I.
Jan Fabre ist eine der anregendsten Persönlichkeiten zeitgenössischer Kunst. Mit staunenswerter Vielseitigkeit zu tun bekommt es, wer sich von seinem Werk auch nur erste Eindrücke verschaffen will. Zum Vorschein kommt ein ästhetischer Tausendsassa. Als Regisseur wie Choreograph ist er hervorgetreten, als Autor von Theatertexten auch, und sein bildnerisches Werk, das zum internationalen Ruf des 67jährigen Belgiers ganz besonders beigetragen hat, verzweigt sich in Zeichnungen wie Skulpturen, in Installationen, Filme und Performances. Beträchtlich ist die Liste seiner Ausstellungen. Klangvoll ebenso, angefangen mit der Biennale in Venedig oder der Kasseler Documenta.
An dieser Ausnahmestellung ändern auch vor wenigen Jahren gegen ihn laut gewordene Vorwürfe des Machtmissbrauchs nichts, die schließlich zu Fabres Verurteilung führten. Wie es sich überhaupt bei Künstlern – die Geschichte ist voll davon – keineswegs um bessere Menschen handelt. (Bei denjenigen, welche ihre eigene Moralität vorzeigen, indem sie mit Gesten radikaler Ausgrenzung die Wirklichkeit eines Menschen auf seine Fehltritte zusammenschrumpfen lassen, aber auch nicht.)
II.
Früh schon gewinnen religiöse Motive für Fabres bildnerisches Werk Relevanz. Die Passion von Kunst und Christus erzählen (Telling the Passion of Art and Christ) lautet der Titel eines Stücks der Serie Mein Körper, mein Blut, meine Landschaft von 1978. Mit Bleistift und Blut auf Papier wird hier (unter dem leicht verschnörkelten Buchstaben "M", der Maria vertritt) eine Art Reliquienschrein entworfen. Er enthält einen Schädel, über dem diagonal ein Knochen liegt. Wie Flügel ragen rechts und links zwei skelettierte Hände daraus hervor.
III.
Über vierzig Jahre hinweg spannt sich diese Brücke, bis hin zum Auftrag an den Künstler, in der Sankt-Augustinuskirche seiner Heimatstadt Antwerpen (heute ein Musikzentrum) jene Lücke zu schließen, welche durch die Ausquartierung dreier Altarbilder von Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck und Jacob Jordaens ins Königliche Museum für Schöne Künste entstanden war. Die klösterliche Aufführung, Der mystische Vertrag und Die ekstatische Aufzeichnung: so sind Fabres Neuerzählungen des ehemaligen Bestands betitelt, mit smaragdgrünen Flügeln von Prachtkäfern als Material. 2002 schon hatte er gleiches für den Himmel der Wonne (Heaven of Delight) verwendet, eine permanente Decken-Installation im Spiegelsaal des Brüsseler Palais Royal.
Vom mittleren der drei Mosaiken gehen wieder die beiden Hände aus, die nun definitiv Fittichen zu ähneln scheinen. Ein Lamm ist darauf dargestellt, über dem sich stilisiert der Baum des Lebens befindet (vgl. Offb 2, 7).
IV.
Höhepunkt solchen Interesses war 2015 die Aufstellung einer aufsehenerregenden Arbeit von Fabre in der Liebfrauenkathedrale: Der Mann, der das Kreuz trägt. Eine jener golden polierten Bronzeskulpturen, die für ihn typisch sind. In Trenchcoat und Weste gekleidet, mit Ankle Boots und Brille stellt sie eine Person dar, die des Künstlers eigene Gesichtszüge mit denen seines Onkels verschmelzen (der Schauspieler war) und daher generell anverwandelbar sein könnten.
Dieses Ich, möglicher Jeder-Mann zugleich, "trägt" das Kreuz – ein über seine Körpergröße hinausragendes – auf unkonventionelle, ja befremdliche Weise. Vom Handteller leicht umschlossen, versucht er es mit dem ausgestreckten rechten Arm im Gleichgewicht zu halten, damit es nicht herunterfällt, auf ihn selbst einstürzt gar. Konzentriert schaut er dabei zu diesem Kreuz nach oben. Ist es Objekt besonderer Betrachtung? Um herauszufinden am Ende, wie man sich ihm gegenüber verhalten sollte?
Mehr als statisches Verharren müsste der Balanceakt zur Aufrechterhaltung des Kreuzes eigentlich erfordern: unablässig flinker Beweglichkeit. Und bedürfte sein Gelingen nicht der Kräfte im Übermaß? Mühelos, gar spielerisch jongliert wird hier jedenfalls nicht. Allein schon die deutliche Anspannung des linken Arms spricht dagegen.
V.
Was nun könnte aus diesen Wahrnehmungen folgen? Zweimal hat Fabre selbst dazu etwas angedeutet. Den sich ruhelos exponierenden Künstler repräsentiere die Figur demnach. Keinen Finder, sondern jemanden, "der auf der Suche ist" (den zeitgenössischen seekers aus Charles Taylors Säkularem Zeitalter verwandt?), jemanden "der zweifelt, der Risiken eingeht, der sich für Experimente entscheidet, der Fragen stellt". Und die zentrale inhaltliche Referenz? Für Fabre wird sie zu einer Art ultimativen Scheidemarke: "Glauben wir an Gott, oder glauben wir nicht? Das Kreuz auf der Handfläche ist das Symbol für diese Frage".
VI.
Indes umfassen diese Auskünfte längst nicht alle Aspekte, die sich mit der Skulptur verbinden und (wie das eben bei außergewöhnlichen Kunstwerken zu sein pflegt) den aufmerksamen Betrachter nicht zur Ruhe kommen lassen. Weshalb auch hier dieser glänzende Werkstoff? Warum ist das Kreuz zwar übergroß, aber schlank (ein "leichtes Joch" [Mt 11, 30] insofern)? Will der Mann es in Distanz halten? Doch auch, wenn er es nur peripher berührt, kommt er von ihm (das eigentlich die Dynamik seiner äußeren Reaktion bestimmt) nicht los.
Manches mag einem begründbar dazu einfallen. Doch sichere Antworten oder Bestätigungen erteilt die Skulptur in ihrer Komplexität keine. Im Gegenteil scheint es sich um ein Werk zu handeln, dem zuinnerst Ungewissheiten eingeschrieben sind, die es an das Publikum weitergeben will. Diese jedoch sind eine Antriebskraft, geistig wie existenziell. Fabre pusht uns nachgerade in die produktive Herausforderung.
VII.
Als "spirituellen Skeptiker" hat er sich bezeichnet. Skeptisch nicht gegenüber dem Spirituellen, sondern ein Skeptiker, der zugleich spirituell ist. Jemand, der sich nicht einem bestimmten Bekenntnis anschließt, solche Gläubigkeit aber auch nicht verwirft. Ihm bleibt wohl bewusst, wie unhintergehbar das menschliche Leben von Größerem durchwirkt ist, von Impulsen und Erfahrungen, die es übersteigen. The Spiritual Sceptic lautete 2014/15 der Titel jener Ausstellung in Antwerpens At the Gallery, wo Der Mann, der das Kreuz trägt zum ersten Mal gezeigt wurde, als Modell aus Wachs noch.
VIII.
Im Neuen Testament gibt es zwei Männer, die das Kreuz tragen. Weil Jesus selbst zu schwach dafür geworden ist, trifft es, beim Gang in die häusliche Ruhe, unversehens Simon von Kyrene, das Marterinstrument hinter ihm hertragen zu müssen (Lk 23, 26). Ohne dass er schon dessen Jünger wäre, tut er, was der zur Hinrichtungsstätte Getriebene diesen aufgibt: "Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht wert." (Mt 10, 38). Hard to hear, auch binnenchristlich inzwischen! Die Bereitschaft zum Erdulden von Lasten und Widrigkeiten, von Schmerz und Leid (diejenige auch, sie anderen helfend abzunehmen) als Zeichen des Einverständnisses mit dem Vorbild Jesu bei der Überwindung des die Welt entstellenden Übels.
IX.
Nun steht Fabres komplexes Rätsel vom Umgang mit dem Kreuz nicht irgendwo, sondern in einem Raum, durch dem ihm weitere Bedeutsamkeit zuwächst. Antwerpens Liebfrauenkathedrale beherbergt monumentale Altarbilder von Peter Paul Rubens. Eine etwas pathetische Aufrichtung des Kreuzes darunter, bei der wir in einem Knäuel aus herkulischen Schergen und verstörten Zuschauern Zeugen der Brutalität des Geschehens werden (während der Heiland, den Kopf nach oben gewandt, die Tortur heldenhaft auszuhalten scheint). Sichtbar aber setzt die Bronzeskulptur sich zum Mittelbild des Triptychons Kreuzabnahme (von 1611/14) in Relation: ein Gemälde, das noch Vincent van Gogh "begeisterte". In leichter Krümmung nur verläuft zu diesem eine Längsachse. Ja, Fabres Figur hält dem Werk des barocken Meisters nachgerade eine Variation von dessen Thema entgegen, die sich bis in Details hinein spiegelt.
Erst tot kommt Christus von dem Kreuz, das er getragen hat, wieder los. Acht- und behutsam wird der durch Gewalt entstellte Leib hier gehalten, vom Kreuz hinab gleitet er in ein weißes Tuch. Bei Dunkelheit findet die Szene statt. Rubens´ Kunst des Lichteinfalls und der Farbgestaltung geschuldet, vermittelt jenes Tuch hinter dem Corpus Christi den Eindruck, das Leuchten komme aus ihm selbst. Als ob er glänze.
X.
Am einen Ende des Blickfelds also jemand, der die Qualen des Kreuzes auf sich nahm, um die heillose Menschheit zu erlösen. Ihm gegenüber ein aktueller Jeder-Mann, der auf seine Weise das Kreuz trägt und den Betrachtern als den bei dieser Konstellation nicht zu vergessenden Dritten damit sehr zu denken gibt.
XI.
Keine andere Kirche ist mir bekannt, wo auf vergleichbar vielgestaltige, dichte und intelligente Weise (dabei niemals plakativ) Ästhetisches zur weiterführenden Perspektivierung von Glaubensbezügen ins Werk gesetzt wird, wie in der Onze-Lieve-Vrouwekathedraal von Antwerpen. Dies als Nachtrag, der noch sein musste.