Flandern-Festival in Gent 2025. "Jedes Jahr zeigen etwa 1500 internationale Künstler ihre beste Seite in Gent und der Nähe", wirbt visitgent. Neu in das Programm aufgenommen: Die Ausladung. Allerdings handelt es sich nicht um ein Konzert, sondern um ein dokumentarisches Drama.
Es treten auf: die Verantwortlichen des Festivals in Gent. Im Hintergrund: der Stadtrat und die flämische Kulturministerin. Verhandelt wird der vorgesehene Auftritt der Münchener Philharmoniker unter Lahav Shani. Man kann seine Silhouette im Schattenriss der kulturpolitischen Akteure erahnen. Aber die Bühne betritt der Dirigent selbst nicht. Man hat ihn ausgeladen. Shani habe sich nicht klar von der Gaza-Politik und dem militärischen Vorgehen der Netanjahu-Regierung distanziert. Die Ausladung kommt als Urteil daher: In Gent reicht es, dass Shani ein Israeli ist.
Ein Trauerspiel mit dramatischem Höhepunkt. Das angezielte kathartische Effekt besteht in einer selbstgerechten Empörung, die sich ungehemmt entlädt. Denn hier wird ein Künstler ausgeladen, der sich als Dirigent immer wieder für die palästinisch-israelische Verständigung engagiert hat. Das aber reicht nicht für ein Konzert beim Flandern-Festival. Mehr Gesinnung ist gefordert. Die hat man in Gent bewiesen und den antisemitischen Kern des affektiven Aufwands freigelegt.
Jürgen Kaube hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Muster eines israelbezogenen Antisemitismus analysiert. Lahav Shani ist Jude. Er leitet das Israel Philharmonic Orchestra (und nicht nur demnächst die Münchener Philharmoniker, sondern bereits die Rotterdamer).
Der Syllogismus: "Jude aus Israel, ergo bis auf Widerruf genozidaler Gesinnung". Es handelt sich um nichts weniger als die Inszenierung eines kulturbetrieblich zunehmend applausfähigen Antisemitismus, moralisch-politisch getarnt.
Herta Müller hat unlängst auf den kulturellen Bruch hingewiesen, der sich im Westen innerhalb der knapp zwei Jahre seit dem Terrorangriff des Hamas auf Israel vollzogen hat. Er lenkt nicht nur die Sicht auf Verantwortung um. Gerade linker Protest laboriert am inneren Widerspruch einer Solidarität, der Humanität – zu Recht mit Blick auf die Menschen in Gaza – einfordert, aber der Inhumanität der Hamas den Weg bereitet.
Humanitäres Ethos verlangt Kritik an Netanjahus eskalierter Kriegsführung. Das schließt allerdings den Einspruch gegen jenen moralischen Umkehrschub ein, mit dem die Hamas Protest-Positionen kapert.
Um es klar zu sagen: Humanitäres Ethos verlangt Kritik an Netanjahus eskalierter Kriegsführung. Das schließt allerdings den Einspruch gegen jenen moralischen Umkehrschub ein, mit dem die Hamas Protest-Positionen kapert.
Die Free Palestine-Allianz, deren Fahnen in Europa überall wehen, basiert auf einer toxischen Blickumkehr der Verhältnisse, die 10/7 ausgelöst haben. Die Entdifferenzierung von Israel als Staat und seiner Zivilgesellschaft, nicht zuletzt von Israelis und von Juden belegt in der Zurechnung von Verantwortung einen habituell antisemitischen Affekt. Die Genter Ausladung führt den Beweis.
Sie beeinhaltet eine Lektion eigener Art. Sichtbar wird die poröse Nachhaltigkeit von Erinnerungsarbeit. Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit den Ursachen der Shoa haben nicht nur in Deutschland zu einer selbstverständlichen Solidarität mit Israel und einer besonderen Verantwortung für jüdisches Leben geführt.
Beides bröckelt, und auch das wird im belgischen Trauerspiel sichtbar. Dabei zeigt sich auch, dass die Bereitschaft in vielen Ländern Europas begrenzt ist, sich Auskunft über den lange latenten und zunehmend ausbrechenden Antisemitismus zu geben. Die Genter Ausladung ist Aspekt der immensen Beschleunigungsdynamik von antisemitischen Aktionen. Gesellschaftliche Diskursverweigerung über ihre Ursachen und ihre virale Verbreitung verstärkt sie.
Die Verantwortung der Kirchen
Angesichts der Langzeitwirkung antisemitischer Dispositionen sind die Kirchen gefordert. Für die katholische Kirche darf man sich von Papst Leo XIV. mehr politische Umsicht versprechen als von seinem Vorgänger. In diesem Jahr erinnert die katholische Kirche an den Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 60 Jahren. Einer seiner Meilensteine war die Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen "Nostra aetate" mit dem vierten Kapitel, das die Haltung zum Judentum auf eine neue Grundlage stellte. Verbundenheit und Wertschätzung bestimmen Ton und theologische Motivführung. Zu den Leerstellen des Dokuments zählt die politisch-theologische Frage, was Land und Staat Israel aus Sicht der Kirche bedeuten. Nach 10/7 ist der neue Pontifex gefordert, die theologische Würdigungsabsichtserklärung des Konzils im Horizont eines weltweit grassierenden Antisemitismus zur Geltung zu bringen.
Der jüdisch-christliche Dialog hat es heute schwerer, als man sich vor zwei Jahren noch hatte vorstellen können.
Im Blick auf kirchliche Verantwortung reicht es nicht, die Verwiesenheit auf Israel theologisch zu begründen. Es braucht Zeichen gelebter kirchlicher Solidarität. Das gilt auch angesichts der Tatsache, dass es der jüdisch-christliche Dialog schwerer hat, als man sich vor zwei Jahren noch hatte vorstellen können.
"Nostra aetate" beteuerte, die Kirche könne "nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schösslinge eingepfropft sind." Sechzig Jahre später gilt es, dem unter veränderten zeitgeschichtlichen Bedingungen belastbaren Kirchenausdruck zu verleihen. Das Bereitstellen von Foren nachdenklicher Auseinandersetzung mit der Gegenwart im Heiligen Land zählt dazu – in der Vergegenwärtigung der Gewaltgeschichten und ihrer Opfer, auf allen Seiten.
Das schließt die bekennende Erinnerung an die Schuldanteile antijüdischer Traditionsbildung der katholischen Kirche ein. Die überfällige Einführung des Tags des Judentums in Deutschland könnte ein solches Zeichen der Verbundenheit setzen, das in die Gemeinden wirkt und in die Gesellschaft ein Signal setzt. In Zeiten kultureller Eskalation braucht es jedenfalls mehr, als auch der Vatikan in den vergangenen beiden Jahren getan hat.