Eine Herausforderung für SeelsorgerMit der Bibel leben

Seelsorger arbeiten in der Regel tagtäglich mit der Bibel. Das führt dazu, dass biblische Texte unter allen möglichen Facetten angeschaut werden, von der praktischen Verwendbarkeit über die methodische Erschließung bis hin zu einer kreativen Gestaltung. Der Text wird zu einem Gegenüber, das es zu „erarbeiten“ gilt. Bibel aber will mehr, Bibel will gelebt sein. Und das ist die wirkliche Herausforderung, gerade auch für Seelsorger - mit der Bibel nicht nur zu arbeiten, sondern auch mit ihr zu leben.

Wenn man nach den „Fundamenten" unserer pastoralen Arbeit fragt, steht die Bibel natürlich an erster Stelle. Das Wort Gottes ist Grundlage unseres Handelns - und natürlich arbeiten Seelsorger tagtäglich mit der Bibel und biblischen Texten: Gottesdienste werden vorbereitet, man sucht einen Schrifttext für eine Beerdigung, im Religionsunterricht wird das Gleichnis vom „Barmherzigen Vater" durchgenommen, das „Wort zum Sonntag" für die Tageszeitung soll geschrieben werden. Die Frauengruppe hätte gerne einen Abend zur „Frau am Jakobsbrunnen" und die Erstkommunionkinder suchen in diesem Jahr den „Schatz im Acker". Man beschäftigt sich mit dem Tagesevangelium und überlegt beim Lesen schon, was man denn in der Predigt dazu sagen will. Und gab es da nicht zu dieser Schriftstelle ein Bild von Sieger Köder, das man eventuell einsetzen könnte? Und für die Frauengruppe müsste man das Geschehen am Jakobsbrunnen ja irgendwie kreativ gestalten, vielleicht mit einem schönen Krug und einem Becher aus Ton? Und dann schaut man noch mal in einen schlauen Kommentar zu dem Text, geht auf Suche im Internet, kopiert einen Text zu dem Thema, den man am Ende der Veranstaltung gerne austeilen möchte. 

Ja, wir arbeiten mit der Bibel und mit biblischen Texten, durchaus kompetent, kreativ, professionell und teilnehmerorientiert. Wir arbeiten damit - aber leben wir noch mit der Bibel? 

Die alltägliche Versuchung

Die Gefahr ist groß, dass wir zwar hervorragend mit der Bibel arbeiten können - aber vor lauter Arbeit vergessen, mit ihr zu leben. Und irgendwie ist das auch verständlich. Im Laufe einer Woche werde ich allein beruflich mit ca. fünf bis zehn Bibelstellen konfrontiert, zu denen ich einen Wortgottesdienst zu gestalten habe, eine Beerdigung leiten, den Impuls für die Pfarrgemeinderatssitzung machen soll oder eine biblische Erzählung methodisch-didaktisch für die Bibelgruppe aufbereiten muss. Ich habe nicht die Zeit und die Kraft, jeder dieser Bibelstellen existentiell in meinem Leben nachzuspüren - zumal mir einige Bibelstellen in manchen Lebenssituationen nun erst einmal wirklich nicht so arg viel sagen. Dann bin ich grad froh genug, wenn ich halbwegs professionell und kreativ eine Umsetzung finde, die den Teilnehmern der Bibelgruppe oder den Gläubigen im Gottesdienst oder bei der Beerdigung gerecht wird - und wenn ich dabei auf entsprechende Hilfen zurückgreifen kann. 

Der biblische Text aber wird damit zu einem „Gegenüber", das es zu „erarbeiten" gilt. Und dann ist die Gefahr groß, dass wir mit dem Psalm 91 genauso umgehen wie mit dem Gedicht „Erlkönig" von Goethe („was will der Dichter uns damit sagen?"), dem Dreißigjährigen Krieg im Geschichtsunterricht („was ist damals genau geschehen?") oder dem Lehrsatz des Pythagoras („wie kann man das am besten erklären?"). Nun gut, man kann mit all diesen Fragen natürlich auch an biblische Texte herangehen - aber Bibel will mehr und ist mehr. 

Bibel will gelebt sein. Aber: Seelsorger in unserer Kirche, in unserer Gesellschaft haben genug zu tun. Manchmal haben sie soviel zu tun, dass sie keine Zeit mehr haben zu leben. Und das Wort „leben" ist in dem Fall sehr bewusst klein geschrieben - denn so ist es ein Verb, oder wie man früher sagte, ein „Tu-Wort". „leben", das muss man tun - und auch „Leben in Fülle" braucht meinen aktiven Beitrag. Gott kommt nicht einfach vorbei - und schenkt mir ein Kilo Lebendigkeit. 

Er bietet mir unsagbar viele Chancen und Möglichkeiten, das Leben zu erfahren - aber es liegt an mir, ob ich mich darauf einlasse. 

Unser beruflicher Alltag birgt die Gefahr, sich von all den Anforderungen und Erwartungen vereinnahmen zu lassen. Wir lassen uns auf eine Rolle, eine Funktion reduzieren - oder vielleicht richtiger gesagt: Wir reduzieren uns selbst - um mit der Komplexität der alltäglichen Anforderungen noch irgendwie fertig werden zu können. Ja, dann können wir immer noch mit biblischen Texten gut arbeiten, wir bereiten sie auf, wir versachlichen sie, wir legen sie aus, wir kommentieren sie. Aber wir lassen uns auf diese menschlichen Grunderfahrungen nicht mehr ein, die zu der Entstehung solcher Texte geführt haben. Damit aber verlieren diese Texte eigentlich ihre Dynamik, ihre Leidenschaft, ihre existentielle Bedeutung. Sie kommen aus dem Leben - und wollen im Leben gelebt sein. Wenn ich aber nicht mehr lebendig bin, wenn ich nicht mehr suche und frage, dann haben diese Texte auch keinen Ort mehr in meinem Leben. Dann werden sie wirklich zum „Erlkönig" von Goethe, zum „Dreißigjährigen Krieg" oder zum Lehrsatz des Pythagoras. 

Ich muss Erfahrungen mit dem Leben machen, um die Texte, die von solchen Erfahrungen berichten, wirklich verstehen zu können. 

Bibel ist Leben und Glauben der Menschen 

Biblische Texte haben ihre ganz eigene Entstehungsgeschichte, der wir an dieser Stelle nicht im einzelnen nachgehen müssen. Aber am Anfang stand die Erfahrung und die Auseinandersetzung des Menschen mit den Kräften in seinem Leben, die er nicht verstehen konnte, die dann zu Göttern, schließlich zu Gott wurden. Und die Menschen machten ganz individuelle Erfahrungen mit diesem Gott, die sich dann über einen langen Zeitraum hinweg kollektiv verdichteten und schließlich „verschriftlicht" wurden - mit all den menschlichen Grenzen unserer Ausdrucksmöglichkeiten, mit allen kulturellen und zeitbedingten Gegebenheiten. Deswegen werden wir die biblischen Texte nicht wirklich verstehen, wenn wir diese Worte nicht „in unser Herz geschrieben haben" (Dtn 6,6) - das heißt, sie ge- und erlebt haben und ihnen damit „Fleisch und Blut" gegeben haben. Und die Vorbedingung dazu ist, dass wir leben und lebendig sind! Wir müssen das erleben, was andere Menschen vor uns erlebt haben, die es dann aus ihrem Glauben gedeutet haben und dieser Erfahrung schließlich eine schriftliche Form gegeben haben. 

Wie aber will ich existentiell die Exodus-Geschichte in mir verstehen, wenn ich mir gerade mein Häuschen gebaut habe und mich entschieden habe, an diesem Ort zu bleiben? Oder als Pfarrer, der nicht mehr bereit zum Wechsel ist? Wenn ich mich gut arrangiert habe mit dem, was ist - und die Sehnsucht verkauft und verraten habe? 

Wie will ich Heilung verstehen, wenn ich meine Verwundungen nie zugelassen habe? Wie will ich Jesu Zugehen auf die Ausgegrenzten und sozial Schwächeren nachvollziehen, wenn ich immer im „bürgerlichen Suppentopf" war? 

Auf die Frage, ob sie all das, was sie in ihren Gedichten beschreibt, selbst erlebt hat, sagt die Schriftstellerin Ulla Hahn: „Jede Pfütze, jedes Bad, sage ich, muss ich mir vorstellen können. Erlebt: ja. Gelebt: nein. Erfahren: ja. Widerfahren: nein." Und sie zitiert einen Religionslehrer: „Man muss nicht in jeder Pfütze gebadet haben, um zu wissen, dass sie dreckig ist." (Aus: Ulla Hahn, Unerhörte Nähe - Gedichte, Deutsche Verlags-Anstalt 1988) 

Aber man muss es sich zumindest vorstellen können, erahnen, spüren … 

Zwischenspiel

Es war vor einigen Jahren. Ich war damals freiberuflich tätig und überlegte, ein Theologiestudium zu beginnen. Das bedeutete, die freiberufliche Arbeit zu reduzieren, und damit eben auch weniger Geld zu verdienen. Wo aber sollte ich reduzieren? Ich hatte einige Kurse bei Unternehmen laufen, die natürlich das Dreifache an Honorar einbrachten wie die Kurse im kirchlichen Kontext. Andererseits - dort zu arbeiten, fand ich irgendwie unbefriedigend. Es war ein Job, zwar gut bezahlt, aber nicht unbedingt meine Sache. Aber - wenn ich jetzt das Studium angehe, sowieso arbeitsmäßig reduzieren muss, kann ich es mir dann leisten, gerade die Kurse abzusagen, die viel Geld bringen, auch wenn ich inhaltlich nicht so besonders dahinterstehen kann? 

An dem Nachmittag hatte ich mit meinem geistlichen Begleiter heftig um diese Frage gerungen - mein Bedürfnis nach Sicherheit und „Versorgung" lief irgendwie verquer mit Hingabe und Dienst - und als ich mich von ihm verabschiedete, war alles noch irgendwie offen. 

Zuhause angekommen, in aller Unruhe, in aller Offenheit, schaute ich auf die Uhr und dachte nur: Naja, man könnte eigentlich die Vesper beten. Und ich zog mich in meine Gebetsecke zurück, betete die Psalmen und kam schließlich zur vorgesehenen Schriftstelle, die an dem Tag lautete: „Du kannst nicht Gott dienen und dem Mammon." 

Damit war die Entscheidung klar. 

Und ich war vollkommen verwirrt, durcheinander, aufgewühlt - und fragte mich, wie ein Schriftwort, das durch die Leseordnung vorgesehen ist, plötzlich eine Antwort sein kann auf eine existentielle Frage in meinem Leben. Aber es war eine Antwort, die mich jetzt seit über zehn Jahren durchgetragen hat - und wenn ich mir meine Zukunft anschaue, wohl auch weiter tragen wird. 

Den biblischen Texten eine Chance geben 

Damit Bibel, biblische Texte mir etwas sagen können, muss ich ihnen zumindest eine Chance geben. Das kann das Stundengebet sein - oder auch die offizielle Leseordnung der Kirche. Die Grundvoraussetzung dafür ist, dass ich „da" bin. Das gilt zum einen ganz praktisch - wenn ich vor lauter Termindruck die Vesper nicht bete, spreche ich vielleicht den Satz nicht, der mir Gelassenheit schenkt, wenn ich nicht im Werktagsgottesdienst bin, kann ich die Zusage des Evangeliums nicht hören. Und es geht in dem Fall um ein anderes „Hören", ein anderes „Sprechen" - ich höre, spreche nicht einen Text, „um zu …", sondern ich höre, spreche zweckfrei. Ich will nichts von dem Text - und gerade deshalb kann ich es zulassen, dass der Text etwas von mir will. 

Aber dazu muss ich auch mit dem Herzen „da" sein, ich muss bereit sein, mich neu von einem Text berühren zu lassen, den ich vielleicht schon dutzende Male gehört habe. 

Ein Priester sagte mir mal vor einiger Zeit: „Du meine Güte - an diesem Sonntag ist schon wieder das Gleichnis vom ‚Barmherzigen Vater' dran - da weiß man ja schon gar nicht mehr, was man dazu sagen soll!" Ich kann dann nichts mehr dazu sagen, wenn ich den Text als „Gegenüber" verstehe. Aber wenn der Text in mir lebt, dann werde ich schon überlegen, was hat er mir jetzt zu sagen? Mit wem solidarisiere ich mich in dieser Geschichte jetzt, wer ist mir nah, wer fern? 

Meisterhaft durchbuchstabiert hat dies Henri Nouwen in seinem Buch: „Nimm sein Herz in deine Hände" - für ihn verändert sich das Evangelium gerade dadurch, dass er sich in einer Lebensphase in dem Sohn erkennt, der weggeht; in einer anderen in dem, der zurückbleibt - und schließlich im Vater, der seine beiden Söhne liebt. 

Das heißt „mit Bibel leben" - ich nehme die biblischen Texte in mein Leben hinein, befrage sie daraufhin, was sie mir zu sagen haben, lasse mich von ihnen berühren. 

Und Sie können ganz unbesorgt sein: Wenn Ihnen ein Text aus der Bibel wichtig geworden ist, dann ergeben sich die praktischen Umsetzungsmöglichkeiten für eine Gruppe und den Gottesdienst fast von ganz allein. Und in dem Fall gilt es auch umgekehrt: Einen Text, mit dem Sie nichts anfangen können, werden Sie auch kaum einer Gruppe nahebringen können. 

Klar - Sie werden es trotzdem kompetent, professionell, mit neuesten Methoden tun, keine Frage. Aber in dem Moment, wo Sie sich damit zufriedengeben, arbeiten Sie nur noch mit der Bibel. Aber Sie leben sie nicht mehr. 

Soweit ich weiß, ist das kein offizieller Kündigungsgrund. 

Aber ich glaube, es reicht trotzdem nicht. 

Vom Lesen der Speisekarte ist noch keiner satt geworden - auch Seelsorger nicht. 

Aber das wäre ja schon die nächste spannende Frage: Sind wir überhaupt noch hungrig nach dem, was Gott uns in unserem Leben zu sagen hat? 

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