Rezensionen: Philosophie & Ethik

Bogner, Daniel: Liebe kann nicht scheitern. Welche Sexualmoral braucht das 21. Jahrhundert?
Freiburg: Herder 2024. 192 S. Gb. 20,–.

Keine klassische Sexualmoral, die von oben her Ideale, Normen und Strukturen zuerst definiert und sie dann begründet und an ihr die Realität misst, sondern eher ein Essay, der gleichsam von unten, aus gelebter Erfahrung heraus sich dem Thema annähert, mit dem sich die christlich-kirchliche Tradition noch immer schwer tut: wie zwischen zwei Menschen Liebe gelingt, welche Werte und Verhaltensweisen sie tragen und wie sie konkret gestaltet werden kann. Daniel Bogner lehrt theologische Ethik in Freiburg im Üechtland und schreibt über die als heikel geltende Thematik frisch und lebendig, in angenehmer Sprache, wertschätzend und mit großer Freiheit.

„Wer liebt, geht aufs Ganze, aber es gibt keine Garantie, dass dieses Ganze auch gelingt“ (45). Liebe nimmt Unvollkommenheit und Schwäche an, die des anderen und, darin gespiegelt, die eigene. Liebe ist immer im Fluss, sie ist ein Prozess, ein Leben lang, muss ständig entwickelt, neu justiert werden. Sie verändert sich, kann tiefer zusammen oder auch auseinander führen. Die Ehe ist kein sicherer Hafen, sondern sie wird von Bogner mit einem gemeinsamen Tanz verglichen: Zwei bleiben „koordiniert in Bewegung … Es ist eine rhythmische Bewegung, bei der beide Beteiligte Akzente setzen können und um Ausdruck bemüht sind, aufeinander bezogen, aufeinander angewiesen und doch selbständig. Zu tanzen, das ist Dynamik und Ausdruck, ein Spiel in wechselseitiger Bezogenheit. Aber ohne Garantie, dabei nicht auch mal zu stolpern“ (52).

Erhellendes schreibt Bogner, selbst nach langjähriger Ehe getrennt lebend, über die Entscheidung zu Liebe, die doch eher eine Wahl ist: wählen und gewählt werden. Und über die Treue, die keine Verpflichtung auf eine Regel ist, sondern das Ansprechen eines Menschen – und die Ehrlichkeit gegenüber sich selbst (60 f.). Die Ehe ist kein Ganzsein, sondern ein Ganzwerden, ein Treusein in und mit Veränderungen (90 f.).

Im Kapitel über Sexualität („Liebe machen. Im warmen Regen gemeinsam wachsen“, 115 ff.) beschreibt Bogner einen freien Umgang mit diesem so natürlichen und notwendigen leiblichen Ausdruck der Liebe. Hart geht er ins Gericht mit der klassischen kirchlichen Sexualmoral, die Sex negativ sieht, ihn einhegt und nur in der heterosexuellen Ehe erlaubt. Im Zölibat und im Gelübde der ehelosen Keuschheit sieht er unterdrückte Sexualität, eine verquere Haltung der Kirche – hier gibt es m. E. Luft nach oben, diese religiöse Lebensform mehr wertzuschätzen. Zu Recht klagt Bogner ein, dass das Christentum, das ja eine „Zivilisation der Liebe“ sein will, diese – mit „Luft nach oben“ – durchaus zu vertiefen hat. Schön ein theologisches Wort über sexuelles Erleben: „Das hat sakramentale Qualität. Greifbares Symbol des Heils, etwas Jenseits im Diesseits, ein kurzer Streifen Unendlichkeit zu zweit“ (165).

Bogners Buch ist schnell geschrieben, eher aus dem Bauch heraus, am Ende etwas leichtgewichtig und redundant, mit einem auf eine falsche Fährte führenden Titel – das Marketing des Verlags? Aber der Text ist, vielleicht durch diesen spontanen Stil, direkt und erfrischend, aufmunternd und bestärkend – vor allem für eine Leserschaft, die Liebe anders erlebt als klassisch vorgesehen, vielleicht gegen Regeln, mit Brüchen und Entwicklungen, aber lebendig und aufregend, in einer spätmodern buntscheckigen Welt.

Stefan Kiechle SJ

Hilpert, Konrad: Alltagsmoral. Versuch einer Klärung.
Baden-Baden: Karl Alber 2024. 203 S. Kt. 29,–.

Für den Ausdruck „Alltagsmoral“ wird in der Regel kein Platz in Wörterbüchern der Ethik reserviert. Mag auch ein diffuses Verständnis des Begriffs vorhanden sein, in der ethischen Fachliteratur wird ihm nicht besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Konrad Hilpert, emeritierter Professor für Moraltheologie an der LMU München, möchte diese Lücke (einigermaßen) schließen. Um dem Ausdruck „Alltagsmoral“ Kontur zu geben, sind die jeweiligen „Rahmengegebenheiten“ (18) in den Blick zu nehmen: „In Bezug auf diese steht dieser Begriff dann für die normale, erwartbare, häufigste, durchschnittliche, gewöhnliche Lebensweise und Art zu denken, für das verbreitete Bewusstsein, die Mentalität, die angetroffen wird, einschließlich der Ansprechbarkeiten und Empfindsamkeiten, die offensichtlich sind oder mit denen man zu rechnen hat“ (18). Alltagsmoral ist nicht einfach die Moral der großen Mehrheit der Bevölkerung, auch nicht die Moral von Gruppen oder Bewegungen, die eine gewisse Konsistenz aufweist, sondern „eher ein Konvolut“, dessen Gehalt in Beziehung zur „jeweiligen Kultur, zur jeweiligen Epoche, zur Region und zur Konfession“ (19) steht (s. auch Abb. 1, 21).

Wichtig ist, dass wir uns in der Regel auf das Funktionieren der Alltagsmoral verlassen. Dazu gehören z. B. das Befolgen der Regeln beim Spielen oder im Straßenverkehr, die Beachtung von Höflichkeitsformen, der besonderen Rücksichtnahme auf alte Menschen und auf Menschen mit Behinderung oder auf Kinder, gute Manieren bei Mahlzeiten oder in Gesellschaft mit unterschiedlichen Personen, Beachtung von Konventionen, Benehmen usw. Hilpert verweist auf Formen populärer Moralkritik wie z. B. auf den Vorwurf der „Doppelmoral“, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird, Pharisäertum, Scheinheiligkeit oder Heuchelei. Es gibt auch das Phänomen der Verharmlosung, wenn bestimmte Regeln übertreten werden. Beispiele hierfür sind u. a. „Kavaliersdelikte“ wie Steuerschummelei, Spesenbetrug, Schmuggel, „Schwarzfahren“. Um das Spektrum der unterschiedlichen Inhalte der Alltagsmoral überschaubar zu ordnen, gliedert der Autor in „Geltungsansprüche im lebensweltlichen Umfeld“ (51-82), „Selbstverständliche Erwartungen mit moralischer Tiefendimension“ (83-126), wozu u. a. Wahrhaftigkeit in verschiedenen Arten der Kommunikation, Scham, Entschuldigung und Verzeihung, Empathie, Vertrauen … gehören. „Neue[n] Akzente[n] in der Alltagsmoral“ (127-166) ist ein weiteres Kapitel gewidmet, in dem beispielsweise Selbstsorge, Nähe und Distanz, ökologische Sorge, Redlichkeit in der Wissenschaft und Spiritualität thematisiert werden.

Die letzten drei Kapitel behandeln metaethische Fragen nach Sinn und Unentbehrlichkeit der Alltagsmoral (167-173), der Frage nach ihren Grenzen (183-186) und „dem Versuch eines systematischen Fazits“ (187-197). Abb. 5 (192-194) veranschaulicht die Bereiche und Inhalte der Alltagsmoral. Ein Sachregister (199-203) hilft der Leserin und dem Leser zur Orientierung in dem breiten Spektrum der behandelten Themen.

Bemerkenswert an diesem Buch ist neben der Vielzahl der behandelten Einzelthemen, zu denen sich die Inhalte der Alltagsmoral ausfalten, vor allem auch die Ordnung dieser Themen nach übergeordneten Gesichtspunkten. Hervorzuheben ist ferner die Fülle der gesammelten Regeln und Normen der Alltagsmoral mit jeweiligen knappen Erläuterungen, die verdeutlichen, was gemeint ist. Wer aufmerksam liest, der wird sich wundern, welcher Reichtum unter dem Ausdruck „Alltagsmoral“ verbirgt.

Vermisst habe ich eine Replik auf den Ausdruck „Ethos“ in seiner Doppelbedeutung von Gewohnheit, Sitte, Brauch einerseits und der Bedeutung von Charakter, Sinnesart, Gewohnheit, insofern in diesem Begriff von der griechischen Tradition her inhaltlich vieles enthalten ist, was auch Gegenstand der vorliegenden Publikation ist.

Josef Schuster SJ

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