Im Vatikan gibt es derzeit - vor allem wenn man dabei an den evangelisch-katholischen Dialog denkt - eine besondere personelle Konstellation, wie es sie in den letzten Jahrhunderten, zumindest seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht gegeben hat: Beide, der Papst und der Präsident des Einheitsrates sind Theologen aus Deutschland, dem "Land der Reformation". Beide, Benedikt XVI. und Walter Kardinal Kasper, sind mit der evangelischen Kirche und Theologie - ihren Licht- und Schattenseiten - eng vertraut und kennen viele ihrer Leiter und Vertreter aus persönlicher Nähe. Beide waren über lange Jahre hinweg Theologieprofessoren an deutschen Universitäten, Seite an Seite mit den Kollegen der dortigen evangelischen theologischen Fakultäten. Beide waren Jahrzehnte Mitglieder des bekannten "Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen", der mit seinen Veröffentlichungen wie zum Beispiel der Studie über "Lehrverurteilungen - kirchentrennend?" (1986) bleibend wichtige Beiträge zum katholisch-evangelischen Dialog geleistet hat.
Beide haben auch durch ihren ganz persönlichen Einsatz und ihre persönliche Mitarbeit diesem Dialog nachhaltige Impulse gegeben: Der damalige Professor Joseph Ratzinger - um nur drei Beispiele zu nennen - war der Vater des Gedankens einer katholischen "Anerkennung" der lutherischen "Confessio Augustana", der in den Jahren 1976 bis 1980 von seinen Schülern zusammen mit lutherischen Theologen weiterverfolgt und ausgearbeitet und von der deutschen katholischen Bischofskonferenz und Papst Johannes Paul II. in positiven Erklärungen aufgenommen wurde. Als Kardinal und Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation war Ratzinger es, der ganz entscheidend dazu beitrug, daß die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre" am 31. Oktober 1999 schließlich doch von den Kirchen offiziell angenommen werden konnte. Und hatte er nicht schon als Konzilsberater die gesuchte "Einheit der Kirche" mit einer prägnanten und treffenden Formulierung als eine "Einheit der Kirchen, die Kirchen bleiben und doch eine Kirche werden" beschrieben?
Walter Kasper wiederum war einer der bestimmenden Mitglieder, zeitweise Vorsitzender des internationalen katholisch-lutherischen Dialogs. Seinem Beitrag ist es mitzuverdanken, daß dieser Dialog in seiner ersten Phase 1967 bis 1971 den damals bahnbrechenden "Malta-Bericht" über "Das Evangelium und die Kirche" und später das Dokument über "Das geistliche Amt in der Kirche" (1981) erarbeiteten konnte.
Und beide, der Papst wie der Präsident des Einheitssekretariates, haben ihr Amt übernommen zu einer Zeit, in der es um den katholisch-evangelischen Dialog nicht gut steht und das Wort vom Stillstand oder gar Ende dieses Dialogs - sicherlich nicht ganz zu Unrecht - in der Luft liegt. Darf man da nicht inständig hoffen, daß diese ganz besondere personelle Konstellation nicht verstreichen möge, ohne dem Dialog zwischen katholischer und evangelischer Kirche neue Impulse zu geben? Könnte es nicht sein, daß aus dieser Situation eine neue geschichtliche Chance, etwas wie ein neuer "Kairos" für den evangelisch-katholischen Dialog erwächst, Dialogmüdigkeit und Konsensverdrossenheit zu überwinden und den Dialog ebenso beharrlich wie zuversichtlich fortzusetzen?
Dialogmüdigkeit und Konsensverdrossenheit
Ganz gewiß sind theologische Dialoge und ihr Suchen nach Gemeinschaft im Glauben nicht die einzige Form christlich-kirchlichen Einheitsbemühens. Es gab und gibt daneben andere Formen der ökumenischen Bewegung: die Suche nach gelebter Gemeinschaft der Christen am Ort, das gemeinsame gesellschaftliche Handeln, den gemeinsamen Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt und für die Bewahrung der Schöpfung, die Pflege des "geistlichen Ökumenismus", das Wachhalten der Sehnsucht nach und das Gebet für die Einheit der Kirche.
Die theologischen Dialoge sind also gleichsam nur ein Strom innerhalb des vieldimensionalen Bemühens um die Einheit der Kirche. Gleichwohl geht es bei diesem Bemühen um Gemeinsamkeit im Verständnis und Bekenntnis des apostolischen Glaubens um die grundlegende, tragende und darum schlechterdings unverzichtbare Dimension der Kirche und ihrer Einheit. "Ein Leib und ein Geist, ... ein Herr, ein Glaube, ... ein Gott und Vater unser aller" - in diesem gemeinsamen Bekennen, sagt Paulus, liegt die "Einigkeit im Geist", das "Band des Friedens", und er ruft uns auf, diese "Einigkeit" und dieses "Band" zu wahren (Eph 4, 3-6). Das Bemühen um die Einheit im Glauben ist darum der "Königsweg" der ökumenischen Bewegung, der die anderen Wege gewiß nicht ersetzt, auf den aber alle anderen Wege bezogen bleiben müssen.
Und doch scheint schon seit einiger Zeit der Schleier einer spürbaren Verdrossenheit über diesen Dialogen mit ihrem Konsensbemühen zu liegen. Galt noch vor wenigen Jahren das Konsensbemühen der Dialoge und seine Ergebnisse als ein Ruhmesblatt der ökumenischen Bewegung, so gilt heute offenbar nicht wenigen diese Dialog-Ökumene als "Schnee vom vergangenen Jahr". Was sind die Gründe?
Viele haben den entmutigenden Eindruck, die von den - zumeist kirchlich-offiziellen - Dialogen erarbeiteten Konsense seien ohne offizielle Anerkennung durch die kirchenleitenden Instanzen und ohne kirchliche Verankerung geblieben. Sie schwebten gleichsam unverbindlich in der akademischen Luft, und darum seien ihnen auch keine oder kaum entscheidende Schritte in der sichtbaren Annäherung der Kirchen gefolgt.
Andere meinen, die Suche nach Konsens in Glauben und Lehre befasse sich mit Dingen, die innerhalb der Kirchen und ihrer Gemeinden weitgehend als irrelevant empfunden werden. Wirklich wichtig dagegen erschienen die Glaubenspraxis, die Fragen der Lebensgestaltung und der Gestaltung unserer sozialen, politischen und ökologischen Welt und Umwelt.
Wieder andere sagen, das Konsensbemühen der Dialoge habe die innere Tendenz, sich ad infinitum fortzusetzen. Es habe sich gezeigt, daß erreichte Konsense durch noch subtilere Argumentsstrategien immer wieder in Frage gestellt werden können und dann neu erarbeitet werden müssen, so daß die Suche nach Konsens eine wahrhaft "unendliche Geschichte" sei.
Andere schließlich meinen, der "Dialog" sei geistesgeschichtlich schon immer ein "Wegbereiter der Skepsis" gewesen. So stehe auch der ökumenische Dialog in der Versuchung, die unterschiedlichen konfessionell-kirchlichen Überzeugungen und Identitäten zu verwischen und sich so dem gegenwärtigen "Relativismus", der modernen Beliebigkeitshaltung zu öffnen. An die Stelle der Dialog- und Konsens- Ökumene müsse darum, so kann man hören, eine "Ökumene der Profile" oder gar eine "Differenz-Ökumene" treten. All diese Eindrücke und Einschätzungen akkumulieren und verstärken sich gegenseitig. Sie drohen zu schaffen, wovon sie reden: das Ende der "Dialog-Ökumene".
Es liegt mir fern, diese kritischen Anfragen an den ökumenischen Dialog einfach vom Tisch zu wischen, auch wenn es zu jedem dieser kritischen Bedenken Antworten und Erklärungen gibt, die sie zu einem guten Teil entkräften oder eingrenzen. Aber von einem Mißlingen des Konsensbemühens kann nicht die Rede sein, und einen Verzicht auf das Konsensbemühen rechtfertigen diese kritischen Bedenken schon gar nicht. Denn die Bilanz der Dialoge und ihres Bemühens um Einheit im Glauben ist ganz und gar beachtlich. In seiner Enzyklika "Ut unum sint", dem ökumenischen Vermächtnis dieses bedeutenden Papstes, sah Johannes Paul II. im "Wachsen der Gemeinschaft" die "kostbare Frucht der Beziehungen der Christen untereinander und des von ihnen geführten theologischen Dialogs" (Nr. 49). In der Tat, sieht man auf den Ertrag der Dialoge, so kann man ohne Zögern sagen: Nie in den vergangenen fünf Jahrhunderten standen sich das theologische Denken der evangelischen und der katholischen Kirche so nahe, wie es sich gegenwärtig im Licht der Dialoge darstellt.
Fortführung des Dialogs auf der Basis verbindlicher Vergewisserungen des schon Erreichten
Gewiß gilt, daß dem ökumenischen Dialog und überhaupt der ökumenischen Bewegung eine - immer wieder beschworene - geschichtliche "Unumkehrbarkeit" zukommt. Dem wird sich keine Kirche entziehen können oder wollen. Doch dieser "unumkehrbare" Dialog muß auch seine "Fortsetzung" finden! Wie kann das in der rechten Weise gelingen? Das ist die Frage, die uns gegenwärtig unter den Nägeln brennt. Genügt es, die Dialoge wie bisher, also gewissermaßen "linear" fortzuführen, indem man sich den noch offen gebliebenen oder nicht hinreichend geklärten Kontroversfragen zuwendet und sie - eine nach der anderen - abhandelt?
Ganz ohne Zweifel warten derartige Fragen auf ihre Klärung und müssen im Dialog aufgenommen werden. Aber reicht solch ein Appell aus, um den gegenwärtigen Stillstand des Dialogs zu überwinden und ihm neue Intensität und Zuversicht zu verleihen? Ist nicht die beunruhigende Dialogmüdigkeit und Konsensverdrossenheit, die wir heute beobachten, ein viel zu tiefgreifendes Phänomen, als daß man ihm nur mit "Imperativen" beikommen kann?
Wir täten gut daran, uns des nachkonziliaren Beginns und der ersten Jahrzehnte des evangelisch-katholischen Dialogs zu erinnern. Dieser Dialog war damals ganz entscheidend getragen von einem "Indikativ": der tiefen Überzeugung, daß zwischen den Kirchen das Gemeinsame größer ist und tiefer reicht als das Trennende. Dieser grundlegende "ökumenische Indikativ" ist immer wieder und mit Nachdruck bekräftigt worden. Man braucht nur an Johannes XXIII. zu denken oder an Johannes Paul II., der das einprägsame Bild gebrauchte von den gebliebenen Pfeilern und Fundamenten einer im Sturm zerstörten "Brücke", die nun - im Dialog - auf den unzerstört gebliebenen Pfeilern und Fundamenten Stück für Stück wieder hergestellt werden müsse.
Hier, in diesem "Indikativ", diesem Wissen um das Gemeinsame zwischen den getrennten Kirchen lag damals die Voraussetzung oder der Ermöglichungsgrund des Dialogs. Und in der Tat haben die Dialoge erwiesen, daß diese Rede von dem Gemeinsamen, das tiefer reicht und größer ist als das Trennende, alles andere als eine allgemeine Floskel ist und kein erbauliches Schönreden der Trennung. Sie trifft zu auf jede einzelne der kirchentrennenden Streitfragen. Gleichgültig welcher Kontroversfrage auch immer man sich zuwendet - ob der Abendmahlsfrage, dem Amtsproblem, dem Kirchenverständnis, der Mariologie oder selbst der Papstfrage -, stets zeigt sich, daß es in jeder dieser Kontroversfragen eine Tiefenschicht an Gemeinsamem gibt, die allem Streit vorausliegt und so "extra controversiam" bleibt.
Das zu sehen und ernstzunehmen, ist kein Verwischen, keine Vergleichgültigung der Differenzen. Wohl aber bedeutet es, daß bei so gut wie allen Kontroversfragen es nie um den direkten und puren Zusammenprall von Gegensätzen geht. Vielmehr stehen alle Gegensätze auf einem Sockel von Gemeinsamkeiten, so daß jede der Kontroversfragen sich darstellt als kontroverse Entfaltung, Deutung oder Anwendung vorauslaufender gemeinsamer Überzeugungen. Und das bedeutete und bedeutet für den Dialog und seine Methode: Die einzig sachgemäße Erörterung der Kontroversfragen muß beim "ökumenischen Indikativ", d. h.: bei den schon gegebenen Gemeinsamkeiten einsetzen und von dort her weiterführen zur Prüfung der trennenden Verschiedenheiten und ihrer "Versöhnbarkeit".
Das gilt in vollem Maß auch im Blick auf die Fortführung des evangelisch-katholischen Dialogs. Auch diese Dialogfortsetzung muß, wenn sie gelingen und wirklich weiterführen soll, auf der Basis gegebener Gemeinsamkeiten, also auf der Basis des "ökumenischen Indikativs" geschehen.
Hier aber besteht heute ein überaus wichtiger Unterschied im Vergleich zum Beginn des Dialogs Ende der 1960er Jahre nach dem Zweiten Vatikanum. Er besteht darin, daß es während des nachfolgenden langjährigen Dialogs und seines Konsensbemühens zu einem bedeutsamen "Wachsen der Gemeinschaft" und des Gemeinsamen gekommen ist, wie Johannes Paul II. sagte. Der zukünftige Dialog wird darum wohl nur gelingen und weiterführen, wenn dieser neue Zuwachs an Gemeinsamkeit von den Kirchen, zumal von ihren leitenden Instanzen hinreichend ernstgenommen und in irgendeiner Form verbindlich anerkannt wird, statt letzten Endes unbeachtet und unberücksichtig zu bleiben.
Was geschieht, wenn jener im Dialog erreichte Zuwachs an Gemeinsamkeit offiziell-kirchlich unbeachtet bleibt, haben wir gerade in letzter Zeit erfahren müssen: Dialogmüdigkeit und Konsensverdrossenheit, zumindest in ihrer akuten Gestalt, wie wir sie gegenwärtig erleben, datieren seit der Erklärung "Dominus Iesus", mit der die vatikanische Glaubenskongregation das neue Jahrtausend eröffnete. Was sie über "die Einzigkeit und Heilsuniversalität Jesu Christi" sagte, hätte sich geradezu nahtlos an den im Dialog erreichten Konsens in der Rechtfertigungslehre anschließen können, wie er nur wenige Monate zuvor von den Kirchen mit der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" offiziell und feierlich bestätigt worden war. Doch statt dessen meinte die Erklärung in ihrem vierten Kapitel, den evangelischen Kirchen das Kirche-sein "im eigentlichen Sinn" absprechen zu müssen, und das wurde am 29. Juni 2007 von der Glaubenskongregation in ihren "Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche" in beinahe noch schrofferer Form wiederholt.
Gewiß muß man sehen, daß genau hier - in der Frage der vollen wechselseitigen Anerkennung der Kirchen als Kirche Christi - in der Tat "das ökumenische Problem" schlechthin liegt, das noch nicht überwunden ist. Denn Trennung der Kirchen heißt ja nichts anderes, als daß man in der anderen Kirche eben nicht in vollem Maß die Kirche Christi zu erkennen vermag und folglich auch keine volle Gemeinschaft mit ihr haben kann. Und umgekehrt wäre mit der vollen gegenseitigen Anerkennung der Kirchen als Kirche Christi die Trennung der Kirchen und damit das ökumenische Problem zumindest im Kern überwunden. Das ist in der ökumenischen Bewegung - etwa im Ökumenischen Rat der Kirchen - auch zumeist so gesehen worden. Man kann darum der Glaubenskongregation auch keinen Vorwurf daraus machen, daß sie mit ihren Aussagen den Finger darauf legte, daß das ökumenische Problem noch seiner vollen Lösung harrt.
Wohl aber muß man der Glaubenskongregation den Vorwurf machen, daß sie dieses - nach katholischen Kriterien noch fortdauernde - ökumenische Problem konstatiert, ohne dabei auch nur anzudeuten, daß dennoch das gemeinsame ökumenische Bemühen und der theologische Dialog der letzten vier Jahrzehnte nicht umsonst waren, sondern unsere Kirchen auf dem Weg zur Gemeinschaft weitergeführt haben. Jenes "Wachsen der Gemeinschaft" in Glauben und Leben, in dem Johannes Paul II. die "kostbare Frucht" des Dialogs gesehen hatte, wird mit Schweigen übergangen. Genau dieses Ignorieren des schon Erreichten war und ist es, das in erster Linie die große Betroffenheit, ja Empörung - keineswegs nur auf evangelischer Seite! - auslöste angesichts der Verlautbarungen der Glaubenskongregation. Und diese Enttäuschung und Betroffenheit waren es, die sich in Dialogmüdigkeit und Konsensverdrossenheit niederschlagen mußten.
Darum kann nur ein verbindliches Ernstnehmen und Festhalten des im Dialog schon Erreichten aus dieser Situation herausführen. Ohne verbindliche Vergewisserungen des schon Erreichten wird es kaum zu einer sinn- und verheißungsvollen Fortführung des evangelisch-katholischen Dialogs kommen können.
Gemeinsame "'In via'-Erklärungen" als Vergewisserungen wachsender Glaubensgemeinschaft
Letztlich geht es also um die kirchliche "Rezeption" der Dialogergebnisse, wie sie auch von Johannes Paul II. in Ut unum sint (Nr. 80) gefordert wurde. Darüber ist viel gesagt und geschrieben worden. Auch wenn es richtig ist, daß das ganze Volk der Gläubigen sich den Ertrag der Dialoge zu eigen machen muß, fällt doch den Kirchenleitungen hier eine Schlüsselverantwortung zu. Denn die Dialoge, jedenfalls die wichtigeren unter ihnen, waren ja keine zufälligen Initiativen von besonders ökumenisch gesinnten Privatpersonen. Es waren und sind kirchlich offizielle Dialoge. Das bedeutet zumindest, daß die Kirchenleitungen sich verpflichtet haben, auf die von ihnen selbst beauftragten Dialoge und ihren Ertrag zu hören, zu reagieren und dazu Stellung zu nehmen. Sie müssen sich also auf den Rezeptionsprozeß einlassen, auch wenn es dabei zu kritischen Vorbehalten gegenüber den Dialogergebnissen und zu Rückfragen kommen mag, die dann im weiteren Dialog aufzunehmen wären. Dieses Wechselspiel, diese Interaktion zwischen Dialog und Rezeption ist dringend nötig, um weiterzukommen im Suchen nach der Einheit im Glauben. Nur so ist der Stillstand des Dialogs zu vermeiden und das Versickern seiner Ergebnisse aufzuhalten.
Bislang haben wir - was das evangelisch-katholische Verhältnis betrifft - nur ein einziges Beispiel gelungener Interaktion zwischen theologischem Dialog und kirchlicher Rezeption: die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Sie hat viel Mühe, Zeit und manch harte Auseinandersetzungen gekostet. Aber aufgrund dieser kirchlich verbindlichen Gemeinsamen Erklärung gilt nunmehr für die evangelische und die katholische Kirche: Der Streit um das Verständnis der Rechtfertigung, also der Streit um das Evangelium von der souveränen Gnade Gottes - und damit der "Kern" der reformatorischen Kirchentrennung - ist beigelegt. Wer das dennoch bestreitet, muß wissen, daß er damit nicht die Auffassung seiner Kirche, sondern lediglich seine Privatmeinung vertritt.
Was der evangelisch-katholische Dialog heute braucht, sind derartige kirchliche verbindliche Erklärungen zu dem, was dieser Dialog bei seiner Erörterung anderer Kontroversfragen erreicht hat. Ich denke dabei an den Dialog besonders über das Abendmahl, aber auch über das kirchliche Amt und über das Verständnis von Kirche. Allerdings gilt ohne Zweifel, daß in jedem dieser Themenkreise noch Fragen offen geblieben sind und noch kein umfassender Konsens erreicht werden konnte. Dennoch wären gerade hier kirchliche Erklärungen dringend angebracht. Es wären kirchlich offizielle "Vergewisserungen" über den Weg und den Stand des Dialogs und seines Bemühens um Gemeinschaft im Glauben: "Vergewisserungen" - einerseits - über das auf dem Dialogweg schon Erreichte und - andererseits - über das noch nicht Erreichte und die noch ausstehenden Aufgaben.
Man könnte solche Erklärungen darum - im Anklang an das letzte Kapitel der Enzyklika Ut unum sint (Nr. 77ff.: "Quanta est nobis via?" - "Wie weit ist noch der Weg?") - als "'In via'-Erklärungen" bezeichnen. Sie hätten eine dreifache Funktion: erstens die durchschrittene Wegstrecke und die schon erreichte Stufe bei der Klärung der jeweiligen Kontroversfragen zu beschreiben, zweitens dem schon Erreichten einen "dialogdefiniten" Status zuzusprechen und es so vor immer neuen Infragestellungen oder gar kollektivem Vergessen zu schützen, und drittens die noch nicht zurückgelegte und darum noch vor uns liegende Wegstrecke mit ihren Aufgaben möglichst klar zu markieren.
Der festzuhaltende Ertrag des Dialogs
Ein Plädoyer für derartige "'In via'-Erklärungen" kann nicht ohne den Versuch bleiben, das Gemeinte wenigstens ein Stück weit zu konkretisieren. Als gewichtige Beispiele legen sich drei Kontroversfragen nahe, die der Dialog wiederholt und ausführlich erörtert hat: das Verständnis des Abendmahls oder der Eucharistie, das Verständnis des kirchlichen Amtes und das Verständnis von Kirche. Was kann und sollte hier jeweils als bisheriger Ertrag des Dialogs durch gemeinsame "'In via'-Erklärungen" festgehalten werden? In thesenartigen Sätzen sei darauf zu antworten versucht, im Wissen darum, daß sie - selbstverständlich - erheblich größerer Ausführlichkeit bedürfen, und zugleich im Wissen darum, daß sie eine Verständigung "in via" darstellen, die noch nicht als abgeschlossen gelten kann und darum im Dialog fortgetrieben werden muß.
1. Das Verständnis des Abendmahls
In jeder der beiden, seit der Reformation hier im Zentrum stehenden Kontroversfragen - der Gegenwart Christi im Abendmahl und dem Opfercharakter der Messe - gelangte der Dialog zu grundlegenden theologischen Verständigungen.
Im Blick auf die Gegenwart Christi im Abendmahl warf die katholische Kirche der Reformation vor, sie leugne diese wirkliche Gegenwart Christi und entleere so das Abendmahl. Dagegen hat der Dialog gezeigt: Beide Seiten lehren und bekennen gemeinsam: Im Sakrament des Abendmahls als "Gedächtnismahl" ist der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus, durch sein schöpferisches Wort mit seinem Leib und seinem Blut unter den Zeichen von Brot und Wein wirklich gegenwärtig. Christus gibt denen, die diese Zeichen im Glauben empfangen, Gemeinschaft mit sich selbst und Anteil am Heil, das Gott in Christus der Welt geschenkt hat. Die Gegenwart Christi in Brot und Wein ist nicht begrenzt auf den Augenblick des Empfangs dieser Gaben.
Im Blick auf die katholische Lehre vom Opfercharakter der Messe warf die Reformation der katholischen Kirche vor: In der Messe werde das schlechterdings einmalige Opfer Christi vom Priester "wiederholt" und "ergänzt". Dadurch verfälsche die Meßopferlehre das Verständnis des Abendmahls. Der Dialog hat dagegen gezeigt, daß man gemeinsam bekennt: Wir feiern das Abendmahl als Lobopfer und Danksagung an Gott, den Vater, für alles, was er in Schöpfung, Erlösung und Heiligung für die Welt getan hat und tut. Insbesondere danken wir Gott und lobpreisen ihn für das Opfer seines Sohnes, der im Abendmahl gegenwärtig ist. Dieses Opfer ist ein für allemal für die Sünden der Welt dargebracht worden. Dieses Opfer kann vom Priester und von der Kirche nicht wiederholt und auch nicht fortgesetzt oder ergänzt werden. Wohl aber wird das Opfer Christi in der Feier der Messe für die Gemeinde gegenwärtig, so daß die Gemeinde in dieses Opfer mit einbezogen wird und an ihm teilhat.
Damit sind die bisherigen Gegensätze und Vorwürfe gegenstandslos geworden und ist eine Verständigung erreicht in dem, was das Abendmahl ist, bedeutet und schenkt.
2. Das Verständnis vom kirchlichen Amt
Auch im Blick auf dieses wichtige und in sich komplexe Kontroversthema sind gemeinsame Grundüberzeugungen sichtbar geworden. Die folgenden sechs seien hervorgehoben:
1. Das kirchliche Amt ist eine Stiftung Gottes. Es gehört darum zum Wesen der Kirche. 2. Das kirchliche Amt hat apostolischen Ursprung. Auch wenn das Amt der Apostel als solches einmalig und unübertragbar ist, steht das kirchliche Amt doch in dessen Nachfolge. Diese apostolische Nachfolge ist primär die Nachfolge im apostolischen Glauben. 3. Dem kirchlichen Amt ist die Vollmacht zugesagt, "an Christi statt" zu handeln. Das läßt den Träger des Amtes bei der Ausübung seines Dienstes mit Christus der Gemeinde "gegenüber" stehen, auch wenn er als Christ zugleich "innerhalb" der Gemeinde steht. 4. Die Berufung in das kirchliche Amt geschieht im gottesdienstlichen Akt der Ordination, bei der dem Ordinanden durch Handauflegung und Gebet die Gabe des Heiligen Geistes zur Ausübung seines Dienstes zugesprochen und zuteil wird. Die Ordination kann nicht wiederholt werden. 5. Die Berufung einzelner zum kirchlichen Amt und die Berufung aller Glieder des Volkes Gottes zu christlichem Zeugnis und Dienst - also das "ordinierte Amt" und das "Priestertum aller getauften Gläubigen" - gehören zusammen, müssen aber in Charakter und Funktion unterschieden werden. 6. In der Geschichte der Kirche kam es zu verschiedenen Ausgestaltungen und Formen des kirchlichen Amtes, besonders zur Bildung des regionalen Bischofsamtes, das zum örtlichen Priester- oder Pastorenamt hinzutrat. Diese Entwicklung entsprach den kirchlichen Notwendigkeiten und war legitim.
3. Das Verständnis von Kirche
Auch hier, wo viele die katholisch-evangelische "Grunddifferenz" zu sehen meinen, sind im Dialog wichtige gemeinsame Grundüberzeugungen und damit deutliche Zeichen wachsender Glaubensgemeinschaft sichtbar geworden. Sechs seien besonders genannt:
1. Kirche gehört zum Heilsgeschehen und ist nicht der freiwillige Selbstzusammenschluß der Gläubigen. Kirche ist Stiftung Gottes, Geschöpf seines Heilshandelns. Sie ist "creatio evangelii", durch Gottes Wort und Sakramente zusammengerufenes "Volk Gottes", "Leib Christi" und "Tempel des Heiligen Geistes", von Gott erhalten bis ans Ende der Zeit. 2. Kirche ist in einem umfassenden Sinne "Gemeinschaft" ("Communio"): Sie ist Gemeinschaft der Gläubigen, die durch die Gemeinschaft eines jeden mit dem dreieinigen Gott konstituiert und getragen wird. 3. Als Geschöpf des Heilshandelns Gottes ist die Kirche zugleich als ganze und mit allen ihren Gliedern von Gott dazu berufen, "Dienerin und Werkzeug" seines Heilshandelns zu sein. Als "creatio evangelii" ist die Kirche zugleich "ministra evangelii", "Dienerin des Evangeliums". 4. Die Kirche ist heilig und sündig zugleich und bedarf der ständigen Buße und Erneuerung. Als Geschöpf Gottes und als sein "Werkzeug" ist die Kirche unzerstörbar heilig. Als Gemeinschaft von Menschen dagegen dringt die Macht der Sünde immer wieder in sie ein und macht sie zu einer "ecclesia semper reformanda". 5. Kirche ist keine unsichtbare Gemeinschaft der Herzen. Sie ist in untrennbarer Weise "sichtbar" und "verborgen" zugleich. Sie ist "sichtbar", weil sie zu erkennen ist an äußeren und sichtbaren Zeichen: an der gottesdienstlichen Versammlung, an der Verkündigung des Wortes Gottes, an der Feier der Sakramente, am kirchlichen Amt. Doch diese und andere sichtbare Zeichen verweisen auf die unter ihnen "verborgene", allein im Glauben erfaßbare geistige Wirklichkeit der Kirche als "Volk Gottes", "Leib Christi" und "Tempel des Heiligen Geistes". 6. In ihrer sichtbaren Wirklichkeit bedarf die Kirche dauerhafter Strukturen und verbindlicher Glaubensnormen, die ihrem Wesen entsprechen.
Wenn die Kirchen und Kirchenleitungen sich dazu entschließen könnten, sich auf die Rezeption dieser oder ähnlicher Dialogergebnisse als klare Zeichen wachsender und schon gewachsener Glaubensgemeinschaft einzulassen, so würde der wahrhaft verheißungsvolle Dialog der letzten Jahrzehnte davor bewahrt, eine bloße Episode zu bleiben und aus dem Bewußtsein unserer Kirchen wieder zu verschwinden. Es würde den evangelisch-katholischen Dialog davor schützen, in Dialogmüdigkeit und Konsensverdrossenheit zum Stillstand zu kommen, und könnte ihm neue Impulse und klare Orientierungen geben, um seinen unverzichtbaren Auftrag weiter zu verfolgen: die Gemeinschaft des Glaubens zwischen unseren Kirchen weiter wachsen zu lassen und schließlich wiederzugewinnen.
Ich möchte dieses Plädoyer für eine Fortführung des evangelisch-katholischen Dialogs "auf der Basis verbindlicher Vergewisserungen des schon Erreichten" mit einem kleinen persönlichen Erlebnis schließen, das mir im Rückblick geradezu symbolhaft erscheinen will: Während meiner ersten Sommersemesterferien 1947 bat mich die alte Julia von Bodelschwingh, die bei uns in der Nähe lebte, ihr beim Bau eines einfachen Hauses für Flüchtlinge zu helfen. Ein Arbeitsloser und ich sollten damit anfangen und auf dem vorgesehenen Baugrundstück große Lehmsteine "backen". Lehm wurde herbeigeschafft, mit etwas Wasser durchknetet, mit gehäckseltem Stroh untermischt und mit einer Holzschablone zu großen Steinen geformt. Am Ende der Semesterferien lagen auf dem Grundstück sechs große Haufen wohlgeformter Lehmsteine, zum Trocknen winddurchlässig aufgetürmt, mehr als genug für das ganze kleine Flüchtlingsheim. Zufrieden fuhr ich zum Wintersemester wieder an meinen Studienort. - Doch im März, als ich von dort zurückkam und unsere schönen Lehmsteine inspizieren wollte, lagen da nichts als sechs große, formlose braune Lehmhaufen. Alle Arbeit war umsonst gewesen. Den Steinen hatte ein Dach oder irgendein anderer Schutz gefehlt. Die Witterung, Regen, Frost und Schnee hatten sie aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben.
Sollte das jahrzehntelange Mühen der Dialoge um den Bau des gemeinsamen "Hauses", des "oikos" der Kirchen so zu Ende gehen? Sollten all die sorgsam erarbeiteten und angesammelten Konsense auf dem Bauplatz liegen bleiben, zerstreut, ungenutzt und ungeschützt, ausgesetzt dem zersetzenden Wind und Wetter wechselnder Interessen, dem Frost eines ökumenischen Winters, dem Nebel langsamen Vergessens? Sollten all diese "Steine" liegen bleiben, ohne zu neuen Wänden des gemeinsamen Hauses zusammengefügt zu werden, als sei die Gemeinschaft im Glauben und das Wachsen dieser Gemeinschaft für die Einheit der Kirchen unwichtig und verzichtbar?
Stimmen der Zeit (2007) 687-696