Schreiben über die Natur ist stets mehr als Beschreibung: Es formt Wahrnehmungen und eröffnet neue Weltzugänge. "Nature Writing" verbindet wissenschaftliche Präzision mit subjektiver Erfahrung und macht deutlich, dass jede Schreibpraxis somit letztlich politisch ist. Von Robert Macfarlanes Fluss-Erkundungen über mittelalterliche Naturdeutungen bis zu Christian Lehnerts Poesie zeigt sich: Natur wird nicht nur beschrieben, sondern stets neu geschrieben.

I.

Schreiben ist eine Praxis. Damit sind hier nicht die Hand- oder Fingerbewegungen gemeint, die beim Schreiben vollzogen werden. Es geht nicht darum, dass Geschriebenes irgendwie produziert werden muss. Viel grundlegender ist Schreiben deshalb eine Praxis, weil Texte – immer – Teile von Handlungszusammenhängen sind und auf diese zurückwirken.

Das Englische ist hier sprechender als das Deutsche: Nature Writing – das Present Progressive macht die Tätigkeit kenntlich und gleichzeitig das Verhältnis zwischen dem Schreiben und dem (außertextlichen) Inhalt unbestimmt. Die aus dem Angelsächsischen stammende Tradition des Nature Writing erfährt gerade eine Renaissance. Unter dem Titel versammelt sich Unterschiedliches, im weiten Sinne Literarisches. Es sind Texte, die oft naturwissenschaftlich sehr informiert sind, aber die naturwissenschaftliche Distanz, Neutralität und Zeitlosigkeit bewusst einreißen. In ihnen verbinden sich Landschaften mit ihren (Kultur)Geschichten. Sie machen subjektives, körperliches Naturerleben greifbar. Grenzen von Natur und Kultur erfahren eine Problematisierung. Neue Wahrnehmungen tun sich auf.

Was als "Natur" gilt, ist Ergebnis von Schreibpraktiken. Wo sie beschrieben wird, ist sie mindestens ebenso geschrieben. Was aber geschrieben ist, kann auch weiter-, neu und anders geschrieben werden. 

Nicht zuletzt in Zeiten der ökologischen Krise sind solche Praktiken, über Natur zu schreiben, ganz offensichtlich politisch. Dabei macht Nature Writing sichtbar, dass letztlich jede Schreibpraxis politisch ist. Wir haben uns daran gewöhnt, die Praxis des distanzierten, naturwissenschaftlichen Schreibens über "Natur" als neutral und objektiv zu betrachten und mit "dem" Wissen gleichzusetzen. Doch auch diese Praxis transportiert – subkutan – Weltverhältnisse, die handlungswirksam und in diesem Sinne politisch sind. Naturwissenschaftliches Schreiben konstruiert Natur als Gegenüber zum beobachtenden Subjekt und umgekehrt. In der Folge werden Identitäten und (prae)ethische Annahmen vermittelt: "Natur" ist dann eben das "Nicht-Menschliche" oder das "Nicht-Geistige". "Natur" ist das, was erklärt werden kann. Und was erklärt werden kann, das kann in der Folge auch beherrscht und benutzt werden. Es wird verfügbar.

Was als "Natur" gilt, ist so Ergebnis von Schreibpraktiken. Wo sie beschrieben wird, ist sie mindestens ebenso geschrieben. Was aber geschrieben ist, kann auch weiter-, neu und anders geschrieben werden. Weit entfernt davon, in alternative Fakten abzugleiten, unternimmt Nature Writing die Neuschreibung von "Natur" und begibt sich auf die Suche nach dem Unverfügbaren.

II.

Soziologen von Max Weber bis Hartmut Rosa haben konstatiert, dass die "Natur", indem sie "entzaubert" und verfügbar gemacht wird, paradoxerweise unverfügbar wird. Sie weicht zurück, wird unlesbar, verliert ihre Bedeutung, wird nur noch als Widerstand wahrnehmbar. Es ist gerade nicht die Form bedeutungsträchtiger Unverfügbarkeit, die an das Heilige grenzt. Der britische Autor Robert Macfarlane, einer der wichtigsten Vertreter des aktuellen Nature Writing, ist vier Jahre kreuz und quer über den Globus gereist, um Bedeutung zurückzugewinnen. Ihn treibt eine Frage um, die sein im Mai 2025 erschienenes Buch überschreibt: "Sind Flüsse Lebewesen?"

Die Frage wird greifbarer, wenn man sich einen sterbenden Fluss vorstellt – wenn das Wasser weder zum Trinken noch zum Schwimmen geeignet ist; wenn, wie 2022 in der Oder, eine durch Chemikalien verursachte Algenblüte Fische massenhaft sterben lässt. Auf der Suche nach einer Antwort hat Robert Macfarlane andere Blickweisen auf Flüsse gesucht und sie in alten Mythen und Geschichten ebenso gefunden wie in der Wissenschaft oder in der "Rights-of-Nature"-Bewegung. Im hohen Norden Kanadas ist er zwölf Tage auf dem wild fließenden Mutehekau Shipu unterwegs. In der körperlichen, überwältigenden und auch bedrohlichen Nähe schwindet die Distanz zwischen dem Selbst und dem Wasser. Sie lässt Vorstellungen wie Nussschalen aufbrechen. Im Schreiben Macfarlanes sind Flüsse nicht unser "Anderes". Sie bewässern unsere Orte und unsere Körper, unsere Lieder und Geschichten.

Wenn Menschen ihren Umgang mit den Flüssen verändern, verändern die Flüsse auch das Leben der Menschen.

Zu seinen Beobachtungen zählt: Wie vergrabene Flüsse lassen sich auch verschüttete Gefühle wieder an die Oberfläche bringen und mit ihnen freundlichere Formen des Umgangs mit den Gewässern. Auen und Auwälder lassen sich wiederbeleben wie in Leipzig. Flüssen kann wieder erlaubt werden zu mäandern wie der Isar in München. Und wenn Menschen ihren Umgang mit den Flüssen verändern, verändern die Flüsse auch das Leben der Menschen. An der Isar lässt sich heute spazieren, die Sonne am Fluss genießen, schwimmen und träumen. Wenn wir die Flüsse heilen, so Robert Macfarlane, dann heilen sie auch uns.

III.

In der christlichen Tradition legt es sich nicht ganz so nahe, der Natur "Heilungskräfte" zuzuweisen. Materie, Nichtgeistiges, der Körper sind in der über Jahrhunderte platonisch-augustinisch geprägten Theologie regio dissimilitudinis – ein Bereich der Gott-Unähnlichkeit. Noch bevor Naturwissenschaft und Technik die Welt "entzaubert" haben, entwertet ein christlicher Sündendiskurs diese Dimensionen der Wirklichkeit, stehen sie doch im Verdacht, die Beziehung zu Gott zu behindern. Und doch ist der christlichen Tradition der Gedanke nicht fremd, dass auch vom Körperlichen, Materiellen, Nichtgeistigen Erlösung ausgeht. Die Inkarnation Gottes in Jesus Christus durchbricht die Grenzen zwischen Transzendenz und Immanenz so gründlich, dass sie damit auch die Wertigkeiten von Körper und Geist, Sichtbarem und Unsichtbarem durcheinanderwirbelt. Wo Gott Mensch und damit materialer Körper wird, ist auch der Körper in seiner Verwobenheit ins Sichtbare nicht (allein) Ort der Gottesfremde, sondern im Gegenteil: Ort der Gottesbegegnung.

So kann bis ins hohe Mittelalter in der "Natur" – in Pflanzen und Tieren, in den Planeten und im Gewitter, in der Luftröhre und in den Rippen – wie in einem Buch gelesen werden. Gängige Praxis ist das laute Lesen. Die Wörter – vorgelesen, gehört – schreiben sich in die Sinne, in die Körper, schaffen gemeinsame (Hör)Räume. Sie nehmen, so ist es gewollt, mit den Körpern auch die Affekte und die Vorstellungskraft in Anspruch. Sie lassen Ähnlichkeiten sehen zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen, dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Körperlichen und dem Unkörperlichen. Diese Ähnlichkeiten werden nicht nur erdacht, sondern auch erspürt, denn die höchste Erkenntnis ist Liebe, nicht Denken. So verleiht die "Natur" einem denkenden und affektiven Ich Flügel. Es schwingt sich auf den Allegorien und Metaphern in die Höhe – zu Gott.

Mit dem Begriff des Codes, den Umberto Eco auf die mittelalterliche Naturlektüre angewandt hat, ist diese "Textform" nur unzureichend beschrieben. Der Code, einmal entschlüsselt, lässt das Entschlüsselte als leere Hülle zurück. Für den mittelalterlichen Diskurs bleibt die geschöpfliche Natur aber Gegenstand der Betrachtung, ein Medium der Beziehungsaufnahme mit dem Unbedingten. Hugo von Sankt Viktor nennt sie ein Heiltum: Die Natur ist sakramental, sie heilt die Seele.

Im Schreiben des lebendigen Anderen begibt sich das Ich auf die Suche nach Bedeutung und Sinn, nach dem Lebendigen und dem Leben selbst.

IV.

Schafft ein Nature Writing, das der "Natur" Bedeutung und damit Unverfügbarkeit zurückgeben will, auch eine Durchsichtigkeit auf etwas Letztes, Unbedingtes – auf Sinn, auf Gott? Wenigstens in den Dichtungen von Christian Lehnert legt sich dies nahe. In seinem jüngsten Gedichtband opus 8 schafft er mit einer strengen formalen Form von siebenmal acht Gedichtpaaren ein "Flechtwerk" aus Naturgedichten. Es sind genaue Beobachtungen von Einzelnem: einer Linde, einer Libelle, von Rauchschwalben. Sie kommen daher wie Momentaufnahmen, und doch ziehen sich in ihnen die Zeiten zusammen – vom Frühling bis zum Herbst, vom Samen zur Frucht, von der Kindheit bis zum beobachtenden Jetzt, vom Leben bis zum Tod.

Die kurzen Textstücke fangen Bewegungen ein, in denen eine "erkennende Amöbe" zur Protagonistin wird. Doch die Amöbe vermenschlicht nicht, ihr werden keine Intentionen oder Emotionen unterstellt, es gibt keine Einfühlung. Umgekehrt ist der distanzierte Blick weit davon entfernt, Objektivität zu suggerieren. Überdeutlich macht die Beschreibung, in Iamben gefasst und damit streng rhythmisiert, dass die Amöbe hier geschrieben wird.

Was sich da draußen zeigt  /  ob Stoff  /  ob Widerschein /
Umfließt ihr Zellfuß  /  greift und holt es in sich ein.

Christian Lehnert bietet keine Naturdichtung, in der – wie bei Goethes Werther oder in James Joyces Ulysses – Naturphänomene zu einem Spiegel des (unbewussten) Inneren werden, so dass letztlich das menschliche Subjekt Ziel der Naturschreibung ist. Seine Texte wahren die Alterität, ermöglichen Fremdheit und Überraschung. Gleichzeitig halten sie das Subjekt präsent, das in seiner schreibenden (und lesenden) Tätigkeit die eigenen Wörter auf das Fremde überträgt und dabei unausweichlich hinnimmt, dass sich ihre Bedeutung verschiebt. Und während das Ich sich die Pflanzen, Tiere, Landschaften schreibend, lesend aneignet, werde ich mir beim Lesen gleichermaßen fremd.

Es ist diese Bewegung des Subjekts, die es nahelegt, zwischen die Naturbeobachtungen Texte aus der mystischen Tradition zu setzen – von Meister Eckhart, von Jakob Böhme vor allem, aus dem Sohar. Denn im Schreiben des lebendigen Anderen begibt sich das Ich auf die Suche nach Bedeutung und Sinn, nach dem Lebendigen und dem Leben selbst. Es ist darin ebenso auf der Suche nach dem eigenen Ich, ohne das die Beobachtung des Anderen nicht möglich ist und das gerade durch das Fremde in seiner Selbstwahrnehmung verschoben, dynamisiert, irritiert wird. In den Texten lebt das Begehren, dass in dem Flüchtigen des Lebens, in den Funken, die verfliegen, in der Eiche, die zittert, die Seele die Gottheit selbst ergreift.

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