Über den Verdacht, die Welt sei absurdAlfred Brendels letztes Buch «Naivität und Ironie»

Piano
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Alfred Brendel, der große, im Juni im Alter von 94 Jahren verstorbene Pianist, war auch ein begnadeter Verfasser absurder Gedichte. Eines davon bringt Konzertpodium und Poesie auf äußerst komische Weise zusammen. Es handelt von einem Pianisten, bei dessen Konzerten immer wieder ein zusätzlicher Finger aus seinem Frackärmel hervorschießt, etwa um bei schwierigen Passagen helfend einzugreifen oder um auf besonders schöne Stellen hinzuweisen. In der Rezension des Kritikers, dem das nicht verborgen geblieben war, heißt es dann aber bloß: «Ein Finger zu viel».

Alfred Brendel hat sinngemäß einmal gesagt, er habe sich weder groß in Frage gestellt noch für zu wichtig genommen; und er finde vieles komisch. Das habe geholfen, durch’s lange Leben zu kommen. Das Gedicht vom zusätzlichen Finger scheint diese Haltung zu kondensieren: ein Pianist, der den Einbruch des Komisch-Absurden in die Welt – das Hervorschießen des helfenden Fingers – dankbar als Bereicherung begreift, als Bereicherung und Erleichterung in einer Welt des Normalen, buchhalterisch Nicht-Komischen: «Ein Finger zu viel» – in diesem Rezensenten-Notat steckt die Geistlosigkeit der Welt.

Wenn Alfred Brendels letztes Buch, ein Essay- und Gesprächsband, nun «Naivität und Ironie» überschrieben ist, dann kann man auch dies als denkbar konzentrierteste Selbstcharakterisierung des Menschen und Künstlers Alfred Brendel begreifen. Es handelt sich freilich um ein Zitat, das von Friedrich Zelter stammt, dem Musiker, Leiter der Berliner Sing-Akademie und Freund Goethes. Als «Naivität und Ironie» beschrieb Zelter in einem Aufsatz die Merkmale des wahren Genies, und er erkannte diese Joseph Haydn zu. An keiner Stelle des Brendelschen Buches hat man zwar den Eindruck, der Autor vergleiche sich kokett mit Haydn. Aber dass dies ein Buch ist, das aus tief empfundenen Geistesverwandtschaften gespeist wird, steht außer Frage. Das Begriffspaar «Naivität und Ironie» bildet dabei den gedanklichen Start- und Zielpunkt, auf den Brendel immer wieder Bezug nimmt, und von dem aus er die Figuren in den Blick nimmt, die ihm lebenslang wichtig waren: Haydn, Mozart, Beethoven, Busoni, dazu Goethe. Gespräche über den Roman und über das Altern ergänzen sinnfällig die Zusammenschau.

Gleichberechtigt stehen die beiden Begriffe bei Brendel jedoch nicht nebeneinander: Während das Verständnis dessen, was «Naivität» ist, als gegeben vorausgesetzt wird (erläutert wird dieser Begriff nicht), widmet Brendel dem anderen ein kleines Unterkapitel. «Wie definiert man Ironie?» ist es überschrieben, und Brendel streift hier die rhetorische und dramatische Ironie, Ironie als Geisteshaltung und als Redeweise. Besonders nahe steht ihm jedoch die umfassende Definition des Literaturwissenschaftlers D. C. Muecke aus dem Jahr 1969: «Die ironische Haltung lässt durchblicken, dass es einen grundsätzlichen Widerspruch gibt, eine fundamentale und unabdingbare Absurdität.» (27) Der Finger und der Rezensent lassen grüßen. Über sich selbst notiert Brendel, er habe immer den Verdacht gehabt, die Welt sei absurd

Das Wesentliche des vorliegenden Buches steckt gleichermaßen im Inhalt wie im Stil. Während uns Brendel einerseits mit seinem enzyklopädischen Wissen und seiner Staunen machenden Belesenheit beeindruckt, ist es andererseits die allerorten hervorblitzende feine Ironie seiner Texte, die das Buch zum kurzweiligen und erhellenden Lesevergnügen macht. Über das Verhältnis von Goethe und Beethoven schreibt Brendel etwa: «Goethe seinerseits fand Beethoven zu ungezähmt; er war zwar damit einverstanden, dass man die Welt detestabel findet, sah aber keine Notwendigkeit, dies jedermann mitzuteilen.» (17) In puncto Humor betrachtet Brendel Beethoven als einen grundlegend Missverstandenen, als Opfer einer unzulänglichen, weil religiös-ehrfürchtigen Rezeption. Kronzeuge des Missverständnisses ist ihm das Spätwerk der Diabelli-Variationen, die man erst «kürzlich» zu schätzen und verstehen gelernt habe: «Eine der Ursachen der Verzögerung war das Missverständnis, Beethoven sei in seiner späten Musik ‹ein ganz Einsamer mit seinem Gott› gewesen, während ihm doch vielmehr das Profane nicht weniger zur Verfügung stand als das Erhabene […]». (66) Über den sogenannten «Altersstil» bedeutender Interpreten heißt es bei Brendel, der bereits 2008 seinen Abschied von der Bühne nahm, lapidar: «Wenn es einen Altersstil in der Interpretation gibt, dann ist es ein Kompromiss mit der Arthritis» (128).

Auch wenn dieses Büchlein noch nicht einmal 140 Seiten umfasst, so ist es eine unerschöpflich-geistreiche Quelle der Erkenntnis über Goethe und die Wiener Klassiker, über die Widersprüchlichkeit Ferruccio Busonis, über das Lesen und Schreiben, Interpretation und Interpretationsgeschichte, über das Alter und nicht zuletzt über Alfred Brendel selbst. Über seine Intention als Autor hat er etwas sehr Schönes gesagt (zu finden im «Gespräch über den Roman»), das gut als Beschreibung seiner literarischen Brillanz und auch für dieses Buch gelten kann: «Was ich […] versuchte, war, über Musik zu denken und zu schreiben, ohne dabei Unsinn zu reden. Nichts sollte zu sehr vereinfacht werden, aber auch nicht zu kompliziert sein.» (98f)

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Über den Verdacht, die Welt sei absurd: Alfred Brendels letztes Buch «Naivität und Ironie»
Alfred Brendel

hg. v. Martin Meyer u. Michael Krüger, Wallstein Verlag: Göttingen 2025, 139 S., € 20, –.

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