Am Beginn des Bildungsweges steht eine Grundsatzentscheidung an. Es gibt eine Alternative zu dem bisweilen beschwerlichen Weg des Lernens und Reifens. Redegewandte Influencer werden auftreten und versuchen, den Unerfahrenen auf einen vielversprechenden Weg zu locken. Der Weisheitslehrer warnt seinen Schüler: Du musst damit rechnen, dass sie auf dich zukommen und versuchen werden, dich mit wohlklingenden Worten in ihre Gemeinschaft zu ziehen:
"Wenn sie sagen: 'Komm mit uns, […] wertvolle Güter werden wir finden, wir werden unsere Häuser mit Beute füllen. Wirf dein Los in unserer Mitte, ein einziger Beutel gehöre uns allen', mein Sohn, dann geh nicht auf dem Weg mit ihnen, halte deinen Fuß fern von ihrem Pfad!" (Spr 1,10–15).
Geschickt lässt der Weisheitslehrer in die Worte der Verführer seine eigene Bewertung miteinfließen. Auf diese Weise sollen dem noch Unerfahrenen die Augen geöffnet werden:
10 Mein Sohn, wenn Sünder dich verführen wollen, willige nicht ein!
11 Wenn sie sagen:
‚Komm mit uns, wir wollen auf Blut lauern,
wir wollen dem Unschuldigen auflauern ohne Grund!
12 Wie die Unterwelt wollen wir sie lebendig verschlingen,
und Untadelige wie diejenigen, die in die Grube hinabfahren.
13 Wertvolle Güter werden wir finden,
wir werden unsere Häuser mit Beute füllen.
14 Wirf dein Los in unserer Mitte,
ein einziger Beutel gehöre uns allen',
15 mein Sohn, dann geh nicht auf dem Weg mit ihnen,
halte deinen Fuß fern von ihrem Pfad!'
Je nach Standpunkt wird man die anschaulich geschilderte Bosheit der Übeltäter als realistische Beschreibung einer vor Raubmord nicht zurückschreckenden Bande verstehen oder als eine zugespitzte Darstellung von Verhaltensweisen, zu denen eine anfänglich falsche Entscheidung am Ende führen wird. Zweimal sagt der Text, dass es sich bei den Opfern um Unschuldige handelt; damit klingt das Motiv der verfolgten und leidenden Gerechten an, mit dem das Buch der Weisheit programmatisch eröffnet wird (Weish 1,18–2,24). Geht es im Buch der Weisheit um eine geistige Auseinandersetzung zwischen den Gottlosen und dem Gerechten, so in unserem Text um die Verfolgung unschuldiger Menschen aufgrund von Habgier. In beiden Fällen werden die Übeltäter scheitern. Das Stilmittel der wörtlichen Rede dient der Veranschaulichung und hebt die suggestive Macht der verlockenden Einladung hervor.
Ziel der vor Gewalt nicht zurückschreckenden Bande ist die Bereicherung. Nicht Besitz und Reichtum an sich werden kritisiert, sondern der unrechtmäßig erworbene Besitz, "wertvolle Güter", an denen Blut klebt. Das wird deutlich, wenn wir auf Spr 24,4 schauen. Denn dort werden mit genau dem gleichen Begriffspaar wie in Spr 1,13 dem Schüler "wertvolle Güter" versprochen. Dort sind sie jedoch nicht auf unrechte Weise erworben, sondern Folge eines klugen und weisen Verhaltens: "Durch Weisheit wird ein Haus gebaut, durch Umsicht gewinnt es Bestand. Durch Klugheit werden die Kammern gefüllt, mit wertvollen, köstlichen Gütern" (Spr 24,4). Wer jedoch auf krummen Wegen zu Reichtum kommen will, dessen Besitz hat keinen Bestand: "Wer unrechten Gewinn macht, zerstört sein Haus" (Spr 15,27).
Das Böse zerstört sich selbst
Der Lehrer begründet seine Warnung vor den Verlockungen der Übeltäter mit einem Motiv, das eine Grundanschauung weisheitlichen Denkens zur Sprache bring. Man könnte es mit einem Fremdwort "die Autodestruktivität des Bösen" nennen. Die Bösen richten sich am Ende selbst zugrunde. Gott muss da gar nicht eingreifen. Die Sünder sind nicht nur aggressiv nach außen, sondern – wenn man genauer hinschaut – auch nach innen. Sie prahlen, dem Blut anderer aufzulauern (V. 11), doch in Wahrheit "lauern sie ihrem eigenen Blut und ihrem eigenen Leben auf" (V. 18). Darauf läuft es am Ende hinaus. Eine ähnliche Denkform liegt auch Psalm 1 zugrunde. Auch dort greift Gott nicht ein, wenn es am Ende heißt: "Der Weg der Frevler führt in den Abgrund!" (Ps 1,6). Beide Texte verbindet das Motiv der zwei Wege. Die erste Lehrrede im Buch der Sprichwörter zeigt, dass der "viel versprechende" Weg der Sünder in den Abgrund führt. Mit "denn" leitet der Weisheitslehrer seine Begründung ein:
16 Denn ihre Füße laufen dem Bösen entgegen,
und sie eilen, um Blut zu vergießen.
17 Fürwahr, vergeblich wird das Netz bestreut
vor den Augen aller Vögel.
18 Sie aber – ihrem (eigenen) Blut lauern sie auf,
sie stellen ihrem (eigenen) Leben nach.
19 So sind die Pfade eines jeden, der auf unrechten Gewinn aus ist,
das Leben seines Besitzer nimmt er.
Schwer verständlich ist Vers 17. Das Bild stammt aus der Vogeljagt, mit dem Netz ist das Fangnetz gemeint; das Motiv begegnet häufig in den Psalmen. Wahrscheinlich bietet das Bild dem Weisheitsschüler bereits eine positive Identifikationsmöglichkeit an: Das Fangnetz wird mit Körnern bestreut, um Vögel anzulocken und zu fangen – doch vergeblich; sie erkennen den Trick und halten sich fern! Anders die Übeltäter: "Sie stellen ihrem eigenen Leben nach" (V. 18).
Vers 19 zieht ein Fazit. Zugrunde liegt die Grundform weisheitlichen Denkens, die uns noch in unterschiedlichen Variationen beschäftigen wird, der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang: "Unrecht Gut gedeiht nicht, Gerechtigkeit aber rettet vor dem Tod" (Spr 10,2). Doch hier in der ersten Lehrrede (Spr 1,8–19) wird erst einmal nur die eine, die negative Hälfte dieses weisheitlichen Grundsatzes betont. Die zweite Hälfte, die rettende Macht der Weisheit, kommt erst in der Fortsetzung zur Sprache (Spr 1,20–33).
Ein ausgefeiltes Lernkonzept
Eingeleitet wird die erste Lehrrede mit einem Höraufruf:
8 Höre, mein Sohn auf die Zucht (mûsar / paideía / disciplina) deines Vaters,
und verwirf nicht die Weisung (Tora) deiner Mutter,
9 denn ein Kranz der Anmut sind sie für dein Haupt
und ein Geschmeide für deinen Hals.
Der Text spielt an das Schema Israel, das "Höre, Israel!" (Dtn 6,4), an und stellt sich damit in die Tradition des deuteronomischen Lernkonzeptes. "Vater und Mutter" verweisen auf die Familie als dem ursprünglichen Ort der Erziehung, sind aber darüber hinaus offen für das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Für das Deuteronomium ist die Familie als Lehr- und Lerngemeinschaft – zumal nach dem Verlust von Tempel, Staat und Land – eine Institution, ohne die das Gottesvolk keine Zukunft hat. Deshalb folgt auf das "Höre, Israel!" die berühmte Kinderkatechse:
"Wenn dich morgen dein Sohn fragt: ‚Warum achtet ihr auf die Eidesbestimmungen und die Gesetze und die Rechtsentscheide, auf die der HERR, unser Gott, euch verpflichtet hat?‘, dann sollst du deinem Sohn antworten: ‚Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten und der HERR hat uns mit starker Hand aus Ägypten geführt […]" (Dtn 6,20–25).
Das deuteronomische Lernkonzept besteht aus einer engen Verbindung von Auswendiglernen und Verstehen; es eignet sich die Mnemotechnik der Schulbetriebs an und überträgt sie in die Welt der Familie. Wissenssoziologisch gesehen wird damit eine Gegenwelt zum kulturellen Assimilationsdruck einer fremden Herrschaft – damals der Assyrer, später der Babylonier, der Perser und der Griechen – aufgebaut und damit die Grundlage dafür geschaffen, die eigene kulturelle und religiöse Identität in Zeiten der Bedrängnis zu bewahren. Dazu gehören nicht nur die aus der Lernpsychologie bekannte körpergestützte Form des halblauten Memorierens auswendig gelernter Texte, sondern auch damit einhergehende rituelle Praktiken, die mehr oder weniger an jedem Ort durchgeführt werden können. Mit diesen "Identity-Markern" wird auf individueller und kollektiver Ebene eine Art spirituelles Immunsystem aufgebaut, das das Judentum über die Jahrhunderte hin davor bewahrt hat, den Assimilationstod zu sterben.
Nach dem Bekenntnis zu dem einen und einzigen Gott und dem Gebot der Gottesliebe als dem Hauptgebot folgt die Umsetzung in eine alltägliche Praxis der Aneignung und Verinnerlichung, ein Learning by doing:
"Und diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen ["Learning by heart – auswendig lernen!"]. Du sollst sie deinen Kindern wiederholen. Du sollst sie sprechen, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst. Du sollst sie als Zeichen um das Handgelenk binden. Sie sollen zum Schmuck auf deiner Stirn werden. Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und in deine Stadttore schreiben" (Dtn 6,6–9).
Das Buch der Sprichwörter überträgt nun diese identitätskonstituierende Form des religiösen Lernens auf das Projekt eines weisheitlichen Lernens; bereits die nicht zu überhörenden Anspielungen an das Deuteronomium zeigen, dass zwischen beiden Konzepten fließende Übergänge bestehen. Eine weitere Anspielung an das Deuteronomium liegt mit dem Begriff der Tora vor. Während der Vater mit der "Zucht" (mûsar / paideía / disciplina), dem offensichtlich etwas strengeren Teil des Lernens, in Verbindung gebracht wird, wird der Mutter die Unterweisung (Tora) zugeordnet. "Tora" dürfte hier als nomen rei actae zu verstehen sein, als ein Tätigkeitswort, das den Akt der Unterweisung bezeichnet. Gleichwohl dürfte von Ferne auch der Inhalt der Unterweisung mit anklingen, wie er in der deuteronomischen Tora, auf die Mose Israel im Lande Moab eingeschworen hat (Dtn 29,11), zur Sprache kommt: "Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennenlernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk" (Dtn 4,6f).
Ein exklusiver Weg
Das Ziel des Buches der Sprichwörter, so hat es der Prolog gesagt, besteht darin, den Schülern Weisheit und Bildung zu vermitteln, Klugheit, Wissen und Besonnenheit (1,2–4). In der ersten Lehrrede (1,8–19) wird dem Schüler anschaulich vor Augen geführt, dass er dieses Ziel von vornherein verfehlt, wenn er am Anfang eine falsche Grundsatzentscheidung trifft, wenn er den Versprechungen der falschen Leute auf den Leim geht. Da darf es keine Ambiguitätstoleranz geben. Im Folgenden (1,20–33) kommt nun die Weisheit selbst zu Wort. Auf ihren Ruf soll der Schüler hören. Das geht aber nur, wenn er zuvor die Einladung der Sünder ausschlägt. Der Weg der Weisheit ist ein Weg für alle, aber nicht für alles; in diesem Sinne ist er exklusiv, nicht inklusiv.