"Abwesenheit von Sinn, wie hält man die aus?"Kontingenz als Stachel bei Jenny Erpenbeck

Was unserem Leben widerfährt, haben wir nicht in der eigenen Hand. Wie nun damit umgehen? Trägt religiöses Bewusstsein zur Antwort bei, einer Bewältigung gar? Und wie verhält es sich mit dem Dasein als Möglichkeitsgefüge? Schlaglichter dazu auf eine Autorin gegenwärtiger Weltliteratur aus Deutschland.

Jenny Erpenbeck, ein Jahr zuvor die erste deutschsprachige Trägerin des International Brooker Prize, auf dem Jaipur Literature Festival, Indien, am 31. Januar 2025
Jenny Erpenbeck, ein Jahr zuvor die erste deutschsprachige Trägerin des International Brooker Prize, auf dem Jaipur Literature Festival, Indien, am 31. Januar 2025 © Sriya Sarkar, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

I.

"Schön wäre es, denkt sie, wenn der Zufall regieren würde, und nicht ein Gott." Sehr am Anfang von Jenny Erpenbecks Roman Aller Tage Abend (2012) steht dieser Satz. Im Konjunktiv. Er äußert den Wunsch einer Mutter, deren zehnjährige Tochter gerade beerdigt wurde. Gesetzt den Fall, es verhielte sich tatsächlich so: über ein Warum verstörender Erfahrungen nachzugrübeln erübrigte sich dann. In solch entlastender Hinsicht immerhin wäre der Fortfall Gottes angenehm.

"Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen." Wie Hiob (1, 21b) war dies der Trauernden "am Rand der Grube" suggeriert worden. Doch es "stimmte nicht, denn der Herr hatte viel mehr genommen, als da war – auch alles, was aus dem Kind hätte werden können, lag jetzt da unten." Keineswegs bloß dem anfänglichen, sondern Leben an sich, so lange es währt, wohnt solche Virtualität inne, eine Fülle nicht realisierter Möglichkeiten. Hier und da müsste lediglich etwas passiert sein, das dem Geschehenen eine andere Wendung gewiesen hätte.

Fünf abgebrochene und in diesem Sinne alternativ wiederaufgenommene Werdegänge erzählt dieser Text. Um einen einzigen handelt es sich dabei streng genommen nur: die bis ins hohe Alter immer wieder hypothetisch verlängerte Geschichte einer Frau halbjüdischer Herkunft entlang der Schrecken des 20. Jahrhunderts. Wie sie nicht stattgefunden hat, doch konditional eben hätte sich ergeben können.

II.

Angefangen mit Zeit und Ort unseres Daseins, dessen Umständen im Einzelnen sodann: was uns zuteil wird, ist weithin unverfügbar, kontingent. Angesichts dieser Zu-Fälligkeit mag die Eventualität eines Über-Uns vielleicht ihre Widerhaken auswerfen, ob "schön" oder nicht. Mit einem Bandwurm-Wort nachgerade als Kontingenzbewältigungspraxis wurde Religion durch zeitgenössisches Philosophieren daher bestimmt.

Das meint nicht, dass Glaube in der aufgeklärten Moderne ein zuständiger Unterschlupf vor unerklärlich Bleibendem sei. Wohl aber ein Hilfsmittel, um mit Situationen umzugehen, die sich unseren Steuerungsphantasien verweigern. Bei leidhaften Vorkommnissen primär steht er als Option bereit. Über Ideen zu Deutung und Trost hinaus wirkt Religion, per Ritualen und Teilhabe an Gemeinschaft, sich auch in Strukturen aus, welche (Be-)Stärkung vermitteln. Freilich tut sich hier auch die Problematik bloßer Nützlichkeit auf. Ob das konkrete Angebot jenseits eigenen Bedürfens zu überzeugen vermag, steht ohnehin auf einem anderen Blatt.

III.

"Was ist der Sinn von allem? dass jeder Mensch seine paar Jahre zum Leben hat und dann stirbt?" wird in einem anderen Roman der Autorin herausfordernd gefragt. Ob "Sinn eine Masse" habe sinniert dort ganz unversehens jemand schon lange vorher. Nein, quantifizierbar ist er nicht, und rationalen Setzungen versagt er sich.

Das bohrt. "Denn die Abwesenheit von Sinn, wie hält man die aus?" Im Zusammenhang mit einer von ihr besonders geschätzten Kollegin aus der Vergangenheit hat Jenny Erpenbeck das vor zwei Jahren notiert, der österreichischen Lyrikerin und Erzählerin Christine Lavant (bei welcher "Hadern mit Gott" ihr "ganzes Werk" durchziehe). "Ich sehe eine", fährt sie fort, "die auf der Suche ist nach dem Grund allen Denkens", inklusiv gleichsam: "dem Sinn unserer endlichen Existenz".

Tatsächlich lugt "Gott" auch aus den Seiten der 1967 in Ost-Berlin geborenen Autorin hervor, wie ein dezenter Gast im Potentialis. Mit der Beschaffenheit des Lebens nicht zuletzt mag derlei vorgegeben sein: "Die, die wir lieben, werden uns verloren gehen. Und wir uns selbst. Und unsere Erdkugel ist ein einsamer Ball, hingehängt in einen riesigen schwarzen Raum." Zwar: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes kommt, heißt es in der Bibel. Aber was, wenn dieser Mund stumm bleibt?" Ob die Gläubigen darauf eine Antwort wissen?

In Jenny Erpenbecks Texten erweisen sich Kontaktversuche als vergeblich: "Mit zwölf Jahren hat Katharina einmal für acht Wochen abends im Bett heimlich das Vaterunser gebetet, süß war die Hoffnung, dass es einen Gott gäbe. Aber geantwortet hat ihr dieser Gott kein einziges Mal, da hat sie wieder aufgehört mit dem Beten." Gewichtiger als solch kindlicher Abbruch ist zweifellos, dass "der Gott ihrer Väter" zu den Hilfeschreien verfolgter Juden schweigend "säumt" (Psalm 40, 18). Als möglicher Horizont hat er sich aber selbst dadurch nicht erledigt. All dies blitzt immer wieder auf, in Licht und Gegenlicht.

IV.

Dass diese Autorin sich beim religiösen Erbe exzellent auskennt, setzt sie sehr bewusst ein. Notorisch werden ihre Leser darauf gestoßen. Kaum ein Werk der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist so von Anspielungen auf "die Heilige Schrift" durchsprenkelt, in stattlicher Vielfalt, leitmotivisch manchmal.

Fast noch häufiger vergegenwärtigt Religiöses sich bei ihr durch das künstlerische Erbe, mit Konnotationen weit jenseits von Ästhetik. "Als junges Mädchen sang ich im Kirchenchor", schreibt Jenny Erpenbeck einmal, "hörte die biblische Sprache in der Genauigkeit von Bachs Rezitativen wieder und wieder. Diese Wendungen sind mir nie mehr aus dem Kopf gewichen." Mit Matthäus-Passion, Weihnachts-Oratorium oder der Kantate Ich habe genug (zum Sonntag Mariä Reinigung) begegnen wir aber nicht nur dem Thomaskantor, sondern, mit dem Gesang der "erlösten Sünder" aus dessen Tannhäuser just etwa auch Richard Wagner.

Aus seiner weniger bekannten Schrift Von der Kraft der Tugenden wird Franz von Assisi zitiert, und ein Vers von Angelus Silesius dient im Roman Kairos (2021) als Motto für die Transzendenz stiftende Dimension von "Ich und Du" in wechselseitiger Verschmelzung. Dem Liebesakt zweier Menschen unterliegt Mozarts Requiem dort zu Beginn. Grandios die Szene, welche sich nun formiert, hochkomplex in ihrem Verweischarakter "aufwärts durch die zähe Masse aus Hoffnung und Angst", von Schuld, deren Verweigerung, Illusion und Erlösungshoffnung. Die Parallele von Versen aus den Sybillinischen Büchern hierzu unterstreicht dies ebenso wie Hiob 1, 21a: Hilflos kommen wir in diese Welt, nackt, und nackt gehen wir wieder.

Für untergründig transformative Echos des Glaubens hat diese Autorin ein feines Ohr: "Eigentlich seltsam, dass die Hymne eines sozialistischen Landes mit dem christlichsten aller Worte beginnt: Auferstanden." Was die mögliche Ausgelaugtheit religiöser Formeln betrifft, nicht minder. Selbst die Erzeugung von semantischem Objektbezug, wie Worte Wirklichkeiten aufsaugen und passförmig machen, diskutiert einer ihrer Romane (Wörterbuch [2007]) in Analogie zum Schöpfungsbericht der Bibel.

V.

Im Buch über Christine Lavant verrät Jenny Erpenbeck, dass an der Pinnwand vor ihrem Schreibtisch ein selbst geschossenes Foto zweier "sehr alter" sizilianischer Gottesdienstbesucherinnen heftet: "Mit der letzten Kraft ihrer sterblichen Körper haben sich diese beiden Frauen in die Kirche geschleppt, nur um sich zu vergewissern, dass sie zu einer Gemeinde gehören, nur um des Versprechens willen, dass ihr Leben nicht enden wird mit dem Tod."

Unverkennbar scheint die Autorin durch lebensweltlich religiöse Emphase fasziniert. In einem versunkenen ostjüdischen Schtetl etwa: bei der "Leidenschaft für das Studium der Heiligen Bücher" ihrer Figuren dort, "nächtelangen" Debatten darüber, wo "das Reich Gottes" denn zu finden wäre, als "Rätsel" schon "mitten unter den Menschen versteckt, oder doch erst im Jenseits".

VI.

Richtung Äthiopien noch geht der Blick. Anders als im diesbezüglich "verflachten" Europa zeige christlicher Glaube sich dort noch als vital. Wo "die Sprache der Bibel" eben "keine Fremdsprache" sei, vor der leeren Weite von Landschaften voll "halluzinatorischer Intensität", wollte die Fotografin und Regisseurin Brigitte Maria Meyer 2010 eine Verfilmung apokrypher Evangelien ins Werk setzen. Überlegungen zu einem Drehbuch des von der Kirche dann doch nicht genehmigten Projekts steuerte Jenny Erpenbeck bei.

"Das Hereinbrechen göttlicher Gewalt in ein ganz normales Leben", stellt sie an diesen "unbekannteren, aber nicht minder poetischen und kraftvollen Texten" jenseits des Kanons heraus. "Die Suche nach etwas, das jenseits des menschlichen Alltags dem Leben Form und Sinn geben könnte", spiegle sich in ihnen: "als lebendiger Prozess, hier auf der Erde."

Da haben wir sie wieder, die Kontingenzbewältigung! "Gott", schreibt die Autorin, "scheint in Äthiopien jemand zu sein, den man gestern noch mit eigenen Augen gesehen hat". Nun aber herrsche der Zustand des "Wartens" auf seine Wiederkehr vor, einer des Er-Innerns "in vielen Stimmen" und "Brechungen". Gegenwart als Dazwischen, Noch-Nicht. "Tradition", heißt es in einer bemerkenswerten Wendung, "wird so lesbar als eine Methode, die Zeit auszulöschen".

VII.

Von einer ähnlichen religiösen Kraft wenigstens gestreift wird Deutschland, wie Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen zur selben Zeit bereits andeutet, seit 2015, dem, was im Politiker-Jargon damals "Flüchtlingskrise" genannt wurde. "Glaubst du an Gott?" fragen hier solche – gleich welchen Bekenntnisses –, die aus Afrika nach Deutschland gekommen sind, ihre Helfer sehr direkt. "Eigentlich nicht". Diese Auskunft des "atheistischen" Protagonisten wird baff gekontert: "Ich verstehe das nicht, wie jemand nicht an Gott glauben kann". Das Vertrauen jener Menschen, welche die Autorin (aus eigenen Einblicken) zu Wort kommen lässt, an den helfenden, rettenden Gott noch in in der "Not" ist ungebrochen. In einem selbst angefertigten Bild von Daniel in der Löwengrube u. a., den die Raubtiere nicht anzutasten wagen, findet es seinen Niederschlag.

VIII.

Nicht gering schätzen sollten wir die Lehre der Märchen. Von früh an, schreibt Jenny Erpenbeck, habe jene Gattung von "Urgeschichten" ihr den Begriff von "Wirklichkeit erweitert". Wesentlich das Bewusstsein für "Verwandlungen" eigne ihnen. "Blindes Verhängnis" nicht minder, wie auch "das Unbegreifliche, aus sich selbst nicht Erklärliche, das durch menschliches Denken nicht aufhaltbare Zerstörerische" – "verwunschene Orte" jedoch "vor allem, die auf ihre Erlösung warten". Anderswerdungen sind in uns selbst angelegt. Ein Spitzenwerk der römischen Literatur ferner sensibilisiere besonders hierfür. "Vergehen" nämlich, Ovids Metamorphosen zufolge bedeute das: "nicht mehr sein wie zuvor".

IX.

"Und wenn wir sterben?" Abrupt und lakonisch schließt derlei sich an, in einer eigenen Zeile. Kommt "einfach nur nichts", lautet die Vermutung anderswo, wobei eine Romanfigur das Schweigen Gottes hier in seine dauernde Abwesenheit übersetzen mag. Sollten am Ende Guy de Maupassants Novellen diesfällig gar von Belang sein? Dort, bemerkt Jenny Erpenbeck am Rande, flamme "auf dem Untergrund einer wahren, durchaus irdischen Begebenheit plötzlich etwas Jenseitiges auf". Der französische Realist des 19. Jahrhunderts zählt zu ihren literarischen Vorbildern.

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