I.
Erst mit ihrem relativ spät begonnenem Romanwerk hat Ursula Krechel bei einem größeren Publikum Aufmerksamkeit gefunden. Zu Unrecht insofern, als sie sich unter Kennern lange davor schon als eminente Lyrikerin einen Namen gemacht hatte. Fünfzehn Gedichtbände von ihr sind mittlerweile erschienen. Theaterstücke wie Hörspiele ferner. All dies unterfüttert durch eine breit angelegte Essayistik.
Selbsterfahrung und Fremdbestimmung lautete 1975 der Titel ihres Berichts aus der neuen Frauenbewegung. Von ihr bis zur aktuellen Migrationsdebatte hat Ursula Krechel sich mit politischen Wirklichkeiten auseinandergesetzt. Dass sie eine engagierte Autorin ist, hebt die Jury des Büchner-Preises – gern mit dem Siegel der wichtigststen literarischen Auszeichnung dieses Landes versehen – als Qualität ihrer Arbeiten ausdrücklich hervor. "Das Hier und Jetzt der deutschen Gesellschaft nicht hinzunehmen, wie es ist": dazu regten sie an.
Ebenso hartnäckig wie gründlich folgt Ursula Krechels Prosa Fährten von Flucht und Wiederkehr in der neueren deutschen Geschichte. Eine Roman-Trilogie vergegenwärtigt die Schicksale tiefst versehrter und unzugehörig beibender Menschen. Von Juden, die vor der Nazi-Herrschaft nach China entwichen, zum Auftakt, in Shanghai fern von wo (2008). Text Nr. 3, Geisterbahn (2018), stellt dar, was einer Sinti-Familie während dieser Jahre und nachfolgend angetan wird. Landgericht (2012), der mittlere Teil, ragt heraus. In Verschränkung privater mit politischer Historie wie der Darstellungsmittel Erzählung, Dokumentation und Analyse ersteht hier am Beispiel des Kampfs eines aus dem Exil zurück gekommenen Juristen jüdischer Herkunft um Wiederherstellung seiner Würde das wenig schmeichelhafte Bild der frühen Bundesrepublik.
Thematisch ergänzend spannt ein jüngst erschienener Essayband mit der Thomas Mann entlehnten Überschrift Vom Herzasthma des Exils (2025) den Bogen über zwei Jahrhunderte. Für die Gegenwart mahnt Ursula Krechel "ein Gesetz" an, "das unterschwellig Einwanderung weder behindert noch erschwert". Denn: "Ein Nein zur Migration ist ein Ja zum Rassismus", findet sie. 
II.
Wie manch andere deutsche Schriftsteller, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt geboren sind, hat diese bald 78-jährige Autorin katholische Wurzeln. Ihr Vater, ein Psychologe, war bei der Caritas Trier von 1946 an mobil zur Unterstützung traumatisierter Menschen tätig, später dann Leiter der ersten städtischen Krisen-Beratungsstelle. Über ihre Mutter erfahren wir in einem Gedicht von 2006, sie "liebte die weißen Männer", konkret: neben Gottfried von Cramm, dem eleganten Tenniscrack, "Nuntius Pacelli / Später Papst und sehr verklärt verehrt". Beider Nicht-Farbe wie ihre Gesten durchdringen sich: "nieder / kniete meine Mutter hielt ihren gläubigen / Blick und hielt den Segen aus und weiter / Weiß sie".
Frühe Eindrücke gesellten sich bei, für die eigene Autorschaft urszenenhaft nachgerade. Im "Sprachengemisch" ihrer Heimat trat Ursula Krechel "Pfingstwunderliches" zutage: 
"an den Festtagen" etwa "eingehüllt vom Lateinischen. Prozessionen, Pilgerwege, Segen, der erteilt wurde. Und es stellte sich mir die Frage: Was sagen die Menschen wirklich, die ich nur ungenau verstehe? Was könnten sie sagen? Darin war eine Erregung, ein Zauber, eine Gewissheit: Ich muss etwas zur Sprache bringen, was verborgen ist. Ich muss das, was ich nicht verstehe, selbst artikulieren: mit anderen Worten, es ging um Sprachfindung, Sprachempfinden, ja, auch um ein emphatisches Zur-Sprache-Kommen".
Ohne dass dabei teils kritische Abstände verschwiegen würden, fehlen ihren Texten Verweise auf Christliches nicht. Dem aktuellen Roman Sehr geehrte Frau Ministerin (2025) etwa, der unterschiedliche Gewalterfahrungen von Frauen thematisiert, von der eigenen Körperlichkeit bis hin zur wachsenden Radikalisierung der Gesellschaft. Über mehrere Seiten hinweg wird gegen Ende die wider Willen sich ereignende Begegnung einer Frau (welcher die Kirche längst schnuppe geworden ist) mit der "Goldenen Madonna" im Essener Dom geschildert. Unmittelbar vorausgehend der Missbrauchsfall des einst populären Ruhrbischofs Franz Hengsbach.
Kenntnisreich erhellen Ursula Krechels Porträts Stark und leise. Pionierinnen (2015) religiöse Befindlichkeiten. So die fern alles "Vertrauensvollen" angesiedelte "Unerbittlichkeit" der "Gotteskindschafts"-Vorstellung Elisabeth Langgässers – "Mut machend, glückverheißend" sei sie nicht –, oder Motive der "Gottverlassenheit" im Zyklus Das geistliche Jahr der Annette von Droste-Hülshoff, schließlich auch "das religiöse Erlebnis (den Tod Gottes verneinend)" als Grundlage des Schreibens bei Friederike Mayröcker.
In einem weiteren Essayband (Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen [2022]) stoßen wir unter dem Titel Das innere Licht auf Triftiges zur mittelalterlichen (vor allem Frauen-)Mystik, mit literaturtheoretischem Unterfutter sowie Einbeziehung moderner Rezeption bei Robert Musil oder Alfred Döblin. Auf eine Würdigung des Pfarrers und Pomologen Korbinian Aigner sodann – "Gott lebt auch in den Bäumen, davon ist er fest überzeugt" –, der, als leidenschaftlicher Gegner des Hitlerstaats, ins KZ Dachau deportiert wurde (und selbst dort noch Äpfel züchtete).
III.
Ein Zyklus von 16 Gedichten am Ende ihres Bands Jäh erhellte Dunkelheit (2010) markiert Ursula Krechels Versuch, fremd gewordene religiöse Semantiken nachzubuchstabieren. Entstanden ist jene Mitschrift des Sommers  während des Aufenthalts der Autorin im Damenstift Obernkirchen am Rande des Weserberglandes. Nachreformatorisch war ein Kloster von Augustiner Chorfrauen aus dem 12. Jahrhundert, das anfangs als freie Gemeinschaft bestand ("ganz für sich" wie es bei ihr heißt, ohne "belehrende" Autoritäten), dazu transformiert worden.
Es ist die Reise an einen Ort der Stille: "Vorläufig der Welt entzogen". Schon auf dem Weg dorthin macht Pfingstliches sich geltend, dieses Mal unter einem anderen Aspekt als dem der Sprachfähigkeit: "Geistausgießen, so überwach hell / Meine vergrößerte Wahrnehmung". Aufmerksam konzentriert das Ich sich auf eine vergangene Lebensform, welcher der alte Glaube einverwoben ist. Eine Landschaft voller Schatten. Zeichenhaft sind zwischen den Gedichten Epitaphe eingestreut.
Just in diesem Milieu von Verschwundenem nun stellt sich einmal das "Übermaß von Ewigkeit" ein, "dem / Keine Gegenwart standhält / Jetzt nur der eigene Atem / Und Wind, der das Gebälk berührt". Wenige Verse nur deuten derlei Ahnung anz. Dem Unfassbaren, welches mit ihm evoziert wird, nähert das Gedicht sich im Verstummen. Dort hinein läuft die Sprache sich aus.
Nicht ohne Einsicht notorischen Zurückbleibens, macht das lyrische Ich sich daran, eine solche Schule zu beginnen, in der fragenden oder skeptischen Hoffnung, etwas könnte hier transparent werden: 
"Die Gräber im Klosterhof schweigen … / Auch ich schwiege, wenn ich nicht schriebe // Forme leise Wörter mit den Lippen / Wie ein eifriges Kind, das Lesen, Schreiben / Aber noch nicht Schweigen gelernt hat. / Kann man schweigend nicht nichts sagen? / Schweigend aufgehen im zukünftigen Nichts?" 
Das, wie die Mystiker/-innen versichern, mit Fülle identisch ist.
Wie Vielfaches in dem Zyklus unterliegt dieser abgesonderte Garten ("hortus conclusus") einer Mehrfach-Codierung. So mutiert er auch "ins Rätselhafte der Mythologie", das "jungfräulich"-gottesmütterliche Motiv, fruchtbar im Verschlossenen zu sein (samt grundsätzlichem Blick auf "die Frau: ins Offene des Geschlossenen") – eine gleichsam epiphanische Sphäre.
Dem Zyklus beigegeben sind zwei intertextuelle Winke. Heinrich Heines Spott vorab über jene "überwitzgen Leute", die auftrumpfend stets Bescheid wissen: "Gott und Welt, und was sie selbst bedeuten / Begriffen längst mit Hegelschem Verstande". Sodann Annette von Droste-Hülshoffs jenes in den Pionierinnen einem "existenziellen" Zustand der Gottesabwesenheit ("Deus absconditus") attestierte Gedicht Am dritten Sonntage nach Ostern (anlässlich des doch "trostreichen" Verses aus dem Johannes-Evangelium [Joh 16,16]: "Über ein kleines so werdet ihr mich sehen"). Ein Spannungsfeld scheint hier abgesteckt, in welchem die Gedichte sich durchgehend bewegen.
Zwar nicht frei von syntaktischen Pointen (wie Ursula Krechel sie allenthalben liebt), wird die materiell gespeicherte Erinnerung an Glaubensinhalte keineswegs von oben herab behandelt, als beliebiges Spielmaterial. Eine abbrechende und perspektivisch different neu einsetzende Sprache kennt keine letzte Klarheit. Wohl aber werden auf solche Weise Assoziationsräume er-schlossen. Damit eben verweigert sie sich auch jenem superklugen, oberschlauen Bluff von Durchblick, den Heine aufspießt.
Nein, das fremde Umfeld, es erteilt keine eindeutigen Auskünfte. Sorgfältig-geduldiges Hinhören auf den eigenen Atem freilich mag die Möglichkeit beinhalten, dass aus dem "Schweigegelöbnis" etwas Fruchtbares entsteht, realer Präsenz gleichend. An Maria gerichtet, die conclusa: "bitt für uns // Bei dem zukünftigen Sohn, Bilder / Lesen wie Ähren lesen und daraus / Nahrhaftes Brot Gedichtbrot in Zeilen / Gebrochen, am Brotbrechen erkannt". Selbst wenn dies aber bloß Metapher sein kann, Gleichnis, weist der Gestus solcher Lyrik hierdurch über sich selbst hinaus, Kunst auf etwas wie Metaphysik.
Mit rabiaten Bildern der Zerstörung von "Sehsucht, Hunger nach Bildern", (mehr als nur einen Buchstabe darüber hinaus!) nach "Sehnsucht und Dunkelheit" zugleich, endet die Mitschrift des Sommers. Unter den Bedingungen obrigkeitlichen Religions-Diktats wird der Glaube "eine pikierte Pflanze" – auf größere Abstände gebracht – "Die andere Blüten treibt", welchen Ambivalenzen zugewandt auch immer.
"Jede Gewissheit", spricht die Autorin in ihrem Essay über Elisabeth Langgässer wie beiseite, sei "dem Poetischen schädlich": "die Gewissheit, etwas zu wissen und mitteilen zu können, so schmerzlich das ist. Punktum." Nicht einfach gelesen werden wollen/müssen entsprechende Texte von ihr selbst daher, sondern in ihrem Erkenntnispotenzial erarbeitet.
Es lohnt sich.