Wehrpflicht?Deutschland braucht Zusammenhalt, nicht nur Soldaten

Die deutsche Politik diskutiert darüber, wie sich mehr Soldaten für die Bundeswehr gewinnen lassen. Doch ein wichtiger Aspekt bleibt bei der Debatte zu oft außen vor: Verteidigungswille erwächst aus dem Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit.

Alina Oehler
© Carsten Schütz

"Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin" – eine schöne Utopie der Pazifisten. Die Realität füllt stattdessen das Sommerloch mit Debatten um eine mögliche Wiedereinführung der Wehrpflicht. Aktuell gibt es um die 182.000 Soldatinnen und Soldaten in Deutschland, bis 2035 will man 260.000 haben, als "Antwort auf eine konkrete Bedrohungslage". Gemeint ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. 100.000 Reservisten mehr wären außerdem wichtig. Ein neues Gesetz zum freiwilligen Wehrdienst soll jetzt mehr Leute zur Bundeswehr bringen. Ob das ausreicht, ist unsicher. In der Union wünschen sich viele die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Ich bin 1991 geboren, Krieg kannte ich die längste Zeit meines Lebens nicht. Auch die Ukraine war weit weg. Bis Zlata, eine Medizinstudentin aus Mariupol, 2022 als Flüchtling bei uns einzog. Sie zeigte uns Filmaufnahmen ihrer ehemaligen Heimatstadt am Meer, die uns sprachlos machten. Trümmer, Tote in den Straßen, Menschen, die nach Essen suchten – klar, Kriegsszenerien wie man sie leider so schon mal auf dem Bildschirm von irgendwo weit weg gesehen hat. Aber neben der Person auf dem Sofa zu sitzen, die mit schwitzigen Händen die Fernbedienung hält und später auf ihrem Smartphone Vorher-Nachher-Bilder einer Ruine zeigt, die ihr Zuhause war – das ist beklemmend, der Krieg ist auf einmal nah da. Zlata, klug, eloquent und ambitioniert, vergisst manchmal selbst beim Zeigen der Fotos, dass das, von dem sie da gerade schwärmt, vor Kurzem in Flammen aufgegangen ist – sie ist Abiturientinnen aus Deutschland so ähnlich, dass es unfassbar erscheint, dass sie über 30 Stunden mit dem Bus in ein fremdes Land geflohen ist, weil ihre Eltern sie in Sicherheit wissen wollten. Die junge Ukrainerin blieb lange bei uns, aber irgendwann hatte auch sie den Glauben daran verloren, dass der Konflikt bald endet, und ihre Familie zu sehr vermisst. Sie setzt ihr Studium nun in Kiew fort. Ein Alltag mit Luftalarm und Vorlesungen im Unikeller.

Die Gesellschaft wird immer heterogener

Zlata hat uns gezwungen, mehr über Krieg nachzudenken. Der Wille der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen, würde mit jedem neuen russischen Angriff nur stärker, sagte sie. Sie ist sehr stolz auf ihr Land.

Wie würde es uns ergehen? Patriotismus ist etwas, das vielen Deutschen immer noch schwerfällt, wenn gerade keine Fußballweltmeisterschaft gespielt wird. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, die Mitgliederzahlen in Vereinen sinken, es gibt immer mehr Single-Haushalte in Städten – und die Gesellschaft wird auch durch Zuwanderung immer heterogener.

Würden wir den gleichen Stolz aufbringen und den Willen, unser Land zu verteidigen?

Wer sich einer Gesellschaft zugehörig fühlt, ist auch bereit, sie zu verteidigen.

Dass die Debatte um die Wehrpflicht gleichzeitig die Debatte um ein verpflichtendes soziales Jahr entfacht hat, könnte dabei etwas für das Gemeinschaftsgefühl tun. Wer sich einer Gesellschaft zugehörig fühlt, ist auch bereit, sie zu verteidigen. Das findet auch der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert. In der "Süddeutschen Zeitung" schreibt er kürzlich, dass es nicht nur militärische, sondern auch gesellschaftliche Stärke braucht:

"Wir sollten bereit sein, die Menschen in diesem Land für unsere Demokratie auch in die Pflicht zu nehmen, ihnen nicht nur eine abstrakte, sondern eine konkrete Mitverantwortung zuzumuten. Wo sonst kommen ein Arbeiterkind oder eine Bankierstochter für eine Lebensphase in direkten Austausch auf Augenhöhe als in einer Bundeswehr-Kaserne oder einem Behindertenwohnheim?"

Dieser Dienst am Gemeinwohl, der auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft stärken könnte – der täte gut. Zahlreiche Freiwilligendienste zeigen das bereits. Wenn die Debatte um die Wehrpflicht hier dieses "Mehr" erzielt, wäre das doch ein gutes Ergebnis, während man über das nachdenkt, was eigentlich keiner sehen will: einen Krieg in Europa. Doch ein Leben ohne Konflikte, das bleibt leider Utopie.

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