Neuer KirchenlehrerRepräsentant der Moderne

John Henry Newman ist von Papst Leo XIV. zum „doctor ecclesiae“ ernannt worden. Unter den nunmehr 38 Kirchenlehrern der römisch-katholischen Tradition – darunter vier Frauen – repräsentieren nur Therese von Lisieux und Newman die Moderne.

Geboren 1801 und gestorben 1890 ist das 19. Jahrhundert sein Leben: Säkularisierung, Industrialisierung, Individualisierung. Als Prediger der Universitätskirche von Oxford wird Newman zu einem der einflussreichsten Intellektuellen der Church of England. Er ist eine Leitfigur des Oxford Movement, einer akademisch geprägten Reformbewegung, die altkirchlicher und katholischer Theologie und Liturgie stärkere Geltung in der Anglikanischen Kirche verschaffen will. 1845 zieht er aus diesem Reformbemühen die Konsequenz und konvertiert zur römischen Kirche. Angesichts des Ansehens des Katholizismus im Vereinigten Königreich dieser Zeit – man spricht verächtlich von einer „Dienstmädchenreligion“ – ist dies ein gesellschaftlicher Statusabsturz.

Rechtskatholische Kreise wollen den Konvertiten als Vorbildfigur einer „Rückkehrökumene“ vereinnahmen. Doch das steht quer zu Newmans Selbstverständnis. Sein integraler Lebensweg über die gesamte Spannweite des westlichen Christentums – von einer evangelikalen Spielart des Anglikanismus (low church) über den konservativen hochkirchlichen Reformer bis zum römisch-katholischen Christen: Das ist Newmans christliche Glaubensidentität. Wer nur seine Zielankunft im Katholizismus betont, springt zu kurz.

In einer „Verteidigung des eigenen Lebens“, veröffentlicht 20 Jahre nach seiner Konversion, bekennt Newman sich zu seiner ursprünglichen evangelikalen Glaubenserfahrung, der entsprechend es für ihn „zwei und nur zwei Wesen gebe, die absolut und von einleuchtender Selbstverständlichkeit sind: ich selbst und mein Schöpfer“. Diese evangelikal geprägte Glaubenseinsicht hat auch für den Katholiken noch Gültigkeit. Unter den genannten absoluten Instanzen – Gott und das eigene Selbst – kommt auffälligerweise die Kirche nicht vor. Gegen einen römischen Objektivismus entdeckt und verteidigt er das Subjekt als unüberspringbare Instanz des Glaubens. Er, der das Erste Vaticanum und das dort verkündete Dogma der Unfehlbarkeit des Papsts kritisch gesehen hat (nicht in der Substanz, sondern als taktisch nicht probat), verteidigt das Dogma gegen liberale Kritik – aber mit dem für rechtskatholisches Denken „falschen“ Argument: mit der Dogmenentwicklung (im Letter to the Duke of Norfolk, 1875).

Dass Glaube nicht durch Gehorsam gegenüber der Autorität der Kirche bestimmt, sondern unvertretbarer, personaler Akt des Subjekts ist, dass die Wahrheit des Glaubens nicht in Stein gemeißelt ist, ob von himmlischer oder römischer Qualität, sondern geschichtlich sich ereignet – also lebendig ist, wandelbar, entwicklungsfähig, verletzlich: das zu lehren macht die Modernität und bleibende Bedeutung John Henry Newmans aus.

Seine Theologie ist zu Lebzeiten schon umstritten. Mehrfach kommt es zu Versuchen, lehramtlich gegen ihn vorzugehen. Besonders für den damaligen Erzbischof von Westminster, Kardinal Henry Edward Manning, ist er der „gefährlichste Mann in England“. Zugleich ist sein Ansehen so hoch und sein Einfluss so groß, dass Papst Leo XIII. ihn 1879 zum Kardinal erhebt. So spannt sich von Leo zu Leo ein Bogen amtlicher Wertschätzung – mit der Selig- und der Heiligsprechung (2010/19) als Stützpfeilern. Diese Wertschätzung ist ambivalent: Zum einen reflektiert sie die Verehrung, die Newman in England schon früh zuteilgeworden ist. 1896 wird ein erstes Denkmal für ihn errichtet, vor dem Londoner Oratorium. Zum anderen kann in ihr die Strategie der amtlichen Vereinnahmung eines überaus eigenständigen Geists erkannt werden. Vielleicht ist den Kritikern seines Denkens dessen Triftigkeit auf heimlich-unheimliche Weise bewusst gewesen.

Auch wenn sein Denken den lehramtlich so identifizierten und verurteilten Modernismus beeinflusst hat, ist Newman selbst nie ein „Modernist“ gewesen. Vielmehr muss seine Theologie immer als Ausdruck eines persönlichen Suchens nach je tieferer Spiritualität verstanden werden. Mit John Henry Newman wird Glaube zu einem hochverantwortungsvollen Unterfangen, das die Menschen in ihrer Intellektualität, Emotionalität, Existenz beansprucht. Wie gut, dass er, der sich in den 1850er-Jahren am Aufbau einer katholischen Universität in Dublin versucht hat, auch zum Patron des katholischen Bildungswesens ernannt worden ist.

Anzeige: Ich habe dich geliebt. Dilexi te – Über die Liebe zu den Armen. Das erste Lehrschreiben des Papstes
CIG Ausgaben

Christ in der Gegenwart im Abo

Unsere Wochenzeitschrift bietet Ihnen Nachrichten und Berichte über aktuelle Ereignisse aus christlicher Perspektive, Analysen geistiger, politischer und religiöser Entwicklungen sowie Anregungen für ein modernes christliches Leben.

Zum Kennenlernen: 4 Wochen gratis

Jetzt gratis testen