Der heute zu betrachtende Psalm 48 besteht aus vier Strophen: Die erste Strophe (V. 2-4) ist ein Bekenntnis zum Zion als dem wahren Gottesberg. Die zweite Strophe (V. 5-8) berichtet von einer vergangenen Erfahrung ebendort. Die dritte Strophe (V. 9-11) ist ein Bekenntnis zu dem dort erfahrenen Gott. Die vierte Strophe (V. 12-15) ist ein Hymnus, der Juda und alle Nationen zum Lob Gottes aufruft.
2 Groß ist der Herr und mächtig gepriesen.
In unserer Gottesstadt ist sein heiliger Berg.
3 Schön an Höhe ist diese Freude der ganzen Erde.
Der Berg Zion ist der "ferne Zaphon im Norden", die Hauptstadt des Großkönigs.
4 Ein Gott ist in ihren Palästen; er hat sich bekannt gemacht als Fluchtburg.
Die erste Strophe wird zusammengehalten von den Stichwörtern "Gott – Berg (V. 2) – Berg (V. 3) – Gott (V. 4)". Es spricht ein Wir und bekennt sich zum Zion als dem wahren Gottesberg – in Absetzung von den Götterbergen anderer Völker und Religionen, wie etwa dem Olymp. Schon das erste Wort "groß" richtet den Blick der Leser oder Hörer in die Höhe. "Mächtig gepriesen" heißt, wie V. 11 noch unterstreichen wird: bekannt und gerühmt bis an die Grenzen der Erde. An Größe (vertikal) und Ruhm (horizontal) übertrifft der Gott Israels alle anderen.
"Vollkommen an Schönheit, die Freude der ganzen Erde"
Damit gibt V. 2a das Thema für den ganzen Psalm an. V. 2b nennt nun das Thema der ersten Strophe: den Gottesberg. Mit der "Gottesstadt" knüpft Ps 48 an Ps 46,5 an. Jerusalem ist deswegen die Gottesstadt, weil in ihr der Zionsberg ist, der Berg mit dem Heiligtum des wahren Gottes. Statt "sein heiliger Berg" könnte man auch übersetzen "der Berg seines Heiligtums" (hebr. qodscho; auf Arabisch heißt Jerusalem al quds). V. 3 wiederholt den Blich in die Höhe (vertikal) und über die ganze Erde (horizontal). Der Zionsberg ist dadurch "schön", dass er sich mit der darauf angelegten Stadt Jerusalem terrassenförmig nach oben windet. An Höhe ist ihm zwar der benachbarte Ölberg überlegen, nicht aber an Schönheit. Auch Klgl 2,15 sagt, er sei sprichwörtlich schön gewesen:
Vollkommen an Schönheit, die Freude der ganzen Erde.
Die Kanaanäer glaubten, der weit im Norden gelegene Berg Zaphon sei der Götterberg, auf dem El und Baal wohnen (vgl. Jes 14,13). Ps 48 sagt: der wahre Zaphon ist unser Zion. "Der höchste Berg im äußersten Norden" ist ein mythologischer Ausdruck für Transzendenz. Der Psalm nennt (das nicht genannte) Jerusalem die Hauptstadt, d.h. Residenz des "Großkönigs" (vgl. Ps 47,3). Andere überirdische Wesen sind im Vergleich dazu allenfalls Kleinfürsten. In Israels Geschichte hat dieser Gott sich bekannt gemacht als rettende Fluchtburg (so schon Ps 46,8.12). Die zweite Strophe erzählt von einer entsprechenden Erfahrung.
5 Denn siehe, die Könige verabredeten sich. Sie vergingen sogleich.
6 Sie also, kaum blickten sie auf, so staunten sie, gerieten in Panik, stürzten davon.
7 Zittern packte sie dort wie Wehen die Gebärende.
8 Durch einen Sturm von Osten kannst du zerschmettern die Tarschisch-Schiffe!
Mit "denn siehe" verweist die zweite Strophe auf eine geschichtliche Erfahrung, die das Bekenntnis der ersten Strophe als wahr erwiesen hat. Ein Bündnis von "Königen" rückte mit einer Flotte gegen die Stadt Gottes, des "Großkönigs", an. Mit dem stakkatohaften "Ankunft – Staunen – Panik – Sturz" wird die Plötzlichkeit ihres Untergangs dargestellt. Die Wehen der Gebärenden sind ein in der Bibel übliches Bild (Jer 6,24; Mi 4,9) für das Grauen, von dem die Männer, die damals bei der Geburt nicht dabei sein durften, nur ohnmächtig hörten, ohne helfen zu können. Die Strophe mündet in ein Bekenntnis zu Gott aus dieser Erfahrung. Tarschisch war vermutlich die griechische Hafenstadt Tartessos im Süden des heutigen Spanien. Ihre Handelsschiffe konnten das Mittelmeer durchqueren (1 Kön 10,22) und waren sturmtaugliche Kolosse. Aber wenn Gott will, kann er durch den gefürchteten Orkan, von dem auch Herodot berichtet (Hist., VII 188; Jona 1,3-4; Apg 27,14) die Riesenschiffe untergehen lassen. Wir wissen heute nicht mehr, welches Ereignis der Dichter im Blick hat.
Mit seinem Handeln hat Gott sich einen Namen gemacht
Gott kam in der zweiten Strophe nicht vor, obwohl V. 8 ihn natürlich als Verursacher des für Jerusalem rettenden Sturms meint. In der dritten Strophe wird der Vorgang bedacht als Erfahrung von Gottes Eingreifen:
9 Wie wir es gehört hatten, so sahen wir es in der Stadt des Herrn Zebaot,
in unserer Gottesstadt, der Gott festen Stand geben wird in Ewigkeit.
10 Wir haben bedacht, o Gott, deine Loyalität im Innern deines Tempels.
11 Wie dein Name (=Ruf), o Gott, so (reicht) dein Loblied bis an die Enden der Erde,
ist doch von Gerechtigkeit voll deine Rechte.
Die betende Reflexion Israels weiß, wer hinter der spektakulären Rettung stand: der Herr, der eine "Heerschar" ist, also eine Allmacht. Wie sie es "gehört hatten" in der Überlieferung des Glaubens (vgl. erste Strophe), "so sahen" sie es jetzt mit eigenen Augen. Auch für die Zukunft vertrauen sie auf Gottes Schutz "in Ewigkeit". Die V. 10-11 formulieren ein nun erfahrungsgesättigtes Bekenntnis. In der Liturgie feierten sie und bedachten sie die erfahrene Loyalität Gottes. Mit seinem Handeln hat Gott sich einen Namen gemacht. Seine Reputation hat sich ausgebreitet bis an die Enden der Erde. Alle Welt weiß nun, dass er den Seinen Recht schafft.
Mit dem Wort "deine Rechte" setzt der Dichter ein subtiles Spiel fort. Die "Rechte" zeigt (beim ostwärts blickend gedachten) Menschen nach Süden. Vom "Norden" hatte V. 3 schon gesprochen, vom "Osten" V. 8. V. 11 spricht also nun auch noch vom "Süden" und V. 14 wird vom "Westen" sprechen, denn das Wort "später/hinter" bedeutet (beim ostwärts blickend gedachten) Menschen den Rücken, die nach Westen zeigende Seite. Der Dichter hat ganz raffiniert alle vier Himmelsrichtungen untergebracht, weil er die Universalität des Großkönigtums Gottes und seines Ruhms ausdrücken will. Vom nördlichen Gottesberg ausgehend vollzieht sich eine Bewegung durch den rettenden Ostwind nach Süden und schließlich nach Westen, wohin Gottes Ruhm schließlich gelangt. Im Zentrum der Bewegung liegt der Zion, der allein wahre Gottesberg. Der "Lobpreis bis an die Enden der Erde" (V. 11) wird in der letzten Strophe ausformuliert:
12 Freuen soll sich der Berg Zion, jauchzen sollen die Töchter Judas,
um deiner Rechtssprüche willen.
13 Umstellt den Zion, umkreist ihn, zählt seine Türme!
14 Setzt eure Aufmerksamkeit auf seine Vormauer, durchpflügt seine Paläste,
damit ihr erzählen könnt einem späteren (= im Westen gelegenen) Geschlecht:
15 Ja, da ist Gott, unser Gott für immer und ewig!
Er wird uns führen über den Tod hinaus.
Auf dem Gottesberg Zion wohnt der wahre Gott
Jerusalem und Juda sollen sich freuen und jubeln (zwei Aufforderungen), d. h. die Hauptstadt und die Landstädte ("Töchter"). Dann geht es mit männlichen Imperativen weiter, die sich an die oben genannten Könige (V. 5) wenden, an sie, ihre Völker und die Leser des Psalms. Fünf Imperative vervollständigen die beiden Aufforderungen an Jerusalem und Juda zu sieben – der Zahl der Vollkommenheit. Alle sind eingeladen, die unversehrt gebliebene Stadt zu besichtigen und zu verstehen, wer ihr wahres Bollwerk ist, ihre Fluchtburg (V. 4). Der Blick geht von außen nach innen: Die Türme sind vollzählig geblieben. Die Vormauer, Glacis, die vor der eigentlichen Festungsmauer steht und das Heranrücken mit Rammböcken und Leitern verhindern soll, ist unversehrt. Die Paläste in der Stadt mag man gern "durchpflügen", d.h. genau inspizieren: kein Riss, keine Brandspuren! Die eigentliche Festungsmauer wird gar nicht erwähnt, denn nicht das Bollwerk soll besichtigt werden, sondern die unversehrte Stadt, deren wahre Festungsmauer Gott ist.
Von dieser genauen Inaugenscheinnahme, vom "Zählen" (V. 13) soll der Weg führen zum "Erzählen" (V. 14): In allen Generationen und bis in den äußersten Westen soll sich die Rühmung von Gottes Großtaten in Zeit und Raum ausbreiten: Hier auf dem Gottesberg Zion wohnt der wahre Gott, nicht auf dem Zaphon oder dem Olymp.
"Unser Gott" ist zunächst der von Jerusalem und Juda, soll aber auch alle Völker ins "Wir" einschließen. Sie sollen sich von den heidnischen Göttern zum wahren Gott als ihrem Gott bekehren. Denn der rettet sein Volk wieder und wieder vor Todesgefahren, ja vermag schließlich sogar "über den Tod hinaus" führen.
In der Bergpredigt zitiert Jesus in Mt 5,35 Ps 48,3: "Jerusalem … ist die Stadt des großen Königs".