Der Psalm 51, das berühmte "Miserere", ist der Bußpsalm par excellence. Die Überschrift weist ihn David zu. Er habe ihn gesprochen, als Natan zu ihm gekommen war (2 Sam 12), da er zu Batseba, der Frau seines treuesten Offiziers, "gekommen" war – zum Ehebruch (2 Sam 11).
1 Für den Musikmeister. Psalm von David.
2 Als kam zu ihm Natan, der Prophet, weil er gekommen war zu Batseba.
Bitte um Befreiung von Blutschuld
Tatsächlich bittet Ps 51,16 um Befreiung von Blutschuld, hat doch David Batsebas Mann Urija ermordet (2 Sam 11,15; 12,9). Auch Davids schnörkelloses Bekenntnis vor Natan in 2 Sam 12,13 ("Ich habe gegen den Herrn gesündigt!") wird von Ps 51,6 aufgenommen.
Das Gedicht selbst besteht aus zwei Haupteilen und einer Coda. Die Stichwörter "abwischen" – "walken" – "reinigen" in V. 3-4 kehren in V. 9 und 11 rückläufig ("palindromisch") wieder und grenzen so die erste Strophe ab – die Sündenstrophe. Die Palindromie "Herz" – "Geist" in V. 12 (und 13-14) sowie "Geist" – "Herz" in V. 19 rahmen die zweite Strophe, die "Gnadenstrophe". Danach folgt eine Coda (V. 20-21) außerhalb der Gedichtstruktur.
3 Gnade mir, Gott, nach deiner Huld!
Nach der Vielheit deines Erbarmens wisch ab meine Rebellionen!
4 Vielfältig walke mich von meiner Schuld und von meiner Sünde reinige mich!
5 Ja, meine Rebellionen – ich kenne sie. Und meine Sünde – vor mir ist sie immer.
6 Dir, dir allein habe ich gesündigt. Und das Böse in deinen Augen, ich habe es getan.
So bist du im Recht, wenn du redest, du bist lauter, wenn du urteilst.
7 Siehe, in Schuld wurde ich gekreißt, in Sünde ward schwanger (heiß) mit mir meine Mutter.
8 Siehe, Wahrheit gefällt dir im Verborgenen,
und im Verschlossenen lässt du mich Weisheit erkennen.
9 Entsündige mich mit Ysop, damit ich rein werde!
Walke mich, dann werde ich mehr als Schnee weiß sein!
10 Lass mich hören Jauchzen und Freude! Jubeln sollen Knochen, die du zerschlugst!
11 Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden, und all meine Schulden wisch ab!
Zwölf Mal spricht David in V. 3-11 von "Sünde", "Schuld", "Rebellion", "Bösem". David bekennt für sich persönlich, aber auch als König des Zwölfstämmevolkes, bei dem nichts einfach nur privat ist. Eine wahre Sündenflut ergießt sich aus ihm heraus vor Gott. Der Beter ertrinkt in Schuld. Wie kann er so schonungslos ehrlich sein? Er kann es, weil er weiß, wer Gott ist: "Gnade" – "Huld" – "Erbarmen" eröffnen den Psalm und stehen vor allem anderen in V. 3. Vor Gott, dem reinen Erbarmen kann der Mensch grundehrlich werden und offen zugeben, wie es wirklich um ihn steht. Nur vor Gott, der reine Liebe ist, kann der Mensch ganz zu sich stehen.
Vom äußerlichen "Abwischen" über das "Durchwalken" bis zur (rituellen) "Reinigung" will er, dass der Reinigungsprozess immer weiter nach innen geht, denn seine Grundverdorbenheit kann er nicht früh genug datieren: Seit der Geburt? Ach was: seit der Empfängnis (V. 7)! Der Ysopzweig in V. 9 dient der rituellen Reinigung. (Num 19,18; Heb 9,19). David will in V. 10 (und 16) wieder zugelassen werden zum öffentlichen Gottesdienst, zu Prozessionen und Wallfahrten, von denen die Blutschuld ihn ausgeschlossen hat.
Bitte um Neuerschaffung
Da David nun erkannt und anerkannt hat, dass seinem (staatlichen!) Mord immer schon eine subtilere Bereitschaft zur Gewalt vorausgegangen war (Mt 5,21f.), bittet er Gott um Neuerschaffung, denn Vergebung ist ein Schöpfungsakt, den nur Gott setzen kann. Batseba mag ihm verziehen haben, was er ihr angetan hat. Was er Urija angetan hat, kann nur der Schöpfer vergeben.
12 Ein reines Herz erschaff mir, Gott! Und einen beständigen Geist erneuere in meinem Innern!
13 Verweis mich nicht von deinem Angesicht;
und deinen heiligen Geist, nimm ihn nicht von mir!
14 Lass zurückkehren mir das Entzücken deiner Rettung
und mit einem bereitwilligen Geist rüste mich aus!
15 Ich will lehren Rebellierende deine Wege und Sünder, zu dir werden sie zurückkehren.
16 Entreiß mich aus Blutschuld, Gott, Gott meiner Rettung!
Bejubeln soll meine Zunge deine Gerechtigkeit.
17 Mein Herr, meine Lippen tu auf! Dann wird mein Mund künden dein Lob.
18 Ja, nicht ergötzt dich ein Schlachtopfer. Ich gäbe es dir. Ein Brandopfer gefällt dir nicht.
19 Schlachtopfer für Gott sind ein zerbrochener Geist.
Ein Herz, zerbrochen und zerschlagen, Gott, verachtest du nicht.
Von ganz innen, im "Herzen" und im "Inneren" muss David erneuert werden (V. 12), wenn die Umkehr nicht oberflächlich bleiben soll. Gott selbst muss dann auch durch seinen heiligen Geist für Stabilisierung des erneuerten Geistes sorgen (V. 13-14). Dann muss die Erneuerung aber auch nach außen Wirkung zeigen: Im Zeugnis für den vergebenden und rettenden Gott vor anderen (V. 15) und schließlich indem "Zunge", "Lippen" und "Mund" öffentlich Gottes Lob verkünden (V. 16-17).
David weiß, dass absichtliche Verbrechen nicht mit rituellen Opfern gutgemacht werden können (Lev 4-5). Die gebrochene Beziehung zu Gott kann damit nicht wiederhergestellt werden. Dazu braucht es wirkliche Zerknirschung und Reue des Herzens und Geistes (V. 18-19). Daher hatte David in 2 Sam 12,5 auch tatsächlich ein Todesurteil über den von Natan anonymisierten Täter gesprochen, das aber Gott durch Natan aufgehoben hat (2 Sam 12,13), weil David ein schnörkelloses Bekenntnis ohne jede Ausflucht abgelegte. Wenn aber die gestörte Beziehung zu Gott durch aufrichtige Reue und ein ehrliches Bekenntnis wiederhergestellt ist, dann ist Gott sehr wohl gewillt, einen solchen Büßer wieder in die Kultgemeinschaft aufzunehmen, wie David es in Ps 51,10.16 erbeten hat. Dann feiert Gott sehr gerne wieder mit seinem Volk und will ihm in der Liturgie begegnen, nimmt "gerechte Opfer" an, wie es die Coda ausdrückt:
20 Tu Gutes in deinem Wohlgefallen an Zion, bau auf die Mauern Jerusalems!
21 Dann werden dich ergötzen gerechte Schlachtopfer, Brand- und Ganzopfer.
Dann werden aufsteigen auf deinem Altar Stiere.
Herr, öffne meine Lippen!
Der König, der für sein persönliches Verbrechen auch persönliche Vergebung von Gott erfahren hat, bittet abschließend für das ganze Volk um Erneuerung (hier mag er gedacht sein als Prophet, der die künftige Zerstörung Jerusalems voraussieht: 2 Kön 25,10). Denn die Verbrechen eines Königs beschädigen nicht nur sein persönliches Verhältnis zu Gott, sondern das des ganzen Volkes. "Gott" wird in Ps 51 genau sieben Mal genannt (V. 3.12.16.19; V. 17: "mein Herr"). Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit und Vollständigkeit. Dabei ist die Verteilung vielsagend: In der Sündenstrophe (V. 3-11) steht "Gott" nur eingangs in V. 3, wo als Fundament des ehrlichen Bekenntnisses seine Gnade, Huld und sein Erbarmen genannt werden. In der Gnadenstrophe aber (V. 12-19) steht er sechs Mal, hier erst ist volle und durchgehende Gottesgegenwart. Das Fehlen der Nennung Gottes in V. 3b-11, in der Sündenflut, bedeutet seine Abwesenheit im Schuldzusammenhang, aber schließlich auch sein "Gesicht-Verbergen" vor den Sünden (V. 11).
Paulus zitiert Ps 51,6 in Röm 3,4, um zu zeigen, dass Gott im Recht ist, wenn er alle Menschen für vergebungsbedürftige Sünder hält. "In Sünden geboren" nennen Jesu Gegner den von ihm geheilten Blindgeborenen mit Ps 51,7, weil sie fälschlich glauben, seine Blindheit von Geburt an verdanke sich seiner Sündhaftigkeit – wie es ja auch Jesu Jünger vermutet hatten (Joh 9,2).
Ps 51 gehört zu den Sieben Bußpsalmen der Kirche (mit Pss 6, 32, 38, 102, 130, 143) und hat jahrhundertelang das Morgengebet der Kirche bestimmt. Wenigstens seit der Benediktsregel (Nr. 13) bis zum Tridentinischen Brevier war der Bußpsalm an allen Werktagen der zweite Psalm der Laudes. Mit der Reform des Stundengebets nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde Ps 51 der eröffnende Psalm in den Laudes nur noch an allen Freitagen. Vers 9 von Ps 51 hat eine besondere Bedeutung in der Liturgie der Osterzeit. Er wird gesungen zur Tauferneuerung: Asperges me, Domine, hysopo et mundabor, lavabis me et super nivem dealbabor. Vers 17 aber eröffnet seit über 1.500 Jahren das Stundengebet der Kirche an allen Tagen: Herr, öffne meine Lippen!