Psalm 36 – Vom Flüstern des BösenDer Psalter als Buch des Messias

Selbst fromme Menschen wie König David ertappen sich manchmal bei schlimmen Gedanken. In Psalm 36 stellt er völlig schockiert fest, dass es selbst in seinem eigenen Herzen das Flüstern des Bösen gibt. Was hilft dagegen?

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© Jessica Mangano auf Unsplash

Schon die Überschrift zu Psalm 36 fällt aus dem Rahmen. Fast alle Psalmen von Ps 25 bis Ps 37 tragen im Titel "von David", d.h. der Psalm handelt von David, und als Sprecher des Psalms ist dieser König zu denken. Aber in der Überschrift zu Ps 36 steht zusätzlich "vom Knecht des Herrn":

1 Für den Musikmeister. Vom Knecht des Herrn, von David

Nur die Überschrift zu Ps 18 führt denselben Titel auf. Die erste Funktion dieses Titels ist die direkte Anknüpfung an den Vorgängerpsalm 35, wo es am Ende in V. 27 heißt:

Groß ist der Herr, der Gefallen hat am Frieden seines Knechts!

Eine Verbrecherstimme im eigenen Herzen

Diese Art der Psalmenverkettung ist sehr häufig. Immer wieder knüpfen Psalmen eingangs an das Ende des vorangehenden Psalms an. So auch hier. Aber die Überschrift macht auch eine inhaltliche Aussage: David will aufrichtig ein Diener Gottes sein und doch kennt er das Böse in seinem Innern:

2 Spruch des Treubruchs zum Frevler – inmitten meines Herzens!

Den Ausdruck "Spruch des" gibt es in der Bibel 370 Mal, fast immer als "Spruch des Herrn". David horcht also in sich hinein in der Hoffnung, dort Gottes Wort zu begegnen. Doch welch ein Schock! In seinem eigenen Herzen, wo er das nie vermutet hätte, hört er hässliches Geflüster der personifizierten Sünde. Eine Verbrecherstimme im eigenen Herzen! Von anderen vermutet das jeder – aber bei mir? David stellt fest, dass er in diesem Moment sich nicht von jedem gewöhnlichen Verbrecher unterscheidet – wenn er nicht gegensteuert. Die erste Strophe beschreibt nun weiter, wie so ein Verbrecher zu dem wird, was er geworden ist, was David aber keinesfalls werden will:

2b Kein Erschrecken vor Gott steht je vor seinen Augen.
3 Denn umschmeichelt hat er sich selbst in seinen Augen (zu sehr).
dass er finden könnte seine Schuld, um (sie) zu hassen.

Ein solcher Mensch ist derart selbstverliebt, dass er Fehler nur bei anderen, aber nie bei sich selbst sieht. Er hat immer recht. Wie wird ein Mensch derart selbstverschlossen? Er hat nur Augen für sich und sieht nichts außer sich und sich in polierter, geglätteter Form! Zu Gott hin erhebt er seine Augen nie, dass ihm klar würde, dass er sein Handeln vor einem Größeren verantworten muss. "Erschrecken vor Gott" würde seinen Panzer brechen, seine Augen für seine Umgebung öffnen. Dieses Verantwortungsbewusstsein fehlt ihm. So bleibt er in sich verschlossen und hat nur Augen für sich. "Dem trügerischen Selbstbild entspricht ein verlogenes Wesen" (Böhler, Psalm 1–50, HThKAT, 650):

4 Die Reden seines Mundes sind Unheil und Hinterhalt.
Er hat aufgehört, Einsehen zu haben, um gut zu handeln.
5 Unheil wird er auf seinem Lager ausdenken,
wird sich auf einen unguten Weg aufstellen, das Böse nicht verwerfen.

Weg aus der Verschlossenheit des Sünders

Da seine Augen durch ihn selbst verstellt sind, hat er "aufgehört, Einsehen zu haben". Da ihm Selbstkritik fremd ist, kann er nicht abwägen und das Gute erkennen, um es zu tun. Sein Denken ("Unheil ausdenken") ist verdorben, daher sein Handeln ("unguter Weg"), und sein schlimmes Tun rechtfertigt er dann auch noch und verwirft es nicht als böse, es scheint ihm nicht verwerflich. Jesus sagt: "Das Auge gibt dem Körper Licht" (Mt 6,22). Wenn diese Fenster aber durch das eigene Ego verstellt sind, mauert sich ein Mensch in sich selber ein, "sieht weder Gott noch sein wahres Selbst noch die Welt um sich herum" (Böhler 651).

David erschrickt über die Folgen dieses Hörens auf die innere Verbrecherstimme und will nicht so enden. Er bricht aus der Verschlossenheit des Sünders heraus und öffnet sich zum Du:

6 Herr, an die Himmel reicht deine Loyalität
und deine Treue bis zu den Wolken,
7 deine Gerechtigkeit (ist weit) wie die Gottesberge,
deine Urteile (tief wie) die große Urflut.
Mensch und Tier – du rettest sie, Herr!

Er richtet den Blick nach oben zum Himmel, richtet sich damit auf aus der Verkrümmung in sich selbst. Er öffnet sich für die Weite um ihn herum. Die Sünde hätte ihn in sich verschlossen, Gott aber weitet ihn. David durchschreitet den Weltenraum. Zunächst durchmisst er die Vertikale, blickt in die Höhe, zum Himmel, zu den Wolken, betrachtet sodann die Horizontale, den Kreis der Berge am äußersten Horizont. "Gottesberge" meint hier "gewaltige Berge", der Bayer könnte sagen "sakrische Berge". Schließlich schweift sein Blick über das Land hinaus in die Tiefe der Meere. Gegen die "unerträgliche Enge des Sünderherzens … entsteht hier jetzt ein Gegenbild der Weite" (Lohfink).

"In deinem Licht werden schauen wir Licht"

In dieser Weite zeigen sich Eigenschaften Gottes, die denen des egoistischen Sünders diametral entgegenstehen ("Schuld", "Unheil", "Hinterhalt", "Böses"): "Loyalität", "Treue", "Gerechtigkeit", "Urteile – vier Ausdrücke für das richtige Verhältnis zu anderen und zur Welt. Davon ist Gottes weiter Weltenraum erfüllt, und wer offene Fenster dafür hat, kann das auch wahrnehmen, dass die ganze Welt ein Raum für die Begegnung mit Gott ist. Das erste Wort der Strophe ist "Herr" – es ist auch das letzte. Mittendrin steht "Gott" (V. 7). Die ganze Strophe ist durchzogen vom "Du", das die erste Strophe, die Sünderstrophe nicht kannte. Gottes Zuwendung und Treue gilt dabei nicht nur allen Menschen, selbst den Tieren ist er zugewandt. Gott schafft für alle Weite und Lebensraum für alle Lebewesen! Das bewegt David zu einem staunenden Ausruf:

8 Wie kostbar ist deine Loyalität, o Gott,
so dass Menschen in den Schatten deiner Flügel flüchten können!
9 Sie laben sich am Überfluss deines Hauses,
und (aus dem) Bach deiner Wonnen ("Eden") wirst du sie tränken.
10 Denn bei dir ist die Quelle des Lebens,
in deinem Licht werden schauen wir Licht.

"Loyalität" meint ein gegenseitiges Treueverhältnis. Gott hält zum Menschen. Seine Loyalität ist kostbar weil verlässlich. Jeder findet darunter Schutz. Das Bild vom "Schatten deiner Flügel" erinnert einerseits an eine Henne, die ihre Küken unter ihre Flügel nimmt (Mt 23,37; Lk 13,34), vor allem aber an den Tempel von Jerusalem, wo über der Bundeslade zwei Keruben ihre Flügel ausbreiten (Ex 25,20; 1 Kön 6,23-28). Was finden die Menschen und andere Lebewesen dort im Tempel? Überfluss! "Schatten" – "Strom" – "Quelle" – "Licht" durchziehen die Strophe: die Außenglieder sind schützender Schatten und lebensnotwendiges Licht, die Innenglieder "Strom" und "Quelle" also Leben und Erfrischung. Der "Bach der Wonnen" erinnert an den Garten Eden, denn hebr. eden heißt "Wonne": Gen 2,10: "Ein Bach entspringt in Eden".

Wer sich der welterfüllenden Treue Gottes anvertraut, ist beschützt und reich versorgt in seiner Gegenwart. "In deinem Licht schauen wir Licht". "Licht sehen" bedeutet "leben" (Ps 49,20), denn in der Unterwelt sieht man kein Licht mehr. "In deinem Licht", in Gottes heller Gegenwart können wir leben. Nur hier sagt der Psalmist "wir", denn Gottes Treue stiftet Gemeinschaft, ein "Wir", das dem Ego des in sich selbst Verschlossenen fremd ist. Nun schließt David abschließende Bitten an:

11 Verlängere deine Loyalität zu denen, die dich kennen
und deine Gerechtigkeit denen, die gerade sind von Herzen!
12 Nicht trete mich der der Fuß des Hochmuts,
und die Hand von Frevlern vertreibe mich nicht!

Im weiten Raum Gottes kommen die Frevler zu Fall

David bittet darum, dass Gott denen, die ihn kennen, die anders als der Sünder in V. 2 Augen haben für ihn, seine Loyalität in die Länge ziehe, lange erhalte. Und dass er seine Gerechtigkeit lange walten lasse für die, die "gerade sind von Herzen", also nicht in sich verkrümmt. Das "Herz" in V. 11 schließt den Ring um das Gedicht mit dem "Herzen" in V. 2. Dazu muss die Macht der Übeltäter zurückgedrängt werden: "Hand und Fuß", die kommen wollen, um Schlimmes zu tun. David will von Leuten, wie er sie in V. 2–5 beschrieben hat, nicht aus Gottes Weite vertrieben werden in die enge Verschlossenheit, in der sie selber leben. Erinnerte "Eden" in V. 9 an den Garten Eden in Gen 2–3, so "vertreiben" (hebr. nud) an das Land Nod östlich von Eden (Gen 4,16), in das Kain vertrieben wurde, weil er sich der Versuchung zum Verbrechen nicht widersetzt hatte (Gen 4,7.14).

Der Schlussvers 13 ist zwar mit "Unheil" an V. 4-5 zurückgebunden, verbindet aber Ps 36 vor allem mit Ps 35 (V. 5.8.11: "stoßen", "fallen", "aufstehen").

13 Dort sind gefallen die Vollbringer von Unheil,
sie wurden umgestoßen und können nicht mehr aufstehen.

Am Ende von Ps 35, in V. 28, wollte David Gottes Gerechtigkeit meditieren, Ps 36,13 sagt: Ps 36 war so eine Meditation über Gottes Gerechtigkeit. "Dort" im weiten Raum Gottes kommen die Vollbringer von Unheil, das sie in V. 5 ausgedacht haben, zu Fall – und zwar endgültig.

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