Nachdem der Weisheitslehrer seinen Schüler vor den falschen Versprechungen der Übeltäter gewarnt und gezeigt hat, dass deren Weg in den Abgrund führt (Spr 1,8–19), kommen nun die wohltuende Wirkung und der Erfolg einer weisheitlichen Lebensform zur Sprache (Spr 1,20–33). Erneut wählt unser Autor zur Veranschaulichung seines Anliegens das Stilmittel der wörtlichen Rede. Die Weisheit selbst kommt zu Wort. Sie erhebt ihre Stimme und ruft in der Öffentlichkeit wie eine Prophetin die Törichten und Unerfahrenen zur Umkehr auf:
20 "Die Weisheit ruft laut auf der Straße,
auf den Plätzen erhebt sie ihre Stimme.
21 Im größten Lärm ruft sie,
an der Stadttoren hält sie ihre Reden:
22 'Wie lange noch, ihr Törichten, liebt ihr Betörung,
gefällt den Zuchtlosen ihr dreistes Gerede,
hassen die Toren Erkenntnis?
23 Wendet euch meiner Mahnung zu!
Dann will ich auf euch meinen Geist ausgießen
und meine Worte euch kundtun.'"
Die spirituelle Seite der Weisheit
Bereits in den einleitenden Worten wird deutlich, dass der Weisheit eine spirituelle Dimension innewohnt. So sehr es bei dem im Buch der Sprichwörter präsentierten Bildungsprojekt um ein alltagstaugliches und erfahrungsbewährtes Wissen geht, so wird gleich zu Beginn doch in aller Deutlichkeit gesagt, dass dieses Wissen nicht in einem reinen Pragmatismus aufgeht; vielmehr wird es in einen umfassenden spirituellen Rahmen gestellt. Die Weisheit stellt sich selbst in die Nähe Gottes, wenn sie denen, die auf sie hören, die Verheißung gibt: "Dann will ich auf euch meinen Geist ausgießen und meine Worte euch kundtun" (V. 23). Die Vulgata übersetzt das hebräische Wort ruach wie auch sonst im Alten und Neuen Testament mit spiritus. Es ist also völlig korrekt, von einer spirituellen Dimension der Weisheit zu sprechen.
Erst vor diesem Hintergrund werden die grandiosen Versprechungen verständlich, mit denen die Weisheit ihre Einladung begründet; gewöhnlich werden diese in der Bibel mit Gott in Verbindung gebracht: "Wer aber auf mich hört, wohnt in Sicherheit, ihn stört kein böser Schrecken" (V. 33). Wie ist dieses Versprechen zu verstehen? Man könnte die Aussage als hyperbolische Sprechweise bezeichnen, als eine Übertreibung, die nicht wörtlich zu nehmen ist. Die literarische Stilfigur der Hyperbel findet sich häufig im Alten wie im Neuen Testament, so etwa, wenn beim Turmbau zu Babel von einem Turm gesprochen wird, "dessen Spitze bis zum Himmel reicht" (Gen 11,4), oder wenn Jesus sagt: "Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken in deinem eigenen Auge nimmst du nicht wahr?" (Mt 7,3).
Was Jesus damit meint, ist klar, doch in einem streng wörtlichen Sinne kann es einen Balken in einem menschlichen Auge nicht geben. In diesem Sinne könnte man vielleicht sagen: Wer sich die Mahnungen der Weisheit zu Herzen nimmt, der wird erfahrungsgemäß nicht so leicht aus der Fassung zu bringen sein, wenn schlimme Dinge passieren. Er wird nicht vor jeder schrecklichen Nachricht zusammenzucken, sondern ein gewisses Maß an Gelassenheit wird ihn durch das Auf und Ab des Lebens tragen. Doch kann ihn wirklich nichts aus der Bahn werfen? Kann er sich so sicher sein, dass ihn kein böser Schrecken stören wird? Kann die Aussage in einem wörtlichen Sinn verstanden werden?
Geistgewirkte Erfahrungen
In der Bibel wie in vielen anderen Religionen und spirituellen Traditionen ebenso wie in einigen Richtungen der antiken Philosophie wird immer wieder von Erfahrungen und Erkenntnissen gesprochen, die in eine weitgehend unbekannte Dimension der Wirklichkeit vorstoßen und eine geradezu unglaubliche Wirkung entfalten. Was diese Erfahrungen und Zeugnisse interessant macht, ist die Tatsache, dass sie auch in unserer Zeit von einigen Menschen bezeugt werden, denen man keine pathologische Veranlagung bescheinigen kann; sie scheinen glaubwürdig zu sein und werden seit einigen Jahren auch von der Wissenschaft, insbesondere der Psychologie, erforscht. Oft verleihen derartige Erfahrungen den Betroffenen eine Sicherheit, die durch nichts mehr erschüttert werden kann. Dazu einige Beispiele:
Paulus war auf seinen Missionsreisen schweren Anfeindungen ausgesetzt und mehrmals dem Tod nahe, und doch hat es ihn nicht aus der Bahn geworfen: "Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht, wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen" (2 Kor 4,8-9). Der Grund: "Wir schauen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig" (2 Kor 4,18); die Kraft, die ihn trägt, "kommt von Gott und nicht von uns" (2 Kor 4,7). Was zugrunde geht, ist der "äußere Mensch", nicht der "innere Mensch" (2 Kor 4,16). Die heilige Thérèse von Lisieux hat dies bereits als junges Mädchen erfahren: In einer tiefen Einheitserfahrung war ihr empirisches Ich plötzlich verschwunden. "An jenem Tag war es kein Blick mehr [zwischen ihr und Jesus], sondern eine Verschmelzung (une fusion), da waren nicht mehr zwei, Thérèse war verschwunden (ils n’était plus deux, Thérèse avait disparu) wie der Wassertropfen, der sich in der Tiefe des Ozeans verliert; Jesus allein blieb" (Œuvres complètes, 35vo). Augustinus erlebt am Ende mehrerer dramatischer Erschütterungen in der Gestalt eines inneren, unwandelbaren Lichtes eine Sicherheit (securitas), die alle Nacht des Zweifels aus seiner Seele vertrieb (Bekenntnisse VIII, 12,29).
Transpersonales Bewusstsein
Der Benediktiner und Kontemplationslehrer Jakobus Geiger, der seit vielen Jahren Menschen auf dem kontemplativen Weg begleitet, schreibt zu diesen und ähnlichen Erfahrungen:
"Das, was geschaut, erfahren, erlebt wird, ist nur schwer ins Wort zu bringen. Meist werden Bilder verwendet, wird in Paradoxien gesprochen. Erst, wenn auch das Gegenüber diese Erfahrung kennt, kann sie verstanden werden. […] Viele haben ein Einheitserlebnis, eine Einheitserfahrung. Deshalb sprechen manche auch von der Erfahrung des Non-Dualen […]. Es herrscht das Gefühl: Ich bin Teil eines großen Ganzen. Paulus formuliert im Galaterbrief: 'Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir' (Gal 2,20). In der Ostkirche spricht man von Theopoiesis – 'Ich bin göttlich'. Das Ego/Ich ist verschwunden, gestorben. […] Man erkennt, dass alles mit allem verbunden ist. Es kommt zur Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung. Wir sprechen deshalb auch vom transpersonalen Bewusstsein. Die Erfahrung nimmt den Betroffenen die Angst vor dem Tod, denn für sie ist evident, dass die göttliche Wirklichkeit ewig ist und man selbst ein Teil dieser göttlichen Wirklichkeit. Die äußere Form des Körpers wird nach dem Tod zerfallen, aber das Wesen, 'göttlich zu sein', wird bleiben. Der Hintergrund, der Grund, das Wesen unserer raum-zeitlichen Wirklichkeit tritt in den Vordergrund. Es wird offenbar, dass es immer schon so war, auch wenn wir es nicht erfahren haben und wir noch nicht dazu erwacht, geboren waren. Es fällt wie Schuppen von den Augen. Karlfried Graf Dürckheim spricht von der immanenten Transzendenz. Die diesseitige Wirklichkeit wird transparent auf den dahinterliegenden Seinsgrund. Die Erfahrung bricht ein und ist nicht Ergebnis von rationalen Denkprozessen. In der Theologie spricht man von Gnade. Alles dualistische Denken verhindert diese Erfahrung. Alle Dinge im Außen bleiben, wie sie sind. Die Sorgen, Probleme, Krankheiten und so weiter verlieren aber ihren bedrängenden Charakter. Es entsteht eine völlig neue Sicht auf die Dinge. Deshalb wird auch von einer Befreiung gesprochen. Alles ist bereits erlöst trotz allem" (Jakobus Geiger, Wege ins Schweigen. Impulse zur Kontemplation, Münsterschwarzach 2023, 32f).
Wenn der Schrecken über euch kommt
Die Weisheit, von der im Buch der Sprichwörter die Rede ist, stammt nicht aus dieser Welt. Sie kommt von Gott und war bereits bei ihm "vor seinen Werken in der Urzeit", und zugleich ist es ihre Freude, "bei den Menschen zu sein" (Spr 8,22–31). Sie ist transzendent und immanent. Auf ihren Ruf zu hören, heißt: offen zu sein für eine Dimension der Wirklichkeit, die in unserem Alltagsbewusstsein gewöhnlich übersehen und überhört wird: "Als ich euch rief, habt ihr euch geweigert, meine drohende Hand hat keiner beachtet; jeden Rat, den ich gab, habt ihr ausgeschlagen, meine Mahnung gefiel euch nicht" (Spr 1,24f). Wenn wir auf Dauer nicht auf den Ruf der Weisheit hören, dann, so sagt sie uns, werden wir schweren Schaden nehmen, und es kann sogar sein, dass es zu spät ist:
26 "Darum werde auch ich lachen, wenn euch Unglück trifft,
werde ich spotten, wenn Schrecken über euch kommt,
27 wenn der Schrecken euch wie ein Unwetter naht,
und wie ein Sturm euer Unglück hereinbricht,
wenn Not und Drangsal euch überfallen.
28 Dann werden sie nach mir rufen, doch ich antworte nicht;
Sie werden mich suchen, aber nicht finden.
29 Weil sie die Einsicht hassten,
und nicht die Furcht des HERRN wählten,
30 meinen Rat nicht wollten,
meine ganze Mahnung missachteten,
31 sollen sie nun essen von der Frucht ihres Weges
und von ihren Plänen sich sättigen.
32 Denn die Abtrünnigkeit der Törichten ist ihr Tod,
die Sorglosigkeit der Toren ist ihr Verderben.
33 Wer aber auch mich hört, ihn stört kein böser Schrecken."
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund dürfte noch einmal deutlich geworden sein, dass die Weisheit, von der hier die Rede ist, zum Kern der biblisch bezeugten Offenbarung gehört. Auch der Apostel Paulus verkündet eine Weisheit, die nicht von dieser Welt und die doch in der Welt erschienen ist, die von den Klugen und Weisen nicht erkannt worden ist (1 Kor 1,18–25). "Der irdisch gesinnte Mensch erfasst nicht, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn und er kann es nicht verstehen" (1 Kor 2,14).
"Religion ist wesentlich bestimmt von den Erkenntnissen einer anderen Dimension. Wir sprechen von Weisheit, die durch tiefere Bewusstseinserfahrungen begründet ist. Sie hat eine andere Quelle der Erkenntnis und Einsicht als logisches, rationales Denken oder intellektuelle Einsicht. Wir können aber auch sagen: Solche Erfahrungen haben eine andere Logik als das normale Tages- und Wachbewusstsein" (Jakobus Geiger, ebd. 29).