Mit vier Imperativen (nimm! verbirg! achte! antworte!) bedrängt der Beter in Psalm 55 Gott in V. 2-3. Gott soll ihm zuhören und reagieren, denn der Beter weiß keinen Ausweg aus seiner bedrängten Lage. In den V. 4-5 begründet er den Hilfeschrei mit Anfeindungen. Warum er unter Druck gesetzt wird, wird nicht deutlich, aber es entsteht ein geschlossener Raum, aus dem er nicht herauskommt: Von der Seite bedrängen ihn Feinde, "auf" ihn wollen sie Unheil wälzen (V. 4), auch Todesängste kommen "über" ihn und Schrecken bedeckt ihn von oben (V. 5-6). Er ist eingeschlossen. In einem Selbstzitat (V. 7-9) will er sich Raum schaffen und entwirft einen Gegenraum.
2 Nimm zu Ohren, Gott, mein Flehen, verbirg dich nicht vor meiner Bitte um Gnade!
3 Achte auf mich und antworte mir!
Ich muss umherschweifen in meinem Grübeln und bin verstört.
4 Wegen der Stimme des Feindes, unter dem Druck des Frevlers,
denn sie wollen Unheil auf mich wälzen, im Zorn mich anfeinden.
5 Mein Herz muss beben in meinem Innern und Todesängste überfielen mich.
6 Furcht und Zittern will in mich hineinkommen und bedeckt hat mich Schrecken.
7 Da sagte ich: "Wer gäbe mir Flügel wie die einer Taube –
ich wollte davonfliegen und Ruhe finden.
8 Weit fort möchte ich fliehen, übernachten in der Wüste. Sela.
9 Eilen wollte ich zu einem für mich sicheren Ort vor dem rasenden Wind, vor dem Sturm."
Selbst die Wüste, normalerweise ein lebensfeindlicher Raum, sie wäre es, in der er sich sicher und befreit fühlen würde.
Diese erste Strophe (V. 2-9) hatte mit dem Vokativ "Gott!" begonnen, an ihn in vier Imperativen appelliert und dann die Ausweglosigkeit und den Traum vom Ausbruch in der 3. Person dargestellt: Wer gäbe mir Flügel …
"Verschling, mein Herr, spalte ihre Zunge"
Die zweite Strophe (V. 10-16) beginnt mit dem Vokativ "mein Herr" und zwei Imperativen: Verschling! spalte! (V. 10). Wiederum folgt die Darstellung der Umzingelung in der 3. Person (V. 11-12). In den V. 13-15 spricht der Beter in Ich-Du-Rede seinen zum Feind gewordenen Freund in direkter Rede an und schließt in V. 16 mit einem Untergangswunsch für alle seine Gegner.
10 Verschling, mein Herr, spalte ihre Zunge,
denn ich habe gesehen Gewalt und Streit in der Stadt!
11 Tag und Nacht umkreisen sie sie auf ihren Mauern,
Unheil und Mühsal sind in ihrem Innern.
12 Verderben ist in ihrem Innern,
nicht weicht von ihrem Marktplatz Erpressung und Betrug.
13 Denn nicht ein Feind beschimpft mich – das könnte ich ertragen –
nicht einer, der mich hasst, tritt groß gegen mich auf – vor dem könnte ich mich verstecken.
14 Vielmehr du, ein Mensch mir gleichgestellt, mein Freund und mein Vertrauter,
15 die wir miteinander sehr angenehmen Umgang pflegten,
im Hause Gottes einhergingen im Gewühl.
16 Überraschend soll der Tod über sie kommen,
lebend sie sollen in die Unterwelt hinabfahren,
denn Bosheiten sind an ihren Wohnorten, in ihrem Innern!
Der Beter fordert Gott auf, die Feinde zu beseitigen, speziell ihre Zunge zu spalten, mit der sie schon lange züngeln wie eine Schlange. Die Anfeindung, die der Beter erlebt, ist nicht nur ein Privatproblem. Die ganze Stadt, in der der Beter leben muss, ist rings herum und bis ins Zentrum hinein von "Gewalttat und Streit" bestimmt, von "Unheil und Mühsal". Seine persönlichen Konflikte sind Teil eines gesellschaftlichen Kriegs. Bestimmte Leute, eine Art Mafia, umzingeln die Stadt, belauern die Bewohner. "Erpressung und Betrug" bestimmen das Wirtschaftsleben (V. 10-12). Keiner kann dem entkommen. Der ganze Raum ist davon erfasst, die ganze Zeit (V. 11: "Tag und Nacht", vgl. V. 18). Stadtmauern, die schützen sollten, wurden Gefängnismauern.
Freundschaft verkehrte sich in Furcht
Am schlimmsten aber ist für den Beter, dass ein einstiger Freund die Seiten gewechselt hat (V. 13-15). Es war ein sehr naher Freund, der ihn in- und auswendig kannte, der alles über ihn weiß, mit dem er viele gemeinsame Bekannte hatte – einer, vor dem er sich nicht mehr verstecken kann, der weiß, wo er den früheren Freund verletzen kann. Früher teilten sie die erhebendste aller Freuden: die gemeinsame Jerusalemwallfahrt in feiernder Menge, das "Hochamt" im Tempel. Damals war der Beter umgeben von Gleichgesinnten, nicht von Gewalt und Betrug. Damals war er in vertrautester Beziehung zum Freund. Gott war einst in der Mitte ihrer Freundschaft. Jetzt muss Gott leider einschreiten zugunsten des Beters, den Todesangst befiel (V. 5): Sie selbst sollen vom Tod hinweggerafft werden, in die Totenwelt fahren, denn von Bosheit sind sie erfüllt "im Innern" und verbreiten sie an "ihren Wohnorten" (V. 16). Mit solchen Fluchwünschen im Gebet delegiert der Beter das Vorgehen gegen die Übeltäter an Gott und wählt für sich Gewaltlosigkeit: Führe du, Gott, den Schlag gegen die, die Unrecht tun, damit ich es nicht tun muss!
Mit einem betonten "ich" rahmt der Beter seine dritte Strophe in V. 17 und 24:
ich (V. 17) – du aber – ich aber (V. 24)
Auch in dieser dritten Strophe macht die Nennung Gottes den Anfang. Hier aber durchziehen die Erwähnungen Gottes den ganzen Text:
Gott-JHWH (V. 17) – Gott-El (V. 20) – JHWH-Gott (V. 23f.).
Die acht Erwähnungen Gottes im Psalm verteilen sich so, dass in der ersten Strophe nur V. 2 "Gott" nennt, in der zweiten rahmen "mein Herr" in V. 10 und "Gott" in V. 15 die Strophe, die dritte ist von fünf Nennungen durchzogen. Die Gottesgegenwart verdichtet sich, schwillt an – jedenfalls wünscht sich das der Beter.
17 Ich, zu Gott muss ich rufen, und JHWH wird mich retten.
18 Am Abend und am Morgen und am Mittag muss ich grübeln und seufzen
und er hörte auf meine Stimme.
19 Er löste mein Leben wohlbehalten (in Frieden) aus, dass sie mir nicht zu nahe kommen, denn viele waren sie um mich.
20 Hören wird Gott und ihnen antworten, thront er doch seit Urzeiten – Sela –
die sich nicht ändern und Gott nicht fürchten.
21 Einer streckte seine Hand aus gegen seinen Friedensverbündeten, entweihte seinen Bund.
22 Glatt waren die butterigen Äußerungen seines Mundes, aber Krieg hatte er im Herzen.
Sanft waren seine Worte mehr als Öl und doch waren sie gezückte Dolche:
23 "Wirf auf JHWH deine Sorge und er wird dich erhalten,
in Ewigkeit lässt er nicht wanken den Gerechten."
24 Du aber, Gott, lass sie hinabsteigen ins Loch der Grube.
Blutgierige und betrügerische Menschen sollen nicht erreichen die Hälfte ihrer Tage.
Ich aber vertraue auf dich.
In dieser trostlosen Lage bleibt dem Beter nur das unablässige Gebet und das Vertrauen, JHWH werde ihn retten. Absichtlich sagt er in V. 17 und 23 "JHWH": Gott, der "Ich-bin-da" (Ex 3,14) soll für ihn da sein. Herrscht die Bedrückung nach V. 11 "Tag und Nacht", fleht der Beter "am Abend und am Morgen und am Mittag" (V. 18) – den drei Gebetszeiten von Dan 6,11 entsprechend (der liturgische Tag beginnt mit dem Abend). Bislang hat Gott ihn erhört und verhindert, dass die Feinde dem Beter zu nahe kommen konnten, auch wenn sie in der Überzahl waren (V. 19). Er hofft aber auf eine endgültige Erledigung der Bedränger.
Gott als letzte Hoffnung
Bei denen auf Bekehrung zu hoffen, ist aussichtslos, sie werden sich nicht ändern. Der aber, der seit Urzeiten thront, Gott, hat mehr Ausdauer und ist ihnen überlegen (V. 20). Noch einmal wie schon in V. 10-12 und 13-15 kommt der von den Feinden insgesamt (V. 19-20) zu dem verräterischen Freund (V. 21-23). Dieser hat einen, mit dem er in Frieden war, mit dem er in einem Bund stand, verraten. Seine heuchlerischen Worte entsprachen nicht seinen Gedanken. Lind wie Butter und Öl waren seine aalglatten Reden und waren doch gezückte Dolche für den Krieg. Wie die Spötter in Ps 22,9 verweist der ehemalige Freund auf Gottes Hilfe. Er heuchelt noch religiöse Gemeinschaft wie ehedem (V. 15), meint aber in Wahrheit: Gott soll dir helfen – ich werde es jedenfalls nicht tun.
Wie V. 16 am Ende der zweiten Strophe wünscht auch V. 24 am Ende der dritten, die Feinde mögen endgültig beseitigt werden. "Blutgierigen und betrügerischen Menschen", denen also, die für Gewalt (V. 10) und Betrug (V. 12) in der Stadt verantwortlich sind, soll das Handwerk gelegt werden, indem sie vorzeitig abtreten müssen. Eine Vertrauenserklärung beschließt den Psalm, das letzte Wort ist "auf dich".