Für den römischen Konsul Quintus Lutatius Cerco stand im Jahr 241 v. Chr. ein neuer Feldzug an. Natürlich wollte er sich zuvor vergewissern, ob das Glück bei dieser Unternehmung auf seiner Seite war. Und wer könnte darüber wohl besser Auskunft geben als die Glücksgöttin Fortuna, die zu dieser Zeit eine kleine Kultstätte mit Orakel im nahegelegenen Praeneste, dem heutigen Palestrina, hatte? Beim Senat sorgte das Vorhaben, die praenestinische Fortuna zu befragen, jedoch für Empörung. Der Konsul habe sich an die traditionell römischen Auspizien zu halten und nicht an fremde Orakelstätten, so die Meinung der Senatoren.
Wie es scheint, gab es also schon im 3. Jh. v. Chr. Spannungen zwischen Rom und dem Fortunaheiligtum in Praeneste, als dieses noch aus einem einfachen Altar und einer Kiste mit Orakellosen bestand. Im darauffolgenden Jahrhundert wurde dieses unscheinbare Heiligtum jedoch zu einem gewaltigen Monumentalbau ausgeweitet. Mit insgesamt sieben Abstufungen in ausladende Terrassen schließt das Heiligtum direkt an den Hang des Monte Ginestro, an dessen Fuß die Stadt Praeneste liegt. Ganz oben an der Spitze des Heiligtums thront schließlich als krönender Abschluss ein Rundtempel mit dem Kultbild der Fortuna.
Ein Zeichen der Abgrenzung
Doch warum wurde genau zu dieser Zeit diese Kultstätte so monumental ausgestaltet? Welche Bedeutung kam damals diesem Heiligtum zu? Und hatte vielleicht eine Rivalität zwischen Rom und Praeneste, wie sie bei dem Vorfall des Konsuln Cerco anzuklingen scheint, etwas damit zu tun? Diese Fragen stellen sich Archäologen und Archäologinnen schon seit geraumer Zeit. Einige sehen die Monumentalisierung tatsächlich als Antwort auf Spannungen mit Rom. Und einiges würde auch dafür sprechen.
Denn Rom expandierte auch in der späten Republik weiter stark nach außen und festigte seine Hegemonie in Italien. Praeneste dagegen, das weder ein municipium noch eine colonia war und sich Sonderverträge weitestgehend Autonomie gesichert hatte, könnte diese Entwicklung durchaus Sorge um ihre Eigenständigkeit bereitet haben. Was hätte also eine stärkere Wirkung von Widerstand, wenn auch nur symbolisch, als ein monumentales Heiligtum? Allein schon die gewaltige Größe und die erhabene Lage am Berg lassen die Anlage kontrollierend über die Landschaft darunter hereinragen und machen so einen Anspruch der Praenestiner auf ihr Stadt und das Umland deutlich. Auch die unteren drei Terrassen aus Polygonalmauerwerk, das eher im Bau von Stadtmauern verwendet wurde, senden ein klares Signal an Rom: Bis hier her und nicht weiter. Diese symbolische Abgrenzung in der Architektur zieht sich weiter durch das gesamte Heiligtum und ist auch im oberen Teil Programm. Unter dem Rundtempel befindet sich nämlich eine cavea (halbrunder Stufenbau), der dem comitium, also dem Platz der Volksversammlung der freien latinischen Städte nachempfunden sein soll – ein klares Zeichen der politischen Unabhängigkeit.
Das municipium ist eine städtische Gemeinde ursprünglich ohne römisches Bürgerrecht. Es war zwar innerlich autonom, aber Rom gegenüber leistungspflichtig (z.B. bei der Aushebung von Soldaten im Krieg). Eine colonia dagegen war eine Ansiedlung zur Festigung der römischen Herrschaft in einer Region und in der Verwaltung enger mit Rom verbunden.
Die Polygonalmauer, auch Zyklopenmauer genannt, ist eine Mauerwerksart bestehend aus großen Steinen, die in einer planen Ebene übereinander geschichtet werden.
Fortuna Primigenia – älter als Jupiter
Nicht nur in der Architektur sondern auch in der Göttin des Kultes selbst ist die Ablehnung gegenüber Rom deutlich greifbar. Das Heiligtum ist nämlich speziell der Fortuna Primigenia gewidmet, der „allerersten Fortuna“, der Urgöttin und Mutter von Jupiter selbst. Dieser ist jedoch bei den Römern Göttervater und Hauptgottheit des Pantheons. Das Kultbild der Fortuna, wie sie Jupiter und Juno säugt, könnte also bei den Römern einige Empörung ausgelöst haben. Zudem hat der Fortunakult in Praeneste eine lange Tradition, wie Funde von Weihegaben aus dem 4. Jh. v. Chr. beweisen. Der Kult ist somit der ganze Stolz der Pränestiner und Teil der lokalen Identität. Die Monumentalisierung soll das also selbstbewusst nach außen tragen.
Das Heiligtum als Verbindung zu Rom
Es scheint sich also alles in ein Bild zu fügen, doch es gibt auch Gegenstimmen unter den Archäologen. Denn dafür, dass das Heiligtum ein Symbol lokaler Tradition und Identität sein soll, enthält es außerordentlich wenige traditionell italische Bauelemente. Besonders die Rampen als Aufgang zur 4. Terrasse und die runde Form des Tempels finden sich sonst kaum in Heiligtümern Italiens. Die cavea hat zwar tatsächlich die Form eines comitiums, jedoch die eines römischen. Dieses Element ist also kaum zur Abgrenzung geeignet. Außerdem wäre es zu kurz gedacht, Fortuna nur als Urgöttin anzusehen. In ihrer Funktion als Primigenia ist sie nämlich, wie auch Inschriften am Heiligtum zeigen, eine durchaus paradoxe Figur – zugleich Mutter und Tochter von Jupiter. Auch dass 204 v. Chr. ein Fortunakult in Rom eingeführt wurde, mindert den abgrenzenden Charakter einer praenestinischen Fortuna.
Vielmehr scheinen Verbindungen zwischen dem Heiligtum und Rom zu existieren. Denn Praeneste liegt räumlich sehr nahe an der Einflusszone Roms – zu weit weg um ein Vorort zu sein, zu nahe um nicht in den Sog römischer Politik hineingezogen zu werden. So versuchten in der späteren Republik auch immer mehr Männer aus den umliegenden Städten ihr Glück in der römischen Ämterlaufbahn. Und bei dem Bau eines so gewaltigen Heiligtums wie in Praeneste mitgewirkt zu haben, verschafft einen gewaltigen Schub an Prestige für die eigene Kandidatur. So könnte das Heiligtum nicht als Abgrenzung, sondern als Annäherung der lokalen Eliten an Rom gesehen werden.
Ein ewiges Rätsel
Schlussendlich können wir leider nur über die Bedeutung des Heiligtums spekulieren. Ungebrochen bleibt jedoch der Bann der gewaltigen Architektur des Heiligtums. Und wer weiß, vielleicht legt die Göttin selbst einmal einem Archäologen das Glück in die Hand, um den Schlüssel zur Lösung des Rätsels zu finden.