#43 SchädelDie Verdrängung des Lebens

Diktatoren, Boomer und die Sterblichkeit: Wer den Tod in den Griff bekommen will, erstickt das Leben.

Der Autor mit Schädel in der bischöflichen Reliquienkammer auf dem Limburger Domberg.
Der Autor mit Schädel in der bischöflichen Reliquienkammer auf dem Limburger Domberg.© Matthias Theodor Kloft

Als der russische Diktator Putin bei seinem chinesischen Amtskollegen Xi Jinping im September zum Staatsbesuch nach Peking reiste, ereignete sich ein bizarrer Moment. Ein Mikrofon machte ihren small talk öffentlich. "Biotechnologien entwickeln sich ständig fort", lässt Putin dolmetschen, als die beiden Präsidenten den Tiananmen-Platz queren, und lässt noch hinzufügen: "Menschliche Organe können fortlaufend transplantiert werden. Je länger man lebt, desto jünger wird man – und man kann sogar Unsterblichkeit erlangen." Der Parteichef im Reich der Mitte stimmt Putin zu und sagt schließlich: "Einige sagen voraus, dass Menschen in diesem Jahrhundert bis zu 150 Jahre alt werden könnten."

Es dauerte nicht lange, bis Journalisten im Ausland dieses kuriose hot mic diskutierten. Das Gespräch passt ins Bild einer panischen Machtfülle, die besonders Autokraten eigen ist und keine Grenze akzeptieren will – einer Schein-Omnipotenz, die sich in aberwitzige Theorien flüchtet, um ihr Selbstgefühl zu erhalten.

Man belächelte die Naivität der beiden Staatsoberhäupter. Man bemitleidete sie fast um den Verdrängungsapparat, der ihnen solche Allmachtsphantasien nicht aufklärte, obwohl – zumindest China – führende Wissenschaftler auf dem Gebiet vorzuweisen hat bzw. in führenden Institutionen der Welt Spionage betreibt.

Das offene Mikrofon der Sterblichkeit

Doch jenseits der Belustigung blieb ein eigentümlicher Nachhall: Da sind zwei, dachte sich eine Weltöffentlichkeit, die nicht loslassen können und bereit sind, dafür eine Welt zu zertrümmern – nicht um sie neu zu machen, sondern weil sie das einmal Besessene, einmal Erreichte, einmal Beherrschte nicht teilen können.

Vielleicht ist dieses Mikrofon, das sie versehentlich offenließen, das wahre Symbol ihrer Angst – das ungewollt offene Mikrofon der Sterblichkeit.

Das Sicherheitsstreben in Boomer-Gesellschaften strahlt auf andere Teile der Bevölkerung ab, dämpft, verdrängt, manipuliert und restringiert das Ungestüme dessen, was man einmal Jugend genannt hat.

Zugleich traf – besonders im Westen – diese Szene auf Gesellschaften, in denen Altern zu einem zentralen Erlebnis geworden ist. Es war ein Augenblick der Klarheit: alte Diktatoren, die nicht sterben wollen.

Aber ist nicht auch der Westen voller Verleugnungen des Todes?

Alte Menschen bestimmen mit ihrer Kaufkraft weltweite Produktionsbedingungen und Warendesigns – von konservativen Farbtönen über Finanzprodukte, Kosmetikartikel bis hin zum exzessiven Fokus auf die Gesundheit. Dieses Sicherheitsstreben in Boomer-Gesellschaften strahlt auf andere Teile der Bevölkerung ab, dämpft, verdrängt, manipuliert und restringiert das Ungestüme dessen, was man einmal Jugend genannt hat.

So zeigt sich: Die Angst vor dem Ende verbindet Diktatoren und Demokratien, Machtpolitiker und Konsumenten. In beiden Fällen ersetzt Kontrolle das Risiko, die Ewigkeit erstickt das Leben.

Es ist ja – übrigens – nicht nur so, dass junge Menschen konservativer werden, weil die Zeiten unsicherer geworden sind oder weil Gemeinschaft und Identität nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Vielmehr ist der angebliche Konservatismus der Jugend vor dem Hintergrund einer Gesellschaft zu sehen, in der viele Alte ihren Platz zu kennen scheinen, ihre Meinungen längst eingeübt sind und durch Institutionen normgebend geworden sind.

Wer kennt nicht die ergrauten Laientheologen, die seit zwanzig Jahren gegen alles herziehen, was nach ihnen kommt? Stockkonservative Laientheologen, die sich als progressive verstehen und unaufhörlich den "Konservatismus der Jungen" beklagen? Auch dies ist eine Alterserscheinung, die ohne Ablaufdatum operiert – und den Tod leugnet.

Die Rebellion der Endlichkeit

Als ich im vergangenen April zum fünften Mal in meinem Leben ein Schrittmacherimplantat im Wiener AKH erhielt, dachte ich darüber nach, ob eine Behauptung in meinen Gedichten aus nach den narkosen (2017) stimmte. Es gibt dort keine Überlegungen über die Sterblichkeit, keine Nahtoderfahrungen. Die Gedichte verstanden sich nie als Teil einer Palliation.

Über die Frist zu leben – das heißt: riskieren. Leben – das heißt: augenblicklich nicht an den Tod denken.

Vielmehr hob ich – und das glaube ich auch drei Herz-OPs später – damals "eine Rebellion der Endlichkeit" hervor. Irgendwo schrieb ich dann: "Periodische Aufenthalte in Krankenhäusern gehören zu meinen frühsten Erinnerungen. Meine Krankheit ist ab ovo. […] Was ich bin, bin ich aufgrund dieser Insuffizienz."

Über die Frist zu leben – das heißt: riskieren. Leben – das heißt: augenblicklich nicht an den Tod denken. Wer beim Leben aufhört, etwas zu riskieren, denkt nur noch an den Tod, an die Mächte, die die Endlichkeit bestimmen. Wer nur noch an den Tod denkt, betrachtet alles sub specie aeternitatis, heißt: als kenne er die Ewigkeit. Wer vorgibt, die Ewigkeit zu kennen, weil er nicht ablassen kann, über den Tod nachzudenken, übt eine Diktatur über die Zeit aus – eine kleine Diktatur gegen das Leben selbst.

So wäre ich wieder bei Wladimir Putin und Xi Jinping: Sie kämpfen gegen den Tod – und damit gegen das Leben.

Schöner Sterben?

Ähnliches gilt für eine Obsession, die sich irrtümlicherweise im Christentum ausgebreitet hat und jüngst durch einen Kardinal diese Formulierung fand: "Ich empfehle jedem, vor allem uns Älteren, um eine gute Sterbestunde zu beten: eine Sterbestunde, die gut ist, weil sie schmerzfrei ist und nicht allein stattfindet. Und dass Sie nicht durch die Hand eines anderen Menschen sterben, sondern an der Hand eines anderen."

Klingt klug und so umsichtig, wie es ein Boomer-Kardinal nur ausdrücken könnte, ist aber zu kurz gegriffen. Denn: Wie verrückt muss man sein, sich zu wünschen, etwas schöner sterben als die anderen?

Kardinäle, die so aus dem Nähkästchen der christlichen memento mori plaudern, liefern keinen Trost – weder den Alten noch den Sterbenden. Sie perpetuieren die Instrumente der Verdrängung: Im Versuch, den Tod zu beherrschen, wird auch das Lebendige verdrängt. Wer lebt, der riskiert, nicht an den Tod zu denken. Und das sollten wir feiern.

Auch die hochaltrigen Schulschwestern im österreichischen Goldenstein riskierten den Ausbruch und besetzten ihr Kloster. Sie taten dies nicht, weil sie ihre Sterblichkeit verdrängten, sondern weil sie das Leben klarer vor Augen sahen.

Sie riskierten, nur zu leben. Ohne Vollkasko. Stattdessen: voll zu leben. Nicht ewig, dafür aber ganz – mit Haut und Haar.

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