Am 4. Oktober, dem Fest des heiligen Franz von Assisi, veröffentlichte Papst Leo sein erstes Schreiben. Der programmatische Text lässt keinen Zweifel daran, dass Leo das Programm von Franziskus fortführen wird, dessen Textentwurf er „geerbt“ hat (wie er in Absatz 3 schreibt) – und den er mit seiner eigenen theologischen Handschrift fortgeschrieben hat.
Die Exhortatio (wörtl.: Mahnschreiben) richtet sich nach Inhalt und Stil vor allem an die Kirche selbst. Von einer Sozialenzyklika unterscheidet sie sich durch den etwas abgestuften lehramtlichen Rang sowie durch den Verzicht auf eine explizite Gesellschaftsanalyse und einen eigenen institutionenethischen Entwurf.
Dilexi te ist ein zugleich geistlicher und politischer Text. Am Anfang steht die Zuwendung der barmherzigen Liebe Gottes an die Armen. Auf diese Zusage soll die Kirche mit einer „prophetischen“ Liebe (120) antworten. Papst Leo spricht in eine polarisierte Welt hinein, die von höchst unterschiedlichen Erwartungen an die Kirche bestimmt ist. Er ruft zu Unterscheidungsfähigkeit und konkretem Einsatz auf, damit die Botschaft, der die Kirche verpflichtet ist, nicht verzerrt wird und Kirchenmenschen sich nicht vor einen Karren spannen lassen, der sie vom Kern der biblischen Gotteserzählung entfernen würde.
Der Appell „Vergiss nicht die Armen!“ tönt durch die Bibel – von den Psalmen (vgl. Ps 10, 12) bis zu den Paulusbriefen (vgl. Gal 2,10). Die vorrangige Option für „die Armen“ gehört zum Kern der biblischen Gottesoffenbarung (Ex 3,7–10), der prophetischen Kritik und der Verkündigung Jesu. Die Nächstenliebe ist „nicht etwas Optionales, sondern das Kriterium für den wahren Gottesdienst“ (42): „Man kann nicht beten und Opfer darbringen, während man die Schwächsten und Ärmsten unterdrückt“ (17).
Achtsamkeit gegenüber den Armen und aktiver Einsatz zur Überwindung der vielfältigen Gesichter „der Armen und der Armut“ (9) sind im strengen Wortsinn notwendig, denn es gibt „manchmal gut getarnt – eine Kultur …, die andere ausgrenzt, ohne dies überhaupt zu bemerken, und die es gleichgültig hinnimmt, dass Millionen von Menschen verhungern oder unter menschenunwürdigen Bedingungen überleben“ (11).
Leo benennt vielfältige Armutsphänomene und -ursachen. Die Stichworte rufen Bilder aus den Kriegs- und Krisenregionen aller Kontinente hervor. Der Welthungerindex 2025 belegt eine Stagnation in der Bekämpfung des Hungers, in etlichen Staaten sogar eine Zunahme in den letzten Jahren. Ausdrücklich kritisiert Leo eine „meritokratische“ Sichtweise, die armutsbetroffenen Menschen selbst pauschal die Schuld für ihre Not zuschreibt (14).
Vor diesem Hintergrund bekräftigt das Schreiben die Wirtschaftskritik von Papst Franziskus. Diese richtet sich nicht – wie oft behauptet – gegen die Wirtschaft als solche, sondern gegen eine „Wirtschaft, die tötet“, insofern sie einer kapitalistischen Logik ohne sozialen Ordnungsrahmen folgt. Anschauungsunterricht in der realen Welt gibt es hinreichend. Die an der Option für die Armen orientierte (vgl. 82–89) kritische Betrachtung der globalen sozialen und ökonomischen Dynamiken fügt sich in die Tradition der Soziallehre der Kirche ein. Seit der Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) Papst Johannes Pauls II. gehört die Option für die Armen in deren Kanon (vgl. SRS 42). Die Enzyklika Centesimus annus (1991) hat differenziert zum Thema (Soziale) Marktwirtschaft und zum „Kapitalismus“ Position bezogen (vgl. CA 30–43). Leo knüpft zudem an die Schreiben des Rates der Lateinamerikanischen Bischofskonferenzen (CELAM) seit den späten 1960er-Jahren an, insbesondere an das Dokument von Aparecida (2007).
Von den biblischen Anfängen bis in die Gegenwart gilt die liebevolle Zuwendung zu den Armen als zentrales Kriterium für die Identität, Authentizität und Reformfähigkeit der Kirche. Sie muss jedoch immer wieder neu in eine zeitgemäße Form übersetzt werden. Dafür stehen einzelne Zeuginnen und Zeugen, die christliche Gemeinde, Orden und Initiativen gläubiger Menschen. Nur an der Seite der Armen und mit den Armen, in der Verpflichtung auf die Universalität und Unteilbarkeit des Liebesgebotes kann die Kirche beanspruchen, Kirche Jesu Christi zu sein und den Gott zu verkünden, der den Schrei der Armen hört, ihre Befreiung zu seiner Aufgabe macht und sich in Jesus Christus selbst radikal arm und mit den Armen solidarisch zeigt. Es ist dieser Anspruch, auf den Leo den Fokus legt. Mit Blick auf die Gegenwart formuliert er deutlich: „Ich bin überzeugt, dass die vorrangige Option für die Armen eine außerordentliche Erneuerung sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft bewirkt, wenn wir dazu fähig sind, uns von unserer Selbstbezogenheit zu befreien und auf ihren Schrei zu hören“ (7).
Der Papst erinnert an Ressourcen kirchlicher Erneuerung, allem voran an die Einheit des Liebesgebotes als Kompass der Gemeindebildung in den Schriften des Neuen Testaments, und an den herausragenden Stellenwert, den die spätantiken Kirchenväter dem Einsatz für die Armen zuweisen. Er reflektiert, wie Augustinus (dessen Regel er als Ordensmann folgt) über das Almosengeben, die Teilung der Güter und den sakramentalen Charakter der Zuwendung zu den Armen denkt. Das kann man als diskretes Korrektiv zu einer Interpretation der „Ordnung der Liebe“ (ordo amoris) lesen, mit der J.D. Vance die ausgrenzende US-Politik gegenüber Migranten zu rechtfertigen versucht.
Leo legt dar, wie die bis heute orientierende monastische Regel des heiligen Benedikt tätige Nächstenliebe und Gastfreundschaft nicht als Gegensatz, sondern als „Außenseite“ des kontemplativen Lebens erschlossen hat – als „Sauerteig für eine neue Zivilisation, in der die Armen nicht als ein zu lösendes Problem gesehen wurden, sondern als Brüder und Schwestern, die es aufzunehmen galt. Die Regel des Teilens, die gemeinsame Arbeit und die Hilfe für die Schwachen waren Eckpunkte einer solidarischen Wirtschaft, die im Gegensatz zur Logik des Anhäufens stand“ (55). Die Bettelorden des Mittelalters und weitere Gemeinschaften, die sich der Krankensorge, dem Loskauf von Gefangenen oder der Bildungsarbeit widmeten, zeigen ebenso wie die modernen Institutionen der Caritas, wie die Grundorientierung immer wieder neu sozial und kulturell übersetzt wurde.
Ausdrücklich würdigt Papst Leo die organisierte Migranten-Seelsorge sowie Initiativen wie Aufnahmezentren, Missionsstationen an politischen Grenzen, den Einsatz von Caritas Internationalis und anderen Hilfsorganisationen (73–75). Mit kritischem Unterton gegenüber einer Migrationspolitik, die auf Schließung und Abschottung von Herrschaftsräumen setzt, betont der Papst den inklusiven Anspruch des kirchlichen Engagements für Menschen in der Migration: „Wie eine Mutter begleitet die Kirche alle, die unterwegs sind. Wo die Welt Bedrohungen sieht, sieht sie Kinder; wo Mauern errichtet werden, baut sie Brücken“ (75). Leo begründet diesen Anspruch christologisch: Die Zuwendung zu den Armen ist nach kirchlichem (Selbst-)Verständnis mehr als ein sozialer Dienst (75). Sie speist sich aus der Offenbarung Gottes, der sich den Armen liebevoll zuwendet, und wird selbst zur Offenbarung der geschenkten Möglichkeit, Leben zu teilen und erfahrenes Leid, Entbehrung und Ungerechtigkeit zu überwinden. Für die Kirche ist die Hinwendung zu den Armen, ihre Anerkennung als Subjekte und Geschwister eine „Familienangelegenheit“ (104).
Leo lässt keinen Zweifel an der weltweiten, Grenzen sprengenden Aufgabe der Kirche, an der Seite der Armen zu sein und mit ihnen für Gerechtigkeit, Befreiung und Überwindung Armut verursachender Strukturen zu kämpfen. Diese im Wortsinn katholische Reichweite betont er gegen alle Versuche und Versuchungen, die Kirche für partikulare Interessen oder zur Legitimation von Machtansprüchen zu vereinnahmen.
Er würdigt die „Volksbewegungen“ und plädiert für eine „Politik mit den Armen“ sowie für die politische Repräsentation der Armen als Voraussetzung einer lebendigen und kraftvollen Demokratie. Wenn der lakonische Zusatz, „dasselbe gilt für die kirchlichen Institutionen“ (81), als Plädoyer für Synodalität und innerkirchliche Partizipation gelesen werden darf, sind daraus weiterreichende institutionelle Konsequenzen zu ziehen, als bisher absehbar ist. Ungewohnt deutlich ruft Leo in Erinnerung, dass die Soziallehre sich wesentlich dem Lernen der Kirche von solchen Bewegungen – er nennt „Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegungen sowie den Kampf gegen rassistische Diskriminierung“ (82) – und dem Engagement von Christinnen und Christen – insbesondere von Laien und Ordensleuten – verdankt, die sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit stellten. In der Gegenwart sei „die kontinuierliche Interaktion zwischen Getauften und Lehramt, zwischen Bürgern und Experten, zwischen Volk und Institutionen … noch notwendiger. Insbesondere muss von neuem erkannt werden, dass die Wirklichkeit von den Rändern besser zu sehen ist und dass die Armen über eine ihnen eigene Intelligenz verfügen, die für die Kirche und die Menschheit unverzichtbar ist“ (82).
Die Kirche braucht diese klare Perspektivierung, um geltend zu machen, was dem Blickwinkel der Zentren und der Mächtigen zu entfallen droht, wenn das Denken sich der sozialen Wirklichkeit entfremdet. Leo sieht eine Struktur der Sünde am Werk, wenn es „normal [wird], die Armen zu ignorieren und so zu leben, als ob es sie nicht gäbe“ (93). Der kritische Blick auf eine vermachtete, ausgrenzende soziale Wirklichkeit kulminiert in der prophetischen Mahnung, die gleiche Menschenwürde aller anzuerkennen und nicht zu Lasten der Armen mit zweierlei Maß zu messen: „Sind die weniger Begabten keine Menschen? Haben die Schwachen nicht die gleiche Würde wie wir? Sind diejenigen, die mit weniger Möglichkeiten geboren wurden, als Menschen weniger wert und müssen sich damit begnügen, bloß zu überleben? Von der Antwort, die wir auf diese Fragen geben, hängt der Wert unserer Gesellschaften ab, und von ihr hängt auch unsere Zukunft ab. Entweder wir gewinnen unsere moralische und geistige Würde zurück oder wir fallen gleichsam in ein Schmutzloch“ (95).
„Arm“ ist in der Perspektive des Evangeliums nicht allein eine soziologische, sondern eine theologische Kategorie. Sie verweist auf den Kern des Bekenntnisses zu Jesus Christus, der „Fleisch angenommen hat, das hungert, dürstet, krank ist und gefangen“ (110). Unter diesem Vorzeichen lädt Papst Leo dazu ein, sich der „überraschenden Erfahrung“ zu öffnen, „dass gerade die Armen es sind, die uns das Evangelium lehren“ (109). Die Aufforderung, von den Armen das Evangelium zu lernen, ist ein starker Impuls, das Subjektsein der Armen anzuerkennen – und zugleich das eigene Lebensmodell auf den Prüfstand zu stellen. Dass das keine Romantisierung der Armut ist, wird deutlich, wenn Leo komplementär dazu das Recht der Armen auf Wissen und Bildung und die Pflicht der Kirche betont, sich dieses Recht durch inklusive Bildungsangebote, insbesondere Schulen, zur Aufgabe zu machen (72).
Ausdrücklich würdigt Papst Leo das Ziel der Vereinten Nationen, die weltweite Armut zu beseitigen (10). Der Ausgrenzung der Armen aktiv entgegenzuwirken, verlangen grundlegende Positionen der Soziallehre der Kirche ebenso wie die (sozialen) Menschenrechte. Aus dem wirtschaftsethischen Prinzip der Gemeinwidmung der Erdengüter leitet die katholische Sozialtradition die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ab (vgl. u.a. 86), unterstreicht die solidarische Verpflichtung zum Teilen der Güter und mahnt Verteilungsgerechtigkeit – auch und gerade im Blick auf die natürlichen Ressourcen – an (95).
Als ob er einer erwartbaren Abwehrhaltung vorbeugen wollte, macht sich Papst Leo die Mahnung seines Vorgängers zu eigen, „dass Religion, insbesondere die christliche, nicht auf den privaten Bereich beschränkt werden darf, so als ob die Gläubigen sich nicht auch um die Probleme der Zivilgesellschaft und die Ereignisse, die die Bürger betreffen, kümmern müssten“ (112). Ausdrücklich wendet er sich gegen einen religiösen Habitus, der sich in die eigene Blase zurückzieht, sich gegen die unbequemen Seiten der sozialen Wirklichkeit immunisiert und Verantwortung für ein gelingendes Zusammenleben zurückweist. Religiöse und politische Narrative, die aktuell vor allem in rechten Kreisen reüssieren, kritisiert Leo deutlich: „Indem sie diesen religiösen Aspekt von einer ganzheitlichen Förderung trennen, fügen sie hinzu, dass allein die Regierung sich um sie [die Armen, Anm. d. Verf.] kümmern sollte oder dass es besser wäre, sie in ihrem Elend zu lassen und ihnen erst einmal das Arbeiten beizubringen. Manchmal werden auch pseudowissenschaftliche Kriterien herangezogen, wenn etwa gesagt wird, dass der freie Markt von selbst zur Lösung des Problems der Armut führen werde“ (114).
Papst Leo XIV. hat mit seiner Exhortatio ein starkes Programm zur geistlichen Erneuerung der Kirche vorgelegt. Er stellt klar, dass christlicher Glaube nicht unpolitisch gelebt werden kann. Und er betont überzeugend, dass die vorrangige Option für die Armen als Antwort auf die liebende Zuwendung Gottes zu den Armen zentrales Unterscheidungskriterium für kirchliches Handeln sein muss.
„Das Herz der Kirche ist ihrem Wesen gemäß solidarisch mit denen, die arm, ausgegrenzt und an den Rand gedrängt sind, mit denen, die als ‚Abfall‘ der Gesellschaft betrachtet werden.“ (111) Daraus nährt sich das prophetische Werben für eine Grenzen überschreitende, inklusive Liebe, „die keine zu bekämpfenden Feinde kennt, sondern nur Männer und Frauen, die es zu lieben gilt, das ist die Kirche, die die Welt heute braucht“ (120). Dass solche Grenzen überschreitende Liebe weder Kinder noch Menschen ausschließen wird, die sich nicht in der zweigeschlechtlichen Ordnung identifizieren (können), noch irgendeine andere Gruppe von Menschen, die hier nicht ausdrücklich genannt ist, liegt in der Logik ihres inklusiven Charakters, denn: Sie „vollbringt Wunder, sie kennt keine Grenzen: Sie ist für das Unmögliche da.“ (120)