An zahlreichen Stellen ruft das Neue Testament zur Nächsten- und zur Bruderliebe auf. Doch mit dieser Liebe ist es so eine Sache, denn so sehr der Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe auch einleuchten mag: verordnen lässt sie sich nicht. Aber sie kann sich ganz unaufdringlich einstellen, wo sie mit der Erfahrung von Geborgenheit einhergeht.

"Bruderliebe erzählt von einem Wunder, erarbeitet durch Intuition, Kreativität und Ausdauer", heißt es im Aufmacher zum Dokumentarfilm "Bruderliebe", der 2019 ins Kino kam. Der Film erzählt von den Brüdern Michael und Markus Becker. Markus verunfallt. Ein Auto fährt ihn von hinten an, schleift ihn ein Stück mit. Er schlägt mit seinem Kopf auf eine Bordsteinkante. Ein Koma ist die Folge. Die Prognose ist schlecht. Fünf Tage werden ihm von den Ärzten gegeben. Während die Familie nach einer Familienkonferenz schon die Beerdigung organisiert, weigert sich Michael, die Hoffnung aufzugeben, und hält von seiner Seite Kontakt zum Bruder, baut Brücken zum entschwunden erscheinenden Bewusstsein von Markus, holt ihn letztlich aus dem Wachkoma heraus.

Viel geht allerdings nicht: Michael nimmt seinen ans Bett und den Rollstuhl gefesselten Bruder zu sich nach Hause und richtet sein Leben neu aus – ganz auf seinen Bruder Markus so, wie er jetzt ist. Michael sagt:

"Ich nehme das Wort Liebe nicht so oft in den Mund. Es ist aber genau das Wort, wenn man sich teilt oder wenn man sich verstanden fühlt. Ja, dann ist das Liebe. Wenn man sich verstanden fühlt, hat man auch ein Zuhause."

Dieses Zuhause will er ihm geben. Er empfängt es aber auch von ihm. Bruderliebe, so sagt Markus, "heißt im Prinzip: würdiges Zuhausesein." Mehr noch: Bruderliebe führe dazu, die Hoffnung nicht aufzugeben. Michaels gegen die Realität rebellierende Hoffnung geht dahin, dass Markus wieder laufen kann, wieder sprechen kann, selbstständig in seinem Umfeld unterwegs ist. Markus kann nur da sein, wenn Michael für ihn ganz da ist, das ist Michaels Überzeugung.

Geschwister, christlich und ambivalent

Julia Horn, die Dokumentarfilmerin, hat die Brüder zehn Jahre lang begleitet. Sie zeigt Phasen, in denen Michael nicht mehr weiter weiß und weiter kann, aber eben die Hoffnung nicht aufgibt, den Menschen, der sein Bruder ist, für das Leben zu bewahren, ihm Lebensperspektiven zu bieten, mit ihm zu lachen. Bruderliebe, Geschwisterliebe – letztlich eine rebellierende Liebe, die die Hoffnung nicht aufgibt, dass Menschen, die aus dem Leben fallen, ins Leben zurückfinden können.

Allerdings ist es so eine Sache mit den Geschwistern – auch unter christlichen: Man wird sie nicht los. Man hat sie nicht selber ausgesucht. Sie sind nicht zwingend die besten, nicht einmal die zweitbesten Freunde oder Freundinnen. Was miteinander verbinden mag, ist die gemeinsame Suche nach Gott, der geteilte Glaubenszweifel, das gemeinsam gefundene Vertrauen. Dafür gute Ausdrucksformen zu finden, ist eine Aufgabe. Gottesdienste mögen ein Ort dafür sein. Denn spätestens beim Friedensgruß, beim Gang zur Kommunion oder zum Abendmahl, kommt es zum Zeichen geschwisterlicher Verbundenheit, einem Handschlag, einer Umarmung. Nebeneinander vor Gott.

Gottes freundliche, aber bestimmte Weisung

Der Verfasser des Johannesbriefs geht auch nicht davon aus, dass sich das von selbst versteht. Die christliche geschwisterliche Liebe verdankt sich einem Gebot. Dieses Gebot ist nun keine kirchliche Verordnung, keine Weisung, die sozial-diakonisch oder sozialethisch auf die Schwestern und Brüder in der Gemeinde ausgerichtet ist. "Liebt Euch gefälligst!" So nicht. Es ist Gottes Gebot, Gottes freundliche, aber bestimmte Weisung. Genauer besehen ist es ein konditionales Gebot. "Wer Gott liebt, soll auch seine Geschwister lieben" schlägt die Basis-Bibel als Übersetzung vor.  

Mit der glückenden Kommunikation des Evangeliums, die Glaube entfacht, verstärkt und vertieft, ist nicht "automatisch" die geschwisterliche Liebe mit gesetzt. Gott gebietet, die beiden Liebessphären miteinander zu verknüpfen.

Im Wochenspruch für den 19. Sonntag nach Trinitatis liegt die Sache nochmals anders. Gott gebietet in der ihm eigenen Bestimmtheit, dass die Gottesliebe mit der geschwisterlichen Liebe einhergehen soll. Mit der Geschwisterliebe ist es lebensdynamisch also ein wenig komplizierter, als dass bloß gesagt werden könnte: Also wenn Du ein allerchristlichster Misanthrop bist, dann kann in Dir ja überhaupt keine Gottesliebe sein. Mit der glückenden Kommunikation des Evangeliums, die Glaube entfacht, verstärkt und vertieft, ist nicht "automatisch" die geschwisterliche Liebe mit gesetzt. Gott gebietet, die beiden Liebessphären miteinander zu verknüpfen.

Blicken wir ins 19. Jahrhundert – ein Jahrhundert, reich an Begeisterung für die Bruderliebe. Insbesondere in den Dokumenten der Freimaurerlogen ist sie ein elementares Moment. In der Bauhütte, einem "Organ für die Gesamt-Interessen der Freimaurerei", wird Mitte des 19. Jahrhunderts pathetisch ein Loblied angestimmt, das mit einer ganzen Katene an Verlautbarungen der Freimaurerlogen unterlegt werden kann. Dort heißt es, die Bruderliebe sei gerade dann, wenn sie unaufdringlich mitmenschlich daherkomme, also in der "stillen That … Segen bringend für die ganze Menschheit". Überhaupt sei sie eine "Oase, die um den ihr entströmenden Quell des Segens den frisch grünenden Zweig der Hoffnung, das Oelblatt des Friedens und Früchte für die Ewigkeit" erzeuge, mehr noch bilde sie wie "dem Planeten die Sonne," der Menschheit "einen erwärmenden Stern".

Bruderliebe als politischer Kampfbegriff

Dass mit dem dergestalt anthropologisch angehimmelten Momentum der Bruderliebe auch politisches Schindluder getrieben werden kann, das hat dann allerdings zehn Jahre zuvor Der katholische Hausfreund zu Protokoll gegeben. Im Blick auf die laizistisch von der Revolution angezettelte Fraternité wird dort revolutionskritisch-polemisch geurteilt:

"Wie sie aber mit ihren politischen Gegnern verfahren und worin da ihre Bruderliebe bestehe, das beweiset ein Blick auf … die erste franz. Republik. Aus reiner Bruderliebe wurden Tausende und Tausende jeglichen Standes, Geschlechtes und Alters geköpft, ersäuft ...".

Man bekomme es mit einer Bruderliebe zu tun, die meuchelnd "haust", folglich mit einer "wahre[n] Verhöhnung dieses Wortes". Geschwisterliebesschwüre sind nicht nur in laizistischem Zusammenhang toxisch. Auch von den todesähnlichen Zuständen, die eine nur verbal vorgetragene Geschwisterliebe in christlich kommunitärem Kontext in ihrer Perversion als sexualisierte Gewalt provoziert hat, muss dieser Tage in kirchlichem Zusammenhang die Rede sein.

"Ist es Bruderliebe? Onein!"

Zurück ins 19. Jahrhundert: Dort kommentierte der Landesrabbiner von Hessen-Nassau, Lazarus Levi Adler:

"Man hört in unserer Zeit besonders viel von Bruderliebe reden, von Menschen- und Nächstenliebe. Es ist auch wahr, dass sich die Lehre von der Brüderliebe verbreitet hat. Aber seine Anwendung? … Oder ist es Bruderliebe, wenn Diejenigen, welche reich und vornehm, sich keinen Wunsch versagen, während Anderen das Herz brechen will, weil sie Mangel und Not am Unentberhlichsten leiden müssen? … Ist es Bruderliebe, wenn Diejenigen, welche durch Geburt einen höheren Titel und Rang sich auszeichnen, mit Stolz auf andere Menschen herabsehen und sich für etwas Besseres halten, ist es Bruderliebe? Onein!"

Von religionskundiger Seite wird ganz offenbar diagnostiziert, dass von der geschwisterlichen Liebe zu reden das eine ist. Etwas ganz anderes aber in der Umsetzung derselben liegt. Den Zusammenhang zwischen Gottesliebe und Geschwisterliebe also mit einem Gebotszusammenhang herzustellen, zeugt von einiger johanneischen Weisheit. Ohne Gottesliebe, keine verlässliche christliche Geschwisterliebe. Ernst Troeltsch wird es in seinen Vorlesungen zur Glaubenslehre so sagen:

"Dabei ist die Bruderliebe nur das Korrelat der Gotteskindschaft, indem sie sich auf den Bruder sich beziehend als gleichfalls ein Gotteskind seiend oder werden sollend. Aus der Gemeinsamkeit des Vaters ergibt sich die Gotteskindschaft wie Bruderliebe."

Wer den Bruder nicht zu lieben vermag …

Der Sachzusammenhang zwischen Gotteskindschaft und einem Brüder- bzw. Geschwisterverhältnis scheint unbedingt zwingend zu sein und leuchtet ein. Aber wie gesagt: Ob sich über diese Geschwisterkonstellation auch gleich eine Geschwisterliebe einstellt, darf fraglich bleiben, auch wenn die frühere Exegese jedenfalls immer anderes mit Berufung auf den 1. Johannesbrief behauptet: "Liebe zum Bruder und Liebe zu Gott fallen insofern zusammen, als die Liebe zu Gott die Bruderliebe ohne weiteres mit sich bringt", meint Arthur Titius und erläutert:

"Denn Liebe zu Gott, die nicht mit Bruderliebe sich verbindet, gibt es nicht. Wer den sichtbaren Bruder nicht zu lieben vermag, der kann sicher den unsichtbaren Gott nicht lieben".

Es kann, wie der 1. Johannesbrief einprägsam einschärft, auch anders kommen: Wer nicht liebt, der bleibt im Tod. Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger", heißt es dort (1 Joh 3,14b.15a). Das ist eine klare Ansage, die womöglich aber wiederum die Pointe der alttestamentlichen Erzählung gründlich verfehlt, wird doch von Gott gegenüber dem vor Scham über den Totschlag seines Bruders umherirrenden Kain klargestellt, dass, "wer Kain totschlägt, … siebenfältig gerecht werden" solle. Gott versieht Kain mit einem Zeichen, "dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände" (Gen 4,15). Wunderbar genug: Gott schützt in einer göttlichen Schamoffensive das Leben des Totschlägers Kain. Mit der Dynamik zwischen Gottesliebe und religiöser Geschwisterliebe verhält es sich anspruchsvoller, als menschliche Liebesgleichungen es wahrscheinlich machen würden. Gott hat sich auch und gerade vorgenommen, das Leben der Liebestotschläger zu schützen und nicht dem Tod preiszugeben.

Eine unaufdringlich eindringliche Geschichte

Schon die Liebe zu Gott, also die Gabe des Glaubens als Gabe des Heiligen Geistes, versteht sich niemals von selbst. Und dass sich aus dieser Gabe die geschwisterliche Liebe de facto von selbst verstünde, diese Behauptung darf erst recht befragt werden. Dass sie sich eigentlich von selbst verstehen müsste, ist wiederum insofern zwingend, als es Gott gegenüber lieblos wäre, das von ihm geliebte menschliche Mitgeschöpf nicht zu lieben. Diese Lieblosigkeit passt in der Tat mit der Liebe zu Gott nicht zusammen. Insofern ist das von Johannes mit auf den Weg gegebene Gebot ein Gebot, das ans Herz legt, sich christlich gesehen doch bitte nicht völlig unpassend zu verhalten, zudem Gott in Jesus Christus in die Abgründe genau dieses unpassenden Verhaltens hinabgestiegen ist.

Der erste Johannesbrief spricht viel, ja geradezu chronisch von der Liebe. Ganz anders Michael Becker: "Ich nehme das Wort Liebe nicht so oft in den Mund. … Es ist aber genau das Wort, wenn man sich teilt oder wenn man sich verstanden fühlt." Bruderliebe, so sagt Michael Becker, "heißt im Prinzip: würdiges Zuhausesein" - und er hat dafür sein Leben mit seinem Bruder gemeinsam auf den Kopf gestellt. Damit schreiben Markus und Michael eine unaufdringlich eindringliche und sehr besondere Geschichte, die erzählt, was geschehen kann, wenn das Gebot Gottes gleichsam ungesagt bewirkt, was es ansagt: Hoffnung auf gemeinsames Leben - und das, christlich gesehen, wider allen Anschein und aller menschlichen (Familien)konferenzen zum Trotz in Ewigkeit.

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