I.
Rasch die Zeichenstifte zur Hand, und los geht's. Das Bild eines Drachen soll entstehen. Bei den vielen Phänotypen hinter dem gängigen Muster ist das gar nicht so einfach.
Der Körper zunächst. Von riesenhafter Unförmigkeit. Schuppig und gepanzert die Haut, das Rückgrat voller Zacken. Farbe: Dunkles Giftgrün meist oder glänzendes Schwarz. Länglich der Hals. Mit kamelgleichem Kopf (im Plural manchmal), dem breiten Maul eines Krokodils, Raspelzunge (die beim Laufen aus dem Hals hängt), scharfen Zähnen, ausladend gestrecktem Schwanz und seitlichen bzw. Rückenflügeln. Die Beine? Zwei oder vier, kurz und stämmig, Pfoten eines Tigers, deren jede über mindestens vier Klauen verfügt. Ohren wie das Rind. Freilich gibt es auch Drachen, denen sie fehlen und die dafür Geräusche durch Hörner aufnehmen. Starre Reptilien-Augen schließlich. Fertig!
Ein Konglomerat hässlicher Vielfalt, vorhandene Merkmale verschiedener Tiere absonderlich mischend und übertreibend. Vollendet dumpfes Bestiarium.Stimmt das so aber auch? Falsche Frage. "In seinem Bild ist etwas", schreibt Jorge Luis Borges, der große Dichter aus Buenos Aires – und als Verfasser eines Buchs der imaginären Wesen muss er es wissen –, das über Äußeres hinaus "im Einklang steht mit der Vorstellungskraft des Menschen".
II.
Das Faszinosum Drache birgt eines der negativen Art, den Prägungen westlicher Tradition zufolge jedenfalls. Von jeher wird er dort als monströses Wesen betrachtet, nichts als Zerstörung im Sinn.
Angst und Schrecken verbreiten diese Ungeheuer. Sie drangsalieren Mensch und Vieh, verwüsten ganze Landstriche, "und mit des Rachens bösem Duft / vergiften sie ringsum die Luft" (so eine alte Ballade aus Des Knaben Wunderhorn). Öko-Schurken obendrein noch. Außerdem horten Drachen gerne Reichtümer. Ganz zu schweigen von dem, was das nicht minder häufige Motiv der Gefangennahme einer Jungfrau in erotischer Hinsicht über sie aussagen mag.
Dem metaphysischem Prinzip der Bosheit wurden sie gleichgesetzt, älter als das Leben, während bis zur Apokalypse am Ende aller Geschichte (Offb 12, 3.7ff.). "Die Natur und die Tücke des Teufels" habe der Drache, hallt bei Hildegard von Bingen eine Gewissheit früherer Theologen nach. Das Widergöttliche schlechthin repräsentiert sich in ihm.
Gern hat man seinem Bild reale Mächte und Gestalten unterlegt, welche die Guten heimsuchen und gegen die jene sich wehren müssen: Pharao, Papst oder Hegelsche Philosophie, Personen aus dem engeren Familienkreis, politische Systeme und viele mehr. Arrangieren, so viel steht fest, kann man sich mit dem Drachen nicht. Appeasement wäre das bloß, seiner Arglist fatal auf den Leim gehend.
III.
Kulturelle Universalisten mag es bekümmern: Seit jeher anders, differenzsensibler sozusagen, denkt der Ferne Osten. Dort tragen die spektakulären Artgenossen nicht nur Bärte unter der Schnauze. Glück und Wohlfahrt bringen sie, sind häufiger gute Freunde des Menschen, weise auch (wie im ehrwürdigen I Ging nachzulesen), der Philosophie zugetan. Einer soll dem chinesischen Kaiser das wechselseitige Spiel von Yin und Yang enthüllt haben. Konfuzius hat Drachen im Stammbaum. Göttlicher Rang gar kann ihnen eigen sein. Zwar scheinen die Exemplare aus Fernost moralisch bisweilen auch etwas zu irrlichtern, doch als überirdische Wesen (scheint man sich dort schon immer gesagt zu haben) folgen sie eben ihren eigenen Gesetzen.
Drache ist also nicht gleich Drache. Je nach Perspektive fallen Wertungen sehr unterschiedlich aus. Oder sie verändern sich, wie es bei der jüngeren Generation der Urmel, Tabaluga, Kokosnuss etc. auch bei uns zu einer durchaus schmusigen Trendwende gekommen ist, in Teilen der gern von Drachen bevölkerten Fantasy-Literatur oder entsprechender online-Rollenspiele desgleichen.
IV.
Zum Glück gibt es Drachentöter, die das Ungeheuer in seinem jeweiligen Revier aufsuchen und "neutralisieren". Ruhmvolle Lichtgestalten sind diese Kämpfer gegen das Böse. Seit der hochmittelalterlichen legenda aurea überragt sie alle der heilige Georg.
Allerdings verging fast genau ein Jahrtausend, ehe das ursprüngliche Bild eines nikomedischen Blutzeugen der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian durch jenes vom militärischen Bezwinger des Garstigen nachhaltigst abgelöst wurde. Ein Modell für künftige Unterfangen solcher Art war geboren. Etwa zur gleichen Zeit nimmt die (lange vorher schon entwickelte) Lehre vom "gerechten Krieg" weitere Fahrt auf. Um 1140 war sie Teil des kanonischen Rechts geworden.
V.
Ein dracologischer Essay des schwedischen Schriftstellers und Philosophen Lars Gustafsson endet damit, dass der junge Held, welcher den letzten Drachen tötet, von diesem noch aufgefordert wird, sich in der nahen Quelle zu spiegeln. Ein "enormer Kopf mit den eigentümlichen hornartigen Auswüchsen" zeigt sich ihm dort, "die furchtbaren Nasenlöcher, und ein Dunkel, das verwandt ist mit der Dunkelheit zwischen den Galaxien." Wir werden doch nicht etwa …? Doch! Inwendig haust bei uns ein Drache. Wir selber haben Anteil an dem, was wir ihm zuschreiben.
Das primär ist es, wogegen es zu kämpfen gilt.
VI.
Christlicherseits geriet solche Einsicht von Anfang an zum Unterfutter einer breiten Strömung spiritueller Literatur. Paulus beschreibt das Arsenal bei diesem Gefecht: gegürtet mit Wahrheit, den Panzer der Gerechtigkeit umgeschnallt, "als Schuhe die Bereitschaft, für das Evangelium des Friedens zu kämpfen" (oha!), allen feindlichen Geschossen den Schild des Glaubens entgegen haltend, mit dem Helm des Heils schließlich und dem "Schwert des Geistes, das ist das Wort Gottes" (Eph 6, 10-17). Am eindringlichsten inspiziert wurde solche Ausstattung des "christlichen Soldaten" nachmals durch Erasmus von Rotterdam.
VII.
Feinde. Ein Leben ohne sie verlöre seinen Sinn (weil sich dann reinen Gewissens für nichts mehr zu schlagen wäre), heißt es in Der Dra-Dra, einem frühen Stück von Wolf Biermann. Das ist vielleicht zynisch, trifft aber doch ein keineswegs geringes Problem. Die Bereitschaft der "Gerechten" zur Aggression, ihre Selbstbestätigung hieraus, Lustgewinn vielleicht sogar.
Jedenfalls streiten auch Christen heute wohl lieber nach draußen. Wider dort streunende Drachen, die uns bedrohen. Forsch gilt es Ihnen daher entgegenzutreten. Dass wir irreversibel Böse vor uns haben, scheint gesichert. (Am Rande: Ein durchaus hüben wie drüben vorhandenes Phänomen.) Kritisches Nachdenken über Bedingungsfaktoren, eigenes Hinzutun auch, der Versuch gar, die Perspektive des anderen einzunehmen, gelten als anrüchig. Wer das bezweifelte, gebe sich nur mehr als vom toxischen Ausstoß des Drachen benebelt zu erkennen, wenn nicht gleich als dessen Sympathisant.
Waffen sind das oberste Heilmittel, rien de plus! Wie ein Wasserfall ergießt derlei sich täglich über uns, der Notwendigkeit das Wort redend, endlich "kriegstüchtig" zu werden (koste es, was es wolle). Zur obersten Tugend steigt sie damit auf. Wo aber endet die Drehung dieser Spirale?
VIII.
Und die regulative Idee der Gewaltfreiheit beim Austrag von Konflikten? Statt sie (in welcher Jesu Botschaft doch sehr eindeutig ist) als unterkomplex abzubürsten und vor ihrer politischen Instrumentalisierung zu warnen, statt heraus zu bosseln, dass der Friedensgruß des Auferstandenen (Joh 20, 19.21; Lk 24, 36) nur ein Konjunktiv sei, statt uns hinter eine Rhetorik des "erlaubt, gestattet, rechtens, zulässig, nicht verboten" zu verschanzen: Sollten – gerade angesichts aktueller "Aufrüstungspropaganda" (Leo XIV., erst unlängst) mit ihren bereits realen und bevorstehend möglichen Folgen – nicht wenigstens Christen unbedingt darauf achten, dass jene Mahnung nicht völlig unter die Räder kommt?
IX.
Auch bei der Verteidigung eines hypothetisch legitimen Ziels wird Zerstörung, wird Elend und Tod von Menschen in Kauf genommen, das Vorenthalten von Mitteln für menschliche Entwicklung sowieso. Insofern gibt es keine "gerechten", sondern nur graduell vielleicht weniger ungerechte Kriege.
Wie aber könnten destruktive Entladungen verhindert oder bereits bestehende sich eindämmen lassen, im höheren Interesse ausgleichend, so schmerzhaft dies manchmal auch sein mag? Selbst wenn man – wie ich – keineswegs auf alles die Antwort weiß: An unserem Bild des Drachen zu arbeiten und immer neu, unentmutigbar geduldig Gesprächsfäden zu knüpfen, wäre womöglich kein schlechter Anfang. (Oh, ich vergaß: mit dem Monstrum lässt sich ja gar nicht reden!)
X.
Außenseiter unter den christlichen Drachenheiligen ist Simeon der Stylit. Auch einer Bestie, die exorbitant viel Böses getan und sich dabei im Auge verletzt hatte, dringt des Gottesmannes auf der Säule Ruf zu Ohren. Sie sucht ihn auf – und er veranlasst unerhörterweise, dass das Biest seine Sehkraft wiedererlangt. Fortan tut es niemandem mehr etwas zuleide.
"Vielleicht", schreibt Rilke in einem Brief von 1904 im Zusammenhang mit den "Drachen unseres Lebens", "ist alles Schreckliche im Grunde" ja "das Hilflose, das von uns Hilfe will."
Per Doppelpack soviel Naivität. Ist sie am Ende nicht wenigstens rührend?