkam), hier Cicero, Plinius und Plutarch, auf der einen Seite Karpokrates und die Topographia christiana des Cosmas, Demonsthenes auf der anderen, mit flüchtigem Stopp im englischen 17. Jahrhundert bei Thomas Browne, die Divergenz zwischen Wilhelm Bousset und Adolf von Harnack nicht zu vergessen, ihren Zeitgenossen Leon Bloy ferner.

Häufig gesellen sich den dokumentierbaren fiktive Sachverhalte und Gestalten bei (wie ein Konzil von Pergamon dem Zweiten von Konstantinopel oder Histrion von Berenike dem Theopompos). Der alttestamentliche König Nebukadnezar gerät in "Nitrien" (wo immer es liegen mag) zum bizarren Anhänger der Kainiten. Einen Theologen namens Erfjord gab es zwar nicht, rätselhaft-assoziativ kommt er dafür aber sonst noch bei Borges vor.

Faktenchecker treibt dieser Autor zur Hirnschmelze, und das mit über Gelächter hinausreichenden Hintersinn. Nonsens wie Ernsthaftestes in allerlei Schattierungen sind seinem Diskurs eingestiftet, und wie beim richtigen Leben widersetzen sie sich dem Versuch, fein säuberlich so etwas wie "Wahrheit", exklusive gar, zu entknäueln.

VII.

Als "phantastische Disziplin" bezeichnet der Erzähler einer fast parallel entstandenen Geschichte (zum Nachlesen: Deutsches Requiem) die Theologie. Sintemal Gelehrte aus Tlön (dem ortlosen Land der Geschichte Tlön, Uqbar, Orbis Tertius) "das Erstaunen" suchen, halten sie "die Metaphysik" insgesamt "für einen Zweig der phantastischen Literatur". Nach den Maßstäben des Autors (und – wir erinnern uns! – manchmal entsprechenden Verblüffers) vermag dies durchaus ein Ritterschlag zu sein (ambivalent schillernd obschon), Zeichen für (s)eine amour fou zu dem Fach vielleicht.

VIII.

Doch öffnet Borges letztlich nicht bloß ein Kapitel von anno dunnemals, denn Scheiterhaufen: wo in der Gegenwart sollten sie denn noch anzutreffen sein? Nun ist er der Letzte, dessen Texte sich von erhobenen Zeigefingern in Anspruch nehmen ließen. Über simpel ausmünzbare Aussagen gehen seine hakenschlagenden Komplexitätsetüden (Gott sei Dank!) weit hinaus. Gleichwohl: gewisse Denkprozesse in aktueller Hinsicht anzustoßen vermag die zentrale Handlung seiner Geschichte mit dem Treiben von Theologie als stellvertretendes Tableau am Rande doch.

Ketzerei ist Abweichung von einer als verbindlich aufgepflanzten Position. Je mehr diesfällig definiert wird (darauf wies während der Reformation Erasmus hin), desto üppiger treibt die Heterodoxen-Macherei ihre Blüten. Und stimmt es etwa nicht, dass die Gewissheit, Einzig-Richtiges zu vertreten, leicht aggressiv macht, mit moralischem Prädikat noch dazu?

Unsere Häresiarchen heute sind freilich andere. Gerade in einer polarisierten Zeit wäre angesichts von Menschen, die völlig anders ticken als wir, doch zunächst einmal das Bemühen um Differenzierung geboten, d.h. der Wille zur Gerechtigkeit, statt sie umstandslos als Schädlinge der guten Sache ganz und gar in "schwärzestes Licht" zu tauchen. Mehr jedoch dominiert der Gestus, sie einzuschüchtern, kaltzustellen und rauszuwerfen, denn (Gertrude Stein variierend) ein Ketzer ist eben ein Ketzer ist eben ein Ketzer – und nichtsnichtsnichts sonst.

Die schönen Tage ausbedungener Geltung durch Argumentation (sollte es sie überhaupt je gegeben haben), waren ohnehin wohl nur Seifenbläserei und scheinen passé. Von wegen Debatte oder gar bloß Meinungsaustausch! Auf die Markierung des Feindes kommt es an! Trigger mit stigmatisierender Wirkung genügen hierzu völlig.

Bei sehr unterschiedlichen "Rechtgläubigkeiten" lässt sich das beobachten. Die äußere Macht indes, auf deren Mobilisierung jeweils spekuliert wird, ist keineswegs gleich. Auch was die Situation unter Christen betrifft, gibt weithin nicht eigentlich Religiöses den Takt vor. "Getrost" dürfe man "Zweifel an jedem Dogma" äußern, doch wehe, er nagt an der Richtigkeit einzelner politischer Haltungen! Was Heinrich Böll 1958 schrieb, hat sich inzwischen potenziert. Genug davon!

IX.

Kurz bevor die Flammengarben über Johannes zusammenschlagen, lesen wir bei Borges von Aurelian: er "sah zum ersten- und letztenmal das Antlitz des Verhassten. Es erinnerte ihn an jemanden, doch konnte er nicht genau sagen, an wen." Authentisch und Falsch, Gut und Böse: sie liegen in jedem selbst dicht nebeneinander. Der mehr als oberflächliche Blick auf den anderen aber entlässt uns immer mit Fragen – und günstigenfalls mehr als bloß einer Erkenntnis.

Zu seiner Erzählung merkte der Autor an, es handle sich um "einen eher melancholischen Traum über die persönliche Identität". Gen Ende schon. Ohne Kommentar sei deshalb ihr finaler Absatz angefügt. Den kurzen Prolog der Handlung spiegelt er außerdem, in welchem die nach Europa vordringenden "Hunnen" unter anderem Bücher zerstören, "vielleicht aus Furcht, in ihren Lettern versteckten sich Blasphemien auf ihren Gott, der ein eisernes Krummschwert war". Sollte es beim Höchsten darauf hinauslaufen?

X.

"Der Schluss der Geschichte lässt sich nur metaphorisch wiedergeben, da er im Reich der Himmel spielt, wo es keine Zeit gibt. Vielleicht müsste man sagen, dass Aurelian sich mit Gott unterhielt, und dass Er sich für Glaubensdifferenzen so wenig interessierte, dass Er ihn für Johannes von Pannonien hielt. Das hieße jedoch dem göttlichen Geist eine Verwechslung ansinnen. Richtiger ist, wenn wir sagen, dass Aurelian im Paradies zu der Einsicht kam, dass in den Augen der unerforschlichen Gottheit er und Johannes von Pannonien (der Orthodoxe und der Ketzer, der Hassende und der Gehasste, der Kläger und das Opfer) ein und dieselbe Person darstellten."

Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen