3. Sonntag nach Trinitatis, 6.7.2025
Lukas 19, 10: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.
Der Menschensohn, Jesus selbst, definiert hier bei Lukas das Handeln des Christen.
Ja, soweit würde ich gehen. „Suchen und selig machen!“ Die Menschen aufsuchen, die unsere Worte, Taten, Lebenshilfe brauchen. Weil dies der Wille Gottes ist: aktiv sein. Gottes Liebe zum Leben verbreiten und weitergeben. Seelsorglich und handfest.
Das Lukas-Evangelium ist ein sehr lebensnahes Evangelium. Lukas lässt Jesus da mitten im Leben auftreten. Keine philosophische Überhöhung wie bei Johannes. Realität springt uns entgegen. Natürlich werden einige wieder sagen, „die Verlorenen“, das sind die, die dem Glauben verloren gegangen sind. Ich denke, eher nicht. Ich glaube, Lukas meint tatsächlich die abgehängten Menschen in der Gesellschaft.
Aber viel wichtiger als die Frage nach dem „wer ist gemeint?“ ist die Bewegung, die uns dieser Vers vorgibt: Es geht nicht um das Warten, bis die Verlorenen kommen. Oder um die Einladung an alle, sich auf den Weg zu machen, um Seligkeit zu finden. Es ist eine Suchbewegung, die Jesus hier in Gang bringen möchte. Das ist es, was er vorlebt. Christsein besteht nicht aus dem Ausruhen auf dem, was Christen in unserer Kultur über viele hundert Jahre geprägt haben. Christsein findet nicht hinter den Kirchenmauern statt, die dem immer kleiner werdenden Häuflein Schutz bieten und Vergewisserung. Wer Jesus ernst nimmt, in ihm den Menschen sieht, in dem Gottes Vorstellung vom Leben eben Mensch wurde, der wird auch nicht in der frommen Ecke sitzen und auf sich selbst und den engen Kreis der eigenen Gemeinde schauen. Wer Jesus ernst nimmt, der muss im Leben dort hingehen, wo es weh tut. Wo er oder sie aktiv wird aus der Passivität eines Menschen heraus, der den Glauben allein für sich selbst konsumiert.
Die Frage nach dem „Wer?“ wird sich dann von selbst erledigen: Der Menschensohn lebt es vor, und Lukas erzählt davon. Wer ihm nachfolgt, ob Einzelner oder Gemeinde, der wird hinausgehen in die reale Lebenswelt. Der wird, auf welche Art auch immer, Menschen suchen, die die Botschaft von Gottes gutem Willen mit der Welt brauchen. Der wird Seligkeit erzeugen, die sich in vielfältigen Arten ausdrücken kann: ein gutes Wort, das tröstet, für die Traurigen, die einen Menschen verloren haben.
Ein Stück Brot oder auch eine Masse an Nahrungsmitteln aus unserem Überfluss für diejenigen, denen vor der Haus- und Kirchentür daran mangelt.
Und für die, die meist weit weg sind, zum Beispiel in Somalia, und nicht wissen, was die Kinder am nächsten Morgen essen sollen.
Eine warme Unterkunft für die, die nachts unter Brücken auf Pappschachteln schlafen.
Aber auch das Laute gehört dazu: klare Ansagen, wie Gott sich laut der Bibel unser Leben vorstellt.
Den Mund aufmachen bei denen, die Menschen ertrinken lassen, die Politik und Verhandlungen über Krieg und Frieden als Geschäft sehen, bei dem sie selbst profitieren.
Wenn wir uns an Jesus orientieren, wirklich orientieren, nicht nur belanglose Glaubenssätze nachplappern, dann werden wir genau darauf achten müssen: dass eben niemand verloren geht.
4. Sonntag nach Trinitatis, 13.7.2025
Galater 6, 2: Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
„Gesetz“, das ist ein hartes Wort. Gesetze sollten im Idealfall in Worte gegossene Gerechtigkeit sein. Das funktioniert bei uns Menschen nicht immer. Weil Leben dynamisch ist. Weil die Bedürfnisse und Lebensweisen sich permanent ändern und Werte sich verschieben. Und es ist gut, dass dann die Gerechtigkeit hinter den Gesetzen nicht in Stein gemeißelt ist, sondern dass wir Menschen es schaffen, Gesetze auch zu ändern.
Immer dann, wenn sie dem Leben nicht mehr entsprechen. Wir erinnern uns noch gut an die Zeit, als alternative Lebensweisen gesetzlich eingeschränkt waren. Als Homosexualität noch unter Strafe stand. Und wie gut ist es, dass wir, zumindest in unserem Gesetzesbereich, es geschafft haben, dies zu entkriminalisieren und in der Konsequenz als selbstverständlich anzusehen.
Letztlich verdanken wir das auch dem grundlegenden, unveränderlichen und für alles Leben geltenden Gesetz Gottes, von dem Paulus spricht: Wir sind, um das Leben zu gestalten, alle aneinander verwiesen. Da ist jeder gleich viel wert. Und jeder hat das Recht, Gerechtigkeit einzufordern. Das Grundprinzip: Einer trage des andern Last. Und in Klammer: Du wirst selbst in Situationen kommen, in denen du froh bist, wenn jemand deine Last trägt.
Das gilt für uns in den christlichen Gemeinden. Aber für Christen auch weit darüber hinaus. Gesetze, die Gott gibt, sind eben universal, unveränderlich und über die Zeiten hinweg gültig. Sie sind in Worte gemeißelte Gerechtigkeit. Und sie dienen nichts anderem als dem Leben.
So gilt es, das Leben zu fördern und zu schützen, überall dort, wo es in Gefahr kommt. Und es gilt, laut und deutlich auch dann zu sprechen und zu handeln, wo Gottes unveränderliches Gesetz nicht erfüllt wird.
Da kann der Christ um Christi Gesetz willen nicht zusehen, wenn von Gesetzes wegen Menschen im Mittelmeer dem Ertrinken überlassen werden. Er kann nicht schweigend und passiv zusehen, wenn auf Kosten unserer Kinder, Enkel und aller nachfolgenden Generationen wissentlich und mit offenem Auge die Erde zerstört wird, geopfert auf den Altären des Wachstums und des Wohlstands für wenige. Und dann kann man als Glaubende:r nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an. Wer die Last anderer tragen soll und damit rechnet, dass irgendwann auch die eigene Last getragen werden muss, der und die sollte auch dafür sorgen, dafür kämpfen und dazu beitragen, dass dieses grundlegende Gesetz des Zusammenlebens erfüllt wird. Und dann gibt es keinen Rückzug hinter fromme Floskeln und Ewigkeiten bei Gott. Sondern da heißt es konkret, vor Ort und sichtbar anzupacken, damit das Gesetz Christi erfüllt werden kann. Damit Gerechtigkeit wird.
5. Sonntag nach Trinitatis, 20.7.2025
Epheser 2, 8: Aus Gnade seid ihr gerettet durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.
Wir wissen es alle, wir erleben es alle: Unsere Kräfte sind begrenzt. Manchmal geht das Leben, das sich entfaltet, über das hinaus, was wir leisten können.
Im Taufgespräch erzählt mir die junge Mutter von ihren beiden Kindern, 2 und 4 Jahre alt. Die ältere hat eine angeborene Krankheit. Und nur eine passende Stammzellenspende kann ihr zu einem gesunden Leben verhelfen. Gut, dass die Medizin so weit ist. Gut, dass unsere Fähigkeiten und Kräfte so hoch entwickelt sind, dass solche Krankheiten behandelbar sind. Große Freude. Aber auch Tränen von der ersten Minute des Gesprächs an. Denn die Möglichkeit und die medizinischen Fertigkeiten sind kein Trost, wenn der geeignete Spender der kleine Bruder ist. Und so bricht es aus ihr heraus: die Angst, dass doch etwas schief gehen könnte. Das versteckte Gefühl der Schuld, dass das zweite Kind zum „Ersatzteillager“ für die kranke Schwester wird. Und die Furcht, das alles nicht zu schaffen, die Familie vielleicht zu zerreißen in den langen Monaten der Behandlung. In denen auch für die Eltern alles still steht, Beruf, Freundschaften, Familienleben. Es fängt ja jetzt schon an. Da müssen ethische Entscheidungen getroffen werden. Da gilt es, die Zukunft mitzudenken und abzuwägen. Eben alles, was uns so normal scheint, steht in Frage.
Und dann das Bedürfnis, diese ungeheure Last irgendwie abgeben zu können. Aber sie weiß, dass sie es selbst tragen muss, zusammen mit ihrem Mann und der großen Familie, die sie unterstützt. Und sie sucht nach Entlastung für die geplagte Seele, nach einer Gewissheit in der absoluten Unsicherheit. Und sie hat es gespürt: Hier hilft ihr nur etwas, was das Leben selbst ist. Hier ist Platz für ihren Gott. Nicht nur im Kindergottesdienst oder in der Gemeinde. Sondern ganz existenziell. Als Basis für ein weiteres Leben. Nicht Sicherheit und Wissen, sondern Sich-getragen Fühlen, Hoffnung auf Aufgefangen-Werden.
Und selten ist mir der Wunsch nach der Taufe plausibler geworden als in diesem berührenden und tiefgehenden Gespräch: nichts Magisches im Wasser, nichts Zauberhaftes in den Einsetzungsworten zur Taufe. Sondern eine Vergewisserung, dass Gott da ist, dass der Glaube an ihn letzter Halt sein kann. Dass die Kinder nicht sicherer oder geschützter sind. Doch dass sie getragen werden vom Leben selbst, von der Lebenskraft, die Gott uns in seiner Schöpfung gegeben hat. Dass das schützende Geflecht aus enger und weiterer Familie, aus Ärzten, Therapeuten und Familien, die sich in der gleichen Situation befinden, die Kraft aus dem Leben selbst schöpfen kann. Wasser fürs Wachsen und sich entwickeln. Und der allumfassende Segen Gottes, der alles Lebendige verbindet und trägt. Es ist Gottes Gabe: das, was lebt.
6. Sonntag nach Trinitatis, 27.7.2025
Jesaja 43, 1: So spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.
In Mannheim – genau dort, wo vor wenigen Monaten zwei Menschen von einem Amokfahrer ermordet wurden – direkt am Paradeplatz, steht ein Glaswürfel. Eingraviert sind die Namen sämtlicher jüdischer Menschen, die in der Zeit des Nationalsozialismus aus der Stadt deportiert wurden. Man kann alle Namen von jeder Stelle aus lesen, in Klarschrift oder spiegelverkehrt. Je nachdem, wo man steht.
Und die Namen sind wichtig. Namen sind nicht Schall und Rauch.
Namen individualisieren. Nicht Millionen Tote, sondern Rosa Adler oder Heinrich Mann. Zahlen werden durch Namen persönlich. Nicht so und so viele Männer und Frauen, sondern die damalige Nachbarin und der ehemalige Nebensitzer in der Schule. Nicht irgendwer, sondern ganz bestimmte Menschen, die in der Stadt gelebt haben. Ganze Familien, die spätestens am 23. Oktober 1940 deportiert wurden, verschwunden sind aus der Nachbarschaft, aus dem Stadtleben.
Mit einem Namen angesprochen zu werden, das gibt uns Würde und Selbstbewusstsein: Ich bin keine Nummer, die im Leben irgendwann aufgerufen wird und schnell wieder untergeht unter den ganzen anderen Nummern. Ich bin ein Mensch, der sich aus der Masse heraushebt.
Im Spruch aus dem Buch Jesaja steckt eine tiefe Weisheit. Jeder Mensch hat seinen Eigenwert. Kein Mensch darf untergehen in einer namenlosen Masse. Von Gott ist jeder und jede einzelne gemeint und gesehen.
Dass dies in der konkreten Lebenswelt natürlich nie gelingen wird, ist klar. Zu menschenverachtend sind unsere Kriege, unser Ehrgeiz, unser Neid und unsere Geltungssucht. Zu sehr erziehen uns politische Systeme wie der Kapitalismus zu selbstbezogenen, sich von anderen abgrenzenden Menschen, als dass wir neben unserem Wert auch den der anderen sehen können.
Den Christen und die Christin enthebt das allerdings nicht der Pflicht, dagegen anzugehen. Es ist unsere Aufgabe in den Gemeinden, in unseren Orten, dort, wo wir gesellschaftlich agieren, so zu leben, dass andere angesprochen und wertgeschätzt sind. Und da hindert auch nicht das schlechte Namensgedächtnis des Pfarrers oder der Pfarrerin. Wertschätzung und Ansprechen drücken sich auf ganz unterschiedliche Weise aus. Der Name eines Menschen kann Wohltäter:in sein. Oder „du tust mir gut“. Oder „hilf mir, ich brauche dich“. Oder: „ich bin für dich da!“
Ich wünsche es mir, dass ich es erleben kann, dass Gott so an mir handelt und mich beim Namen nennt. Und ich wünsche es mir, dass uns Menschen untereinander das auch gelingt. Ich werde gern beim Namen genannt.