Liebe Leserinnen und Leser der Pastoralblätter,
als mein Großer noch klein war, liebte er das Schlittenfahren. Und noch mehr liebte er es, mir als hinter ihm sitzenden Co-Piloten mit erhobener Hand zuzurufen: Jetzt aber los, ungebremst und so schnell wie noch niiiiiiiiiiiiiiiiieee! Er ließ mit seinem Ruf bedeutungsschwer die Hand nach vorne sinken, gab damit das Startsignal und die entschlossene Richtung vor.
Und los ging die Fahrt. Mit Hinweis auf die Notwendigkeit des Lenkens konnte ich anfangs noch heimliche Bremsmanöver einbauen. Als er mir dabei aber auf die Schliche kam, mussten wir ungebremst weiter ins Tal hinabdonnern. Prompt kippte der Schlitten mit uns um. Wir kugelten zwischen die Büsche. Ich ruinierte meine Brille. Er fand es toll. Der Tag war gelaufen.
Ungebremst ins Neue, so könnte man neben der Leidenschaft eines kleinen Jungen in solch bewegten Zeiten auch den Jahreswechsel ins Jahr 2026 beschreiben. Nur, dass wir den Weg nicht kennen, ein unverrückbarer Stein auf dem Gaspedal liegt und die Brille von vornherein ruiniert ist.
Mit voller Fahrt geht es schon los, das neue Jahr. Und wie immer versuche ich, auch ohne Brille mit Weitsicht Schritt zu halten; an der Seite von über 8 Milliarden anderen Menschen auf diesem Erdenrund übe ich das Schritthalten – mit ab jetzt gültigen Gesetzen und einigen seltsamen neuen Verkehrsregeln; mit dem schneller weniger-Werden in Kirche und natürlich auch mit den neuen Konzepten für immer größere Kirchenregionen und Kooperationsräume. Zugegeben, auch mit wirklich guten neuen Eissorten im Kühlfach, aber eben auch mit der endgültigen Schließung von meinen Lieblingskneipen und der Neueröffnung von Läden, die mir Sachen anbieten, die ich bisher noch gar nicht kannte. Ja, ok, auch mit ein paar weiteren lächerlichen Vorsätzen mein altersgerechtes Bäuchlein betreffend.
Im getrübten Blick auf die atemlosen Entwicklungen mit mir und um mich herum ist mir die neue Jahreslosung da kein sehr großer Trost: Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu. Und ich seufze: Herrgott, noch mehr Neues, noch mehr Bewegung.
Etwas Ungebremstes in mir und um mich legt sich in diesen Tagen wie ein Stein aufs Gaspedal des Lebens. Und genau an solchen Tagen des Zeiten- und Jahreswechsels, wenn die tickende Uhr so richtig spürbar wird, wird in mir immer auch die alte Sehnsucht stark: die Sehnsucht nach der ausgebremsten Zeit.
Ausgebremste Zeit, so habe ich sie schon als Halbwüchsiger genannt. Ohne großen Hintersinn. Einfach so. Die Worte waren irgendwann da und sie blieben. Einmal war es nämlich so schön, so unbeschreiblich schön. Ein letzter Tag Winterurlaub vor der Rückreise in den Schulalltag. Bis in den späten Abend hinein die Flutlichtabfahrt ins Tal. Als der Kartenabreißer am Schlepplift „letzte Fahrt“ durch seinen Walrossbart mit kleinen Eiszapfen nuschelte, versteckte ich mich oben angekommen zusammen mit ein paar anderen Kindern im Wald neben der Piste. Dort warteten wir und zappelten voller Ungeduld, bis endlich der Lift stoppte, die Piste verwaist dalag, schließlich das Flutlicht ausging. Wir warteten noch ein, zwei weitere Minuten, dann fuhren wir im Zauber der Dunkelheit hinab.
Schon ein Kind begreift in diesem Augenblick: So schön kann es eigentlich nie wieder werden. Das Herz hüpfte vor Glück fast aus dem Hals heraus. Ich wagte nicht zu schlucken.
Als unser Auto etwas später den Parkplatz verließ, war ich wie erschlagen vom Abschied und beschloss, mir die erleuchtete Bierwerbung am Lokal unter dem Skilift für ein Leben lang einzuprägen als Erinnerung an diesen wunderbaren Abend. Das Schild leuchtete blau und gelb. Das aufgedruckte Wappen kann ich heute noch bis ins Detail beschreiben.
Die Absicht dieses sinnlosen Unterfangens war klar: ich wollte das Momentum dieses Abends mitnehmen, den glücklichen Augenblick in die Unendlichkeit verlängern und mein Leben nicht eintakten lassen von den Zwängen der Zeit und des Abschieds. Und weil mein Vater in diesem Moment stark auf die Bremse trat für eine Katze, die gerade seelenruhig über die Straße tippelte, ist und bleibt diese Sehnsucht für mich ein Leben lang die Sehnsucht nach der ausgebremsten Zeit.
Als Jugendlicher wusste ich diese Nicht-Zeit dann schon besser zu beschreiben: Ausgebremste Zeit, das muss auf jeden Fall eine Zeit sein, die als gesetzlich verordnete Leerstelle und nicht zu knapp im Kalender steht. Eine Zeit, die nicht den Namen eines Wochentages trägt und auch keine Zahl. Einfach eine Leerstelle im Jahreslauf, die besagt: Zwischen dem Sonnaufgang heute und dem Sonnenaufgang dann und dann kann jede und jeder machen, was sie wollen. Keine Vorgaben von Stunden und Minuten und Aufgaben, keine Hausaufgaben und keine Strafzettel, erst recht keine Steuerpflicht. Ich sah mich vor meinem geistigen Auge schon zeitlos auf dem Moped an einer Steilküste entlangfahren, die Arme der damaligen Freundin um meinen Nierengurt geschlungen. Und alle Einwände gegen so eine zeitlose Zeit – was machen denn dann die Patienten auf den Intensivstationen und in den Pflegeheimen, was machen denn dann die Tiere in den Ställen, wenn keiner kommt, weil keiner muss, wischte ich vom Tisch mit dem charmanten Hinweis: An solchen Tagen der Besinnung sehen gerade viele Menschen ihren Sinn darin, sich an ein Bett zu setzen, eine Runde mit einem Hund aus dem Tierheim spazieren zu gehen und was weiß ich.
Als Theologiestudent begann ich mich dann zu fragen, ob der siebte Tag der Schöpfungsgeschichte, der göttliche Ruhetag, nicht vielleicht genau diese ausgebremste Zeit beschreiben wollte: eine Nichtzeit in allem Tun und Mühen, Rennen und Machen mit dem Nebeneffekt einer angenehmen und notwendigen Bremsfunktion. Zeit zum Atemholen; Zeit, sich umzusehen, der Menschen um sich herum gewahr zu werden und nicht an der Schöpfung achtlos vorbeizurennen. Zeit, um Gott eine Chance zu geben, dass er von mir als ein durch die Zeit fließender und treibender Mensch überhaupt noch wahrgenommen werden kann: als Glaubensmoment, als lebensspendender Odem-Hauch, als Lichtfunke, in seinem Wort, im Blick seines Sohnes; also eben nicht daran vorbeizufließen wie ein Stück Treibholz, nicht daran vorbei zu rauschen wie ein einsames Blaulicht und Martinshorn zur Nacht.
Die Sehnsucht nach nicht vorgegebener Zeit, heute wird sie wieder in mir stark als Sehnsucht nach dieser angenehmen und notwendigen Bremsfunktion im Lebensfluss, nach bewussten Leerstellen zum Nach denken, um zur Ruhe zu kommen und zur Besinnung und zur Brillensuche. Nicht allein für mich, meine Sehnsucht trägt alle Menschen in sich. Zeitlose Momente, damit andere aufschließen können, zum Atemholen kommen, überhaupt noch mitkommen.
Nicht geplante, geschenkte Zeit, um alte Briefe wieder einmal zu lesen ja vorzulesen, und alte Stimmen wiederzuhören, die einmal, gar nicht so lange her, so stark und wundervoll vom Frieden zu erzählen wussten. Sorgsam bremsen in einer Welt ungebremster Autokraten und galoppierender Drohungen.
Widerstehend bremsen in einer Welt, in der sich extreme Ränder atemlos in der Mitte einer schweigenden Gesellschaft und verletzten Demokratie breitmachen können.
Notwendiges Bremsen in einer Welt sich immer schneller drehender Zeitmaschinen und Echtzeitüberweisungen und Live-Nachrichten, in der der einzige Notausstieg nur den Rückzug ins Privatleben, oft genug in die Einsamkeit zu weisen vermag.
Bewusste Zeitlosigkeit sehne ich auch herbei, damit die Kirche wieder sprachfähiger werden kann, um all den ungezählten Sprachlosen und Schweigenden Worte zu leihen, um ihretwillen zu widerstehen, um den trostlos Getriebenen Gasträume des Ankommens ja Heimkommens zu gestalten, um Kirche als lebendes Wort Gottes und als ausgestreckte Hand Christi erfahrbar zu machen.
Es ist nichts weniger als die Sehnsucht nach der Heimat im Momentum, nichts weniger als das, die den Jungen von damals heute immer noch antreibt.
Was kann da helfen? Sind es die Worte der Alten? Die alten Gebote, die alten Bekenntnisschriften? Wortmächtig, verheißungsvoll, wirkungsstark wie in alter Zeit oder kaum mehr eine Erinnerung, ein ohnmächtiges Flüstern in gottvergessener Welt?
Wir gehen dieser Frage in den Pastoralblättern in diesem Jahr als Leitthema nach, suchen den Staub und die Vergesslichkeit von den alten Worten zu fegen und ihrer Wirkmächtigkeit in unserer Zeit hinterher zu lauschen.
Oder sind es gar die anderen Alten, die helfen können: die biblischen Alten, die viel von Gott und vom Leben gesehen und uns darum einiges zu erzählen haben? Wir sind froh, mit Gerhard Engelsberger einen Menschenfreund und Gottesliebhaber und Sprachkünstler gefunden zu haben, der uns in einer ganzen Predigtreihe ein Jahr lang an die Seite und auf die Wege der biblischen Alten mitnehmen wird, Monat um Monat: zu Mose, Noomi, Abraham, Ruth, wie sie alle heißen mögen. Ich bin gespannt, was sie uns zu sagen haben aus seinem Mund.
Natürlich finden Sie auch in diesem Jahr wieder vertraute Predigtangebote zu jedem Sonn- und Feiertag, ausgewählte Impulse für Andachten zu besonderen Zeiten an besonderen Orten und auch viele Texte, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit Kirche und Leben beschäftigen. Dazu reihen sich ein paar gute Buch- und Medienempfehlungen für die Arbeit in den Kirchengemeinden. In diesem Jahr neu werden auch immer wieder einmal ausgewählte spannende christliche Podcasts vor gestellt. Ich freue mich darauf.
Uns als Redaktion wird es sehr freuen, wenn Sie die Lektüre und Arbeit mit den Pastoralblättern nicht wie eine verlorene, sondern wie eine kleine geschenkte Zeit in Ihren randvollen Kalendern erleben dürfen, wie eine angenehm ausgebremste Zeit.
An dieser Stelle unseren herzlichen Dank allen, die sich mit Predigten und anderen Beiträgen, mit ermutigenden und sinnigen Leserbriefen an dieser Zeitschrift beteiligt haben im nun zurückliegenden Jahr 2025!
Und wenn Sie jetzt gerade denken, Mensch, ich kann das doch auch, ich würde auch mal gerne einen Beitrag oder eine Predigt veröffentlichen, dann melden Sie sich gerne bei uns!
Bleiben Sie behütet und gesegnet in Ihrer Zeit und neugierig in der Nachfolge!
Herzlich grüßt Sie Ihre Redaktion der Pastoralblätter
und Ihr Jochen Lenz (Schriftleitung)