Die List des Bruder LustigDie Märchen und das Jenseits

Wenn es bei Grimms Märchen um Himmel und Hölle geht, dann wird ein spöttischer Ton angeschlagen. Mit der Furcht vor den letzten Dingen scheint es bei unseren Vorfahren nicht so weit her gewesen zu sein.

Illustration von Věnceslav Černý (1865–1936) zum Märchen
Illustration von Věnceslav Černý (1865–1936) zum Märchen "Der Schuster und der Teufel" aus dem Buch "Slawische Sagen und Legenden" von K. J. Erben (1811–1870), Ausgabe von 1902.© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Als Kinder spielten wir manchmal "Himmel oder Hölle". Das war eine Art Pyramide aus mehrfach gefaltetem Papier. Man konnte sie in zwei Richtungen aufklappen, sodass man entweder die blaue Innenseite sah, den Himmel, oder die rote, die Hölle. Dass der Himmel gut und die Hölle schlecht war, das wussten wir, aber mehr auch nicht. Wir kannten niemanden, der dort gewesen wäre und davon hätte erzählen können.

Genaueres über das unter- oder überirdische Jenseits erfuhren wir aus Grimms Märchen. Und hier gefiel mir besonders der Bruder Lustig. Der aus dem Kriegsdienst entlassene Soldat kriegt zum Abschied bloß vier Kreuzer und ein kleines "Commissbrot". Als er einem Bettler begegnet, gibt er ihm ein Viertel des Brotes und einen Kreuzer. Ebenso freundlich verhält er sich gegen den nächsten und den übernächsten Bettler, bis er sich am Ende ins Wirtshaus setzt, für den letzten Kreuzer ein Bier bestellt und dazu den Rest des Brotes verzehrt.

Mit faulen Tricks in den Himmel

Der Bettler aber entpuppt sich als der "heilige Petrus". Die beiden ziehen nun gemeinsam umher. Petrus erweist sich als ein wunderbarer Arzt, der Tote zum Leben erweckt. Der Bruder Lustig profitiert weidlich davon, und doch versucht er immer wieder, Petrus hereinzulegen. Schließlich trennen sich die beiden. Petrus schenkt ihm einen Ranzen, in den der Bruder Lustig jeden hineinwünschen kann. Als er zu einem verzauberten Schloss kommt, wo neun Teufel ihr Unwesen treiben, wünscht er sie den Ranzen und lässt sie von einem Schmid erschlagen. "Einer aber, der in einer Falte gesessen hatte, war noch lebendig, schlüpfte heraus und fuhr wieder in die Hölle."

Am Ende ist der Bruder Lustig des Lebens müde und fragt einen frommen Einsiedler nach dem Weg. Es gebe zwei Wege, lautet die Antwort, der bequeme führe in die Hölle, der steile in den Himmel. "Da müsste ich ein Narr sein", denkt der Bruder Lustig, "wenn ich den steilen Weg gehen sollte", nimmt den bequemen und gelangt an das Tor zur Hölle. Dort sitzt der neunte Teufel, fürchtet sich ganz schrecklich und lässt ihn nicht herein.

"Irgendwo muss ich doch bleiben", sagt sich der Bruder Lustig und wandert zum Himmel. Petrus erinnert sich an die faulen Tricks und weist ihn ab. "Willst du mich nicht einlassen, so nimm auch deinen Ranzen wieder: dann will ich gar nichts von dir haben", sagt der Bruder Lustig. Petrus nimmt den Ranzen, der Bruder Lustig wünscht sich hinein und ist tatsächlich im Himmel.

Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte …"

Ein anderes Märchen geht nicht ganz so gut aus. Als Gott eines Tages den Himmel verlässt, um einen Spaziergang zu machen, befiehlt er Petrus, niemanden hereinzulassen. Da kommt ein armer Schneider und bettelt so lange, bis ihm Petrus einen Platz hinter der Tür zuweist. In einem unbewachten Augenblick erklimmt der Schneider den göttlichen Thron, von dem aus er alles sehen kann, was in der Welt geschieht. Er beobachtet eine alte Frau, die Wäschestücke stiehlt. Voller Zorn schleudert er auf sie den Thronschemel hinab. Als Gott zurückkehrt, vermisst er den Schemel. Der Schneider gesteht, und Gott sagt: "Wollt' ich richten, wie du richtest, ich hätte schon lange keine Stühle, Bänke, Sessel, ja keine Ofengabel mehr hier." Und Petrus muss den armen Schneider aus dem Himmel weisen.

Von Gott ist in den Märchen häufiger die Rede, am schönsten in "Der Arme und der Reiche". Es beginnt mit den Worten "Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter den Menschen wandelte …", und es endet, wie es sich gehört: Der Arme wird belohnt und der Reiche bestraft.

Der Gedanke, in den "alten Zeiten" seien die Menschen von einer Höllenfurcht geplagt worden, findet in Grimms Märchen keine Bestätigung. Wenn "das Volk", das hier erscheint, repräsentativ sein sollte, so war es dem freundlichen Spott durchaus zugeneigt.

Doch Gott ist nicht nur gerecht. In dem Märchen "Der Gevatter Tod" hat ein armer Mann zwölf Kinder, und als das dreizehnte kommt, weiß er niemanden mehr, den er darum bitten könnte, Gevatter (Taufpate) zu werden. So will er den ersten, der ihm auf der Straße begegnet, dazu fragen.

Der erste ist der liebe Gott. Der Mann sagt: "So begehr' ich dich nicht zum Gevatter, du giebst dem Reichen und lässest den Armen hungern." Der zweite ist der Teufel, und der Mann sagt: "So begehr' ich dich nicht zum Gevatter, du betrügst und verführst die Menschen." Der dritte ist der Tod. Mit ihm ist der Mann einverstanden: "Du bist der rechte, du holst den Reichen wie den Armen ohne Unterschied."

Ich weiß nicht, ob die Märchen ein zutreffendes Bild der Volksfrömmigkeit zeichnen. Jedenfalls findet der Gedanke, in den "alten Zeiten" seien die Menschen von einer Höllenfurcht geplagt worden, in Grimms Märchen keine Bestätigung. Wenn "das Volk", das hier erscheint, repräsentativ sein sollte, so war es dem freundlichen Spott durchaus zugeneigt. Auch die Heiligenverehrung scheint nicht sehr ausgeprägt gewesen zu sein.

Der Petrus, der uns in den Märchen begegnet, ist ein gütiger, rechtschaffener Mann von mäßiger Intelligenz. Das entspricht ungefähr den biblischen Berichten. Alles in allem lautet mein Eindruck: Grimms Märchen sind nicht besonders fromm.

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