Friedenswunsch und Friedensgruß sind feste Bestandteile der Heiligen Messe. In frühen Jahren habe ich nicht sonderlich darauf geachtet. Doch seit einiger Zeit erfüllt mich die Bitte um Frieden mit einem starken, aus Hoffnung und aus Verzweiflung gemischten Gefühl. Natürlich hat das mit den gegenwärtigen Kriegen zu tun. Zuweilen frage ich mich: Wenn die Urheber dieser Kriege, wenn die Aggressoren den Frieden nicht wollen, was soll Gott dann machen? Sind die Menschen überhaupt für den Frieden geschaffen? Haben sie nicht, seit sie auf der Erde sind, gegeneinander Kriege geführt?
Als ich darüber nachdachte, kam mir Ulrich Schachts wunderbare Novelle "Grimsey" (2015) in den Sinn. Die 40 Kilometer vor der isländischen Nordküste gelegene Insel wird von rund hundert Menschen bewohnt, ist etwa fünf Kilometer lang und zwei breit, hat einen kleinen Flugplatz, eine Kirche, einen Leuchtturm und natürlich einen Hafen. Der Erzähler, der einen halben Tag hier verbringt, ist Fotograf, und er schildert uns die Szenerie mit einem geschulten Blick für das ästhetisch Besondere. Wir sehen das Grün der Wiesen, die zarten Blumen (es ist Sommer), die bescheidenen Häuser, die Felskanten, gegen die der Ozean brandet, und den Blick hinüber auf die fernen isländischen Berge.
Warum war der Frieden so reizlos?
Am Ende des Rundgangs, als der Reisende sich der Brücke nähert, wo ihn das Schiff zur Rückkehr erwartet, sieht er einen Spielplatz mit dem üblichen Klettergerüst. Und er fragt sich, welche Spiele die Kinder von Grimsey wohl spielen. Vermutlich die kriegerischen Spiele, die er aus seiner eigenen Kindheit kennt. Er fragt sich: "Warum war der Frieden so reizlos?" Seine Antwort: "Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie als Kinder jemals Frieden gespielt hätten. Er ist zu schwer, dachte er; zu kämpfen ist leichter. Wer kämpft, kann gewinnen, und wer verliert, hat immer noch das Ziel, für das er gekämpft hat. Frieden hatte kein Ziel, er war eins. Steckte man in ihm, geschah nichts mehr, und nichts war das Ende."
Auch ich erinnere mich daran, wie wir als Kinder Krieg gespielt und aus Holzknüppeln Gewehre gebastelt haben. Die Indianer kämpften gegen die Cowboys, die Jungens vom Bornheimer Hang gegen die Jungens vom Riederwald. Auch wir haben nie Frieden gespielt.
Ihm fällt ein, dass er auf seinem Spaziergang eine Menge toter Möwen gesehen hat. Jemand hatte sie offenbar erschossen. Er fragt sich: "Ob die Möwen deshalb vom Himmel geholt worden waren? Aus reiner Lust, ein Ziel zu haben, das nicht das Ende war? Jedenfalls nicht das eigene? Obwohl ihm der Gedankengang bis zu diesem Punkt logisch vorkam, erschien er ihm plötzlich nur noch monströs: Das ist es, was aus Revolutionen Diktaturen werden lässt, dachte er. Der Punkt, wo die Umkehr so schwer ist und doch so notwendig wird. Was konnte man sich für diese Einsicht kaufen? Frieden? Was war dieser Frieden wert?"
Auch ich erinnere mich daran, wie wir als Kinder Krieg gespielt und aus Holzknüppeln Gewehre gebastelt haben. Die Indianer kämpften gegen die Cowboys, die Jungens vom Bornheimer Hang gegen die Jungens vom Riederwald. Auch wir haben nie Frieden gespielt.
Monströse Geschichte aus vielen Perspektiven
In seinem Buch "Vereister Sommer" (2011) kann man Schachts Lebensgeschichte nachlesen. Die Mutter, eine lebensfrohe junge Frau in Wismar, verliebt sich in einen sowjetischen Besatzungsoffizier und wird schwanger. Die beiden möchten heiraten, doch die Eheschließung wird abgelehnt. In ihrer Not heckt die Frau den Plan aus, mit ihrem Geliebten zu fliehen. Sie erzählt davon einer Freundin. Die allerdings ist Mitarbeiterin des Geheimdienstes.
Der russische Soldat wird an die mongolische Grenze strafversetzt, die Frau zu zehn Jahren "Besserungsarbeitslager" verurteilt und in die Festung Hoheneck verbracht. Dort kommt Ulrich Schacht 1951 zur Welt. Er wird ihr nach drei Monaten weggenommen und in ein Kinderheim gesteckt, weil sich, so die Begründung, das Baby nicht strafbar gemacht habe.
"Vereister Sommer" ist deshalb ein so bedrückendes und bezwingendes Buch, weil es Schacht gelingt, diese monströse Geschichte aus vielen Perspektiven zu erzählen. Wir haben nicht einen Lebensbericht in chronologischer Ordnung vor uns, sondern ein Mosaik aus Dokumenten und Briefen, aus Erinnerungen und Recherchen. Das Hauptmotiv ist die Suche nach dem unbekannten Vater, und das Unwahrscheinliche gelingt: Er findet ihn in Moskau, und der Roman eines Lebens endet mit einem Versöhnungsfest.
Ulrich Schacht war ein leidenschaftlicher, ein religiöser Mensch. Er wusste auf die Frage, wie man Frieden lernt, keine Antwort.
In einer Selbstauskunft (2012) heißt es: Den neuen totalitären Versuchungen eines entfesselten Kapitalismus, der "alle gewachsenen Identitäten religiöser, kultureller und nationaler Art" auszulöschen suche, müsse von christlicher Seite aus entgegengewirkt werden. "Dabei fühlt sich Schacht, der die ev. Bruderschaft St. Georgs-Orden gegründet hat, die er als Großkomtur leitet, auch in besonderer Weise dem Katholizismus und der Person Benedikts XVI. verbunden."
Ulrich Schacht war ein leidenschaftlicher, ein religiöser Mensch. Er wusste auf die Frage, wie man Frieden lernt, keine Antwort. Den eigenen fand er bei seinen Expeditionen in die Arktis und auch in seinem abgelegenen Haus in Schweden, wo er mit Frau und Tochter lebte. Dort ist er 2018 gestorben.