Oswald von Nell-BreuningSeit sechs Jahrzehnten soziales Gewissen der Kirche

Am 8. März 1990 kann der Jesuitenpater und Sozialwissenschaftler Oswald von Nell-Breuning auf hundert Lebensjahre zurückschauen. Er braucht den Lesern dieser Zeitschrift nicht vorgestellt zu werden; ist er ihnen doch aus zahllosen Aufsätzen und Besprechungen wohl bekannt. Ein kurzer Rückblick auf sein Leben und Werk ist aber am Platz.

Die Zeit, in der P. v. Nell-Breuning geboren wurde, erscheint uns heute historisch unvorstellbar weit entfernt: Wenige Tage nach seiner Geburt entließ Kaiser Wilhelm II. seinen Reichskanzler Otto von Bismarck. Etwa ein Jahr später wurde die Enzyklika „Rerum Novarum“ veröffentlicht, die als der Beginn der katholischen Soziallehre im eigentlichen Sinn angesehen wird. Fast ließe sich das als ein Vorzeichen für seine künftige Lebensaufgabe deuten; denn diese Soziallehre, die sich mit der Gerechtigkeit sozialer Ordnungen befaßt, wurde zum Inhalt seines Lebenswerks so sehr, daß man ohne Übertreibung sagen kann: Kein anderer hat mehr dazu beigetragen, dieser Soziallehre der Kirche Gestalt, Ansehen, Einfluß zu verleihen als Oswald von Nell-Breuning.

Vom Temperament und Auftreten her erscheint er eher wie ein trockener Stubengelehrter, und auch seine Destination im Orden zum Professor für Moraltheologie, Kirchenrecht und Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule St. Georgen in Frankfurt hätte eigentlich einen ruhigen Lebenslauf erwarten lassen. Aber schon während seines Studiums und in seiner Promotion ging er recht ungewöhnliche Wege. Befaßte er sich doch auch mit Nationalökonomie, und seine theologische Dissertation handelt über „Grundzüge der Börsenmoral“.

Mit dieser Hinwendung zu den Wirtschaftswissenschaften stand er aber in einer guten Tradition seines Ordens: Sein Mitbruder Heinrich Pesch hatte schon 1905ff. ein fünfbändiges „Lehrbuch der Nationalökonomie“ verfaßt. Ursprünglich war P. v. Nell-Breuning von den Oberen dafür vorgesehen, dieses Werk zu betreuen und weiterzuführen. Aber schon beim ersten Gespräch darüber erklärte er dem greisen Autor so unverblümt seine (sachlich durchaus begründete) Absicht, das Werk um mehr als die Hälfte zu kürzen, daß dieser ihn umgehend wieder nach Hause schickte. (Durch diesen Umstand erhielt Gustav Gundlach seine Destination für die Soziallehre.)

Das Bemühen, die moderne soziale Wirklichkeit mit Hilfe der Wirtschaftswissenschaften zu durchdringen und ebenso grundsätzliche wie sachlich kompetente Vorschläge zur Gesellschaftsreform zu machen, hat P. v. Nell-Breuning sein Leben lang begleitet. Die Zahl der katholischen Geistlichen, die sich auf diesem Grenzgebiet auskennen, ist nicht gerade groß. Vielleicht war es diese Verbindung von Sachkenntnis und Prinzipienfestigkeit, warum Nell-Breuning von seinem Ordensgeneral damit beauftragt wurde, für Papst Pius XI. die Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“ (1931) zu entwerfen. Nell-Breuning hat die Hintergründe ihrer Entstehung inzwischen in mehreren Publikationen offengelegt1. Er selber hat im Rückblick die Wirkung dieser Enzyklika recht kritisch beurteilt: „Für jemand, der sich für sie mitverantwortlich weiß, ist das Ergebnis tief bedrückend.“ Tatsache ist aber, daß diese „Enzyklika des Subsidiaritätsprinzips“ für unzählige Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche richtungsweisend wurde für ihr soziales und politisches Engagement.

Zunächst aber brach die Hitler-Zeit über Deutschland herein. Während sein Mitbruder Gustav Gundlach von den Oberen vorsichtshalber gleich nach Rom geschickt wurde (wo er später bei Papst Pius XII. großen Einfluß gewann), mußte P. v. Nell-Breuning in Deutschland einen Strafprozeß wegen angeblicher Devisenvergehen über sich ergehen lassen.

Erst nach Kriegsende (1945 war er immerhin schon 55 Jahre alt) begann sein fruchtbarstes Wirken. Mit einer ungeheuren Schaffenskraft nahm er zu brennenden Zeitfragen Stellung - in durchschnittlich 30 Veröffentlichungen im Jahr, immer auch, seit 1924, in dieser Zeitschrift, darunter vielen anspruchsvollen Lexikonartikeln, die zahllosen Buchbesprechungen nicht gerechnet. („So viel schreiben wie ich kann nur ein völlig amusischer Mensch,“ sagt er von sich selbst.) Eigentliche Bücher zu schreiben, dafür fand er kaum die Zeit - so geizig er damit sein Leben lang auch umging!

Er hält sich zwar nicht für einen eigentlichen Philosophen oder Theologen, aber Grundsatzfragen zu Gesellschaft und Wirtschaft waren schon immer bevorzugte Themen. Es geht ihm dabei jedoch nicht um abstrakte Theorien, sondern um die Situation des arbeitenden Menschen in der modernen Industriegesellschaft. Darum engagierte er sich für die Gewerkschaften, darum stand er auch der Einheitsgewerkschaft immer als ein kritischer, loyaler Gesprächspartner zur Verfügung. Manche zweifeln, ob die Gewerkschaftsforderung nach Mitbestimmung hätte so weit durchgesetzt werden können ohne die Argumente, mit denen v. Nell-Breuning diesen Gedanken theoretisch untermauert hat. Daß er auch Kontakte zur SPD hielt, jahrelang sogar im Impressum der SPD-Zeitschrift „Die Neue Gesellschaft“ als Herausgeber geführt wurde, haben ihm viele noch lange übelgenommen. Daß er ebenso bei der Gründung des Bundes Katholischer Unternehmer mitwirkte, wird darüber oftmals vergessen.

Nell-Breuning hat nie eine Schule von Anhängern um sich versammelt. Dazu ist er vom Temperament her viel zu spröde, zu sehr ein Einzelgänger, der sich nicht in die gängigen Schablonen einordnen läßt. Seine scharfe Kritik in der Analyse, seine manchmal beißende Ironie, die Entschiedenheit, ja Unerbittlichkeit in der Stellungnahme haben viele abgeschreckt. Wenn trotzdem sein Wort bei so vielen Menschen verschiedenster Richtung hohes Gewicht hat, dann gerade wegen seiner Unbestechlichkeit im Urteil, mit der er sich in Auseinandersetzungen von keiner Partei vereinnahmen läßt, niemandem nach dem Mund redet.

So entschieden er Stellung zu beziehen vermag, so peinlich ist er darauf bedacht, sich nicht in Abhängigkeit von irgendwelchen Gruppen zu begeben. Selbstkritisch läßt er sich von seinem sozialen Engagement nicht zu utopischen Visionen hinreißen, sondern überprüft seine Forderungen immer noch einmal auf ihre Realisierbarkeit durch eine nüchterne wissenschaftliche Analyse. Gerade dadurch glaubt er am besten der Kirche zu dienen.

In einem kleinen Bändchen, das ein Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Beginn seines hundertsten Lebensjahrs herausgebracht hat, finden sich friedlich vereint in der Liste der Autoren: Norbert Blüm und Oskar Lafontaine, Heiner Geißler und Helmut Schmidt, Peter Steinkühler von der IG Metall und Peter Werhahn vom Bund Katholischer Unternehmer. Die Schrift kennzeichnet zu Recht seine Haltung: „Unbeugsam für den Menschen“2.

So war auch seine Stellung innerhalb der Kirche lange Zeit nicht unumstritten. Nicht, daß er je Anlaß zu einem Zweifel an seiner kirchlichen Loyalität gegeben hätte. Peinlich genau hat er dem kirchlichen Amt immer seinen Respekt entgegengebracht - dabei aber mit herber öffentlicher Kritik nicht gespart, wenn er den Eindruck hatte, daß die Kirche ihre eigene Soziallehre ungenügend befolgt und dadurch ihre Glaubwürdigkeit gefährdet, etwa gegenüber ihren Angestellten im kirchlichen Dienst. Welche Mühe hat er sich gegeben, gelegentlich eine weniger glücklich formulierte Aussage in einer päpstlichen Enzyklika durch eine bessere Übersetzung zu retten!

Der Würzburger Synode gehörte er nicht als Delegierter an. Als aber jemand gebraucht wurde, der kurzfristig eine neue Vorlage „Kirche und Arbeiterschaft“ entwerfen würde, sah er seine Chance, noch einmal wichtige Gedanken in das offizielle kirchliche Denken einzubringen. Vielen erschien die von ihm vorgeschlagene innerkirchliche „Gewissenserforschung“ als zu streng, mit der „nüchtern Fehlentwicklungen in der Kirche bewußtgemacht“ werden sollten, und ein Sturm der Entrüstung brach gegen ihn los3. Als 85jähriger hat er aber unerschrocken dieses sein Anliegen vor der Synode verteidigt und schließlich gegen alle Widerstände im wesentlichen durchgesetzt.

Vielfach ist heute im öffentlichen Leben in Staat und Kirche eine gewisse Resignation zu spüren: Der einzelne erfährt sich als ausgeliefert an übermächtige, unpersönliche Bürokratien, als unfähig, noch etwas zu bewegen. P. v. Nell-Breuning hat durch sein Leben und Wirken vor Augen geführt, daß es auch heute möglich ist, etwas in dieser Welt zum Besseren zu verändern - auch ohne die Macht politischer Apparate, nur durch die stille Überzeugungskraft des Worts, der Sachkenntnis, des persönlichen Beispiels.

Stimmen der Zeit (1990) 205-205

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