Zornig bis zuletztDarum hasste Heinrich Böll das "katholische Milieu"

Vor allem das Bündnis von CDU und Katholizismus brachte den Schriftsteller auf die Palme.

Ulrich Greiner
© privat

Gibt es eigentlich noch das katholische Milieu? Der in den sechziger Jahren vom Soziologen M. Rainer Lepsius eingeführte Begriff bezeichnet ein Ensemble weltanschaulicher Wertschätzungen und Verhaltensweisen, das weniger von sozialen Merkmalen bestimmt war als vielmehr von traditionellen und religiösen Loyalitäten. Dieses im 19. Jahrhundert entstandene Milieu (Stichwort "Kulturkampf") erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Renaissance, die man dem Werk Heinrich Bölls ablesen kann.

Dass Böll (1917–1985) das katholische Milieu geradezu gehasst hat, ist nicht nur dem damals kirchlicherseits heftigen angegriffenen Roman "Ansichten eines Clowns" (1963) zu entnehmen, sondern auch zahlreichen Aufsätzen und Interventionen, darunter vor allem dem "Brief an einen jungen Katholiken" (1958). Ursprünglich sollte der Text in der Reihe "Radio-Essay" des "Süddeutschen Rundfunks" gesendet werden, stieß jedoch auf den Widerstand des CDU-Mannes Hans Bausch, der eben Intendant geworden war. Nach einigem Hin und Her wurde die Sendung abgesagt und der "Brief" erschien in den "Werkheften Katholischer Laien".

Sexualmoral, Wiederbewaffnung, CDU

Irgendwie müssen meine Eltern in den Besitz der Zeitschrift gekommen sein, denn ich erinnere mich daran, dass beide von Bölls Text geradezu elektrisiert waren. Ich war mit zwölf Jahren noch zu jung, um die Tragweite der Affäre wirklich zu verstehen. Heute ahne ich, weshalb der "Brief" solche Furore machte. Es waren wohl diese Themen: erstens die lebensfeindliche Sexualmoral der Kirche; zweitens ihr Opportunismus angesichts der NS-Herrschaft; drittens ihr Einschwenken auf den wachsenden Militarismus.

Diese Haltungen fanden nach dem Krieg ihre jeweils aktualisierte Fortsetzung. Eine davon zeigte sich in der Zustimmung zur deutschen Wiederbewaffnung, die damals, kurz nach dem Ende des Kriegs, heftig umstritten war; eine andere gipfelte in jenem Bündnis von CDU und Katholizismus, das einen Mann wie Böll auf die Palme bringen musste. 1976 sind er und seine Frau aus der Kirche ausgetreten.

Das katholische Milieu funktionierte auch später noch. 1973 wurde Böll darum gebeten, sich an einer Festschrift zum 70. Geburtstag Karl Rahners zu beteiligen. Der Beitrag, in dem Böll abermals seinem Groll gegen das katholische Milieu Ausdruck gab – an einigen Stellen durchaus polemisch –, konnte nicht erscheinen, weil sich kein katholischer Verlag bereit fand, ihn zu drucken. Das "Publik-Forum" veröffentlichte ihn zwei Jahre später und schrieb in der Einleitung, bei der Affäre sei es allein darum gegangen, "ob ein solcher Text innerhalb des katholischen Milieus erscheinen" könne.

Offenbar gab es das katholische Milieu auch 1975 noch. Das war ungefähr die Zeit, in der ich eines Sonntags anstelle der Predigt den Hirtenbrief meines Bischofs zu Gehör bekam, worin ich unverblümt dazu angehalten wurde, bei der bevorstehenden Bundestagswahl für die CDU zu stimmen. Das brachte mich dazu, aus der Kirche auszutreten. Jahrzehnte später bin ich wieder eingetreten – nein, nicht reumütig, sondern weil ich mittlerweile gelernt hatte, zwischen Amtskirche und Katholizität zu unterscheiden.

Heute hat das katholische Milieu an politischem Einfluss deutlich verloren, doch innerkirchlich spielt es noch immer eine Rolle. Zwar sind Macht des Klerus und Einfluss der Kirche, wie Böll sie erlebt hat, nur noch ein Schatten ihrer selbst, doch wenn ich sehe, wie kläglich viele deutsche Bischöfe mit dem katastrophalen Missbrauch umgegangen sind, dann scheint mir: Immer noch hält das Milieu nach außen dicht.

Böll vermied die "Eisschränke der Ironie"

Doch davon abgesehen: Auch Bölls Ruhm, der zu Lebzeiten gewaltig war, ist mehr oder minder erloschen. Woran liegt das? Als ich darüber nachdachte, kamen mir die "Notizhefte" von Henning Ritter (2010) in den Sinn. Zu einer Tagebuchnotiz von Ernst Jünger, der 1945 schreibt, eine der Aufgaben des Schriftstellers sei "die ergreifende Schilderung der Armut", bemerkt Ritter: "Dass dies kein Thema mehr ist, sagt mehr über den Zustand der Kultur als manches Andere. Das 19. Jahrhundert hat ergreifende Schilderungen der Armut hervorgebracht, bei den Russen oder bei Balzac, Zola oder Dickens. (…) Die Literatur hat sich vom Mitleid emanzipiert, deswegen kennt sie die Gegenstände nicht mehr, die sich nur durchs Mitleid erkennen lassen."

Es gibt Themen, die eine Literatur, der es vor allem um Selbsterfahrung, um Selbstwahrnehmung geht, gar nicht erkennen kann. Es gibt Themen, die nur der wahrhaft naive Autor versteht, ein Schriftsteller also, der mit der Gabe des Mitleidens gesegnet ist.

In Bölls Roman "Billard um Halbzehn" (1959) sagt der alte Fähmel zu seinem Sohn: "Ich hoffe, du hast nicht in den Eisschränken der Ironie das Gefühl der Überlegenheit frisch erhalten, wie ich es immer tat." Auch Böll vermied die "Eisschränke der Ironie". In seinem Humor erkennen wir eine Haltung, die sich als Teil des Zusammenhangs betrachtet, den sie belächelt. Wir können sie als christliche Caritas beschreiben, als absichtslose, vom eigenen Nutzen absehende Zuwendung. Das ist die Bedingung von Mitleid.

Wer zum Mitleid imstande ist, der kennt auch den Zorn und die Empörung. Der Ironiker weiß davon nichts. Warum sollte er sich empören? Er hat ja seine Ironie. Böll hingegen war zornig bis zuletzt.

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