DemokratieWie politisch darf die Kirche sein?

Immer wieder wurde in den vergangenen Monaten diskutiert, ob sich die Kirchen in politische Debatten einmischen sollten. Vor allem das Verhältnis der CDU zu den Kirchen ist ein Streitpunkt. Welcher Stellenwert kommt den Kirchen in der Demokratie noch zu?

Blick durch die Kuppel des Reichtagsgebäudes in den Bundestag
© Unsplash/Claudio Schwarz

Selten war das „Blame game“ gegen eine zu politische Kirche so leicht zu durchschauen wie in den letzten Monaten: Es beschwert sich immer die Seite, der kirchliche Repräsentanten gerade in die Quere gekommen sind. Nach der Kritik von Prälatin Anne Gidion und Prälat Karl Jüsten, den Leitern der kirchlichen Verbindungsbüros zum Staat, am Entschließungsantrag der Unionsfraktion zur Migration unter Inkaufnahme von AfD-Stimmen Ende Januar klagten Konservative über „politische Einmischung“ und Einseitigkeit der Kirchen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Steffen Bilger, ließ das Statement der Kirchen mit dem lapidaren Tweet abtropfen: „Überrascht nicht, interessiert nicht“. Eine demonstrative, arrogante Ignoranz, die für eine sich christlich nennende Partei beispiellos ist. Zwar wollte die CDU nie eine kirchliche Partei sein oder ein bloßer Transmissionsriemen für kirchliche Lehrmeinungen in die Politik. Aber wer sich als politische Partei in Name und Programm auf das Christentum beruft, der kann sich nicht öffentlich damit brüsten, dass er Stellungnahmen der großen Institutionen des Christlichen für irrelevant hält. Wen nicht aus Lernbereitschaft, dann wenigstens aus Respekt; und wenn auch der Respekt fehlt, dann wenigstens aus politischer Klugheit: Als Bilger und Jens Spahn bei der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht im Juli eine empfindliche Schlappe in ihrer Fraktion erlitten, weil sie die Akzeptanz für die SPD-Kandidatin falsch eingeschätzt hatten, obwohl schon Frauke Brosius-Gersdorfs Lehrer Horst Dreier 2008 als Kandidat an der Union gescheitert war, da wurde klar, dass sich die beiden doch besser frühzeitig dafür „interessiert“ hätten, was die katholische Kirche, besoders bekenntnisfreudige Teile der evangelischen und dezidiert christliche Abgeordnete denken und beim Thema Lebensschutz durchzuwinken bereit sind. So aber bewahrheitete sich: „Hochmut kommt vor dem Fall“!

Übrigens hat die CDU in ihrem neuen Grundsatzprogramm die bisher zwei ausdrücklichen Bezüge auf die christliche Soziallehre getilgt. Auch ein Indiz für die schwächelnde Bereitschaft und Kompetenz, ihre Politik transparent, nachvollziehbar aus der christlichen Weltanschauung abzuleiten. Unterbleibt dies, dann droht dem „C“ die Verflachung zum bloß kulturellen Identitätsmarker oder zu historischer Folklore, mit der man besonders die älteren Wähler binden will. Man möchte der CDU mit Goethes „Faust“ raten: „Was du ererbt von deinen Vätern hast,/ Erwirb es, um es zu besitzen“.

Nach bischöflichen Ermahnungen, keine Richterin mit einer zu permissiven Haltung im Abtreibungsrecht und zur Menschenwürdegarantie ins Verfassungsgericht zu wählen, verwahrten sich dann manche Linke, am prominentesten SPD-Fraktionschef Matthias Miersch, gegen - so wörtlich  - „unchristliche“ Beiträge katholischer Würdenträger zur beklagten „Hetzjagd“ gegen ihre Kandidatin Brosius-Gersdorf. Politisch sein dürfe eine Kirche schon, aber nicht so! Medien-Kommentatoren wie Felix Bohr im „Spiegel“ stimmten ein: Die Nominierung einer Verfassungsrichterin gehe „die katholische Kirche nichts an. Zum Glück." Irrtum! In einem freien Land muss sich niemand, keine Gruppe, auch keine Religionsgemeinschaft aus der Politik heraushalten – und somit auch nicht aus der politischen Wahl eines politiknahen Gerichts. Schon im Wortsinn geht die „Res Publica“ alle an. Der autoritäre Ton im „Spiegel“ ist verstörend. Zum Antiliberalen, Autoritären sind eben nicht nur raikale Rechte strukturell begabt, sondern auch Linke. Ihr antikirchliches Ressentiment wirkt heute allerdings aus der Zeit gefallen. Denn klügere Köpfe in ihren Parteien haben längst begriffen, dass die Kirchn angesichts von rabiatem Wohlstandsegoismus, grassierender Verrohung und Rechtsradikalisierung im Land zu den Verteidigern einer humanen, empathischen und moderaten politischen und sozialen Kultur gehören.

Gegen den Werteverfall

Joschka Fischer schrieb 1992 in seinem Buch: „Die Linke nach dem Sozialismus“: „Eine Ethik, die sich nicht auf die tiefer reichende, normative Kraft einer verbindlichen Religion (…) stützen kann, wird es schwer haben, sich in der Gesellschaft durchzusetzen und von Dauer zu sein“; es brauche „akzeptierte religiöse Tabus und davon abgeleitete Normierungen“; „eine Verantwortungsethik ohne religiöse Fundierung scheint (...) einfach nicht zu funktionieren”. Gregor Gysi betonte: „Auch als Nichtgläubiger fürchte ich eine gottlose Gesellschaft“. Oskar Lafontaine begründete seine katholische Kirchenmitgliedschaft als Agnostiker in einer Talkshow damit, die Kirchen seien doch einer der letzten Dämme gegen den „rasanten Werteverfall".

Doch nun, wo es um Menschenwürde, Lebensrecht und die staatliche Schutzpflicht für vorgeburtliches menschliches Leben ging, klöcknerte es ausgerechnet dort, wo man die Kritik der Bundestagspräsidentin Julia Klöckner an zu politischen Kirchen eben noch als übergriffig zurückwiesen hatte. In einem Interview der „Bild am Sonntag“ zu Ostern hatte die Christdemokratin den Kirchen eine Tendenz nachgesagt, zu „austauschbaren NGOs“ zu werden und in einem Interview der evangelischen Zeitschrift „Pro“ bekräftigt: „Je tagespolitischer Kirche wird, desto mehr wird sie schließlich als Partei wahrgenommen (...). Der Kern der Relevanz einer Kirche liegt nicht in ihrer allgemeinpolitischen Betätigung (...). Kirche darf niemanden im Streit um politische Auffassungen verlieren."

Zwar beschleicht auch mich gelegentlich der Verdacht, dass manche Theologinnen und Theologen der Versuchung erliegen, vor anspruchsvollen Glaubenslehren, die dem säkularistischen Zeitgeist zu spekulativ anmuten, zu kneifen und auf politische Ersatzfelder auszuweichen, wo Probleme greifbarer und Verbündete leichter zu finden sind. Aber: Zunächst: Was heißt hier „tagespolitisch“? Können etwa in aktueller, operativer Politik keine christlich-ethischen Fragen auftauchen, die Kirchen herausfordern? Das Zweite Vatikanische Konzil beansprucht für die Kirche, „ihre Soziallehre kundzumachen“ und „auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen". Viele politische Fragen haben einen Grundrechtsbezug, und sein Seelenheil kann man bestimmt nicht nur privat gefährden, sondern auch in Gesellschaft und Staat, durch Tun und Unterlassen.

Zweitens: Was meint Klöckner mit ihrem Ausschluss „allgemeinpolitischer Betätigung“? Doch hoffentlich nicht, dass die Kirchen bloß bei wenigen Spezialthemen gefragt seien wie in der Bioethik, während andere Politikbereiche mehr oder weniger moralfreie Zonen seien und deshalb für Religionen tabu? Drittens: Wenn Kirchen „als Partei“ gesehen zu werden drohen: Als welche denn? Fallen kirchliche Voten nicht je nach Thema mal konservativ aus, zum Schutz von Leben, Sitte, Tradition, Institutionen, mal sozial zum Schutz der Schwachen und Benachteiligten, mal ökologisch zur „Bewahrung der Schöpfung“ auch für kommende Generationen und im Zweifel liberal, weil die personale Freiheit nun mal aus der Menschenwürde folgt und biblisch verankert ist: „Ihr seid zur Freiheit berufen“ (Gal 5,13)? Werden die Kirchen nicht für jede Partei mal unbequem? Hätten wir derart politisierte Kirchen wie Klöckner unterstellt, würden wohl nicht nur 23 Prozent der Deutschen (Institut für Demoskopie in Allensbach, 2/2025) meinen, politisches Einflussstreben sei ein Merkmal des Christentums. Eine Dreiviertelmehrheit nimmt dies nicht so wahr. Viertens: Warum sollte eine dem Evangelium treue Kirche durch ihre Pflicht zur Unterscheidung der Geister nicht auch jemanden „im Streit verlieren"? Erlebte das nicht Jesus selbst? Die Bekennende Kirche stellte sich gegen Zweidrittelmehrheiten der Deutschen Christen in Synoden. Ein bloßes „Beieinanderbleiben“ ist nicht das höchste Kriterium gelingenden Kirche-Seins. Kirche darf nicht nur Kuschelzone sein. Alle Interessen und Wünsche zufriedenzustellen und wenig anzuecken, ist nicht der Sinn von Nachfolge Christi.

Mangelnde Präzision

Psychologisch gesehen ist zwar nachvollziehbar: Menschen wünschen sich eher Bestätigung; Widerspruch und Konflikt lösen kognitive Dissonanzen aus. Und die sind dort besonders lästig, wo man sich zuhause fühlen will, Erbauung, Trost und „seelische Erhebung“ sucht. Ein solcher Raum ist für „praktizierende“ Christen auch ihre Gemeinde. Gerade eine schrumpfende Religionsgemeinschaft kann deshalb Politik als zusätzlichen Spaltpilz fürchten. Glaubensfragen sind ja oft schon strittig genug. Kommt dann auch noch jemand mit politisch kontroversen Themen, liegt ein deutscher Reflex nah: „Ein politisch Lied, ein garstig Lied!“ (Hoffmann von Fallersleben, 1842).

Gewiss ist eine Kirche gut beraten, sich im politischen Raum auf Themen mit hoher ethischer Relevanz und Dringlichkeit zu konzentrieren. Diese müssen, fundiert durch den Sachverstand christlicher Wissenschaftler und Praktiker, differenziert durchargumentiert, auf biblische Kriterien hin transparent gemacht und in verbindlichem Habitus vertreten werden. Insofern war es unglücklich, dass der Bamberger Erzbischof Herwig Gössl die Personalie Brosius-Gersdorf als „innenpolitischen Skandal“ fachfremd kategorisierte und die Thesen der Juristin teils falsch wiedergab, statt ruhig und klar christlich-ethische Bedenken gegen Positionen der Juristin zu buchstabieren. Mangelnde Präzision und überschießende Schärfe prägen unsere Debatten sowieso schon inflationär und stehen einer Kirche ebenso schlecht zu Gesicht wie betretenes, opportunistisches Schweigen. Schade übrigens für die Ökumene, dass unsere Kirchen beim Lebensschutz hinter ihre gemeinsame Erklärung von 1989: „Gott ist ein Freund des Lebens“ zurückgefallen sind.

Gössls Predigtaussage beim Fest des Bistumsgründers Heinrich: „Ich möchte mir nicht vorstellen, in welchen Abgrund der Intoleranz und Menschenverachtung wir gleiten, wenn die Verantwortung vor Gott immer mehr aus dem Bewusstsein der Menschen verschwindet“, musste allerdings nicht auf die Richterkandidatin persönlich bezogen werden, wie sie selbst es bei Markus Lanz tat und den Erzbischof gleich noch zur Verfassungstreue ermahnte. Auch das war übrigens „drüber“. Es handelt sich vielmehr um einen alten Topos europäischer Ideengeschichte, den etwa auch Nobelpreisträger Werner Heisenberg, der Begründer der Quantenmechanik, 1967 in seinem Buch „Der Teil und das Ganze“ vertrat: „Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verdammen ist, so findet man doch immer wieder den Wertmaßstab des Christentums auch dort, wo man mit den Bildern und Gleichnissen dieser Religion nichts mehr anfangen kann. Wenn einmal die magnetische Kraft ganz erloschen ist, die diesen Kompass gelenkt hat – und die Kraft kann doch nur von der zentralen Ordnung her kommen –, so fürchte ich, dass sehr schreckliche Dinge passieren können.“ Konrad Adenauer deutete 1946 den deutschen „Rückfall in schlimmste Barbarei“ als Folge eines Abfalls von der tradierten Religion und war überzeugt, „dass das Verlassen des christlichen Fundamentes letzten Endes Europa mit dem Untergang bedroht“, weil „die ethischen Gesetze (…) auf religiösem Boden wurzeln“. Der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff sagte nach seiner Befreiung aus der Lagerhaft zu seinem Freund Joseph-Ernst Fugger-Glött: „Wissen sie, ich bin als Atheist in das Konzentrationslager gekommen, und nach dem, was ich dort erlebt habe, verließ ich es als gläubiger Christ. Es ist mir klargeworden, dass ein Volk ohne metaphysische Bindung, ohne Bindung an Gott, weder regiert werden, noch auf Dauer blühen kann.“

Selbstverständlich dürfen sich auch deutsche Bischöfe heute grundsätzlich so äußern. Gibt es allerdings zeitgleich eine rechtsradikale Hetzkampagne gegen eine Kandidatin für das höchste Gericht, blieben sie besser sachlich eng am Thema und distanzierten sich zugleich von der Kampagne destruktiver Kräfte, statt deren Lügen auch noch mit zu kolportieren. Den Kommunikationsfehler bügelt man anschließend aber auch nicht durch eine Entschuldigung aus, die den verbleibenden ethischen Dissens überdeckt oder ertränkt in Krokodilstränen der Solidarisierung mit der Gescholtenen. Mit Verlaub: Die Bischöfe erinnerten mich in dieser Causa an einen kopf- und koordinationslos durcheinander laufenden Hühnerhaufen: erst in die eine, dann in die andere Richtung. Dagegen fand die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, eine differenzierte Position: Sie erklärte sich einerseits „sehr beunruhigt“ über Brosius-Gersdorfs Haltung zur Menschenwürde und bekannte: „Ich würde sie aufgrund dieser Position nicht wählen können“; „Wenn die Menschenwürde nicht mit dem Zeitpunkt der Einnistung beginnen soll, sondern zu einem anderen, juristisch noch zu definierenden Zeitpunkt“, könne das „enorme Auswirkungen haben" – etwa indem die Menschenwürde an Fähigkeiten, Können und Ratio gebunden werde, womöglich mit Folgen „für Menschen mit Beeinträchtigungen und für die Frage der Suizid-Assistenz am Lebensende“. Andererseits habe sie „der Ton in der Debatte entsetzt“. Die Kirche müsse dazu beitragen, „dass rechtspopulistisch gelenkte Kampagnen nicht die Tagespolitik entscheiden". Dem Rückzug von Brosius-Gersdorf könne sie „erstmal nur Respekt zollen“; sie kritisierte die „mangelnde Vorbereitung“ der Richterwahl in der Unionsfraktion, wo Bedenken „nicht ernst genommen“ worden seien.

Das Bild vom Kahn

Gibt es eine Formel oder feste Grenzwerte für politische Interventionen der Kirchen? Natürlich nicht! Es kommt auf den Einzelfall und alle Umstände des Themas und der Debatte an, auch auf die politische Großwetterlage: In Schönwetterperioden, in denen weder das System des demokratischen Rechtsstaats noch Grundrechte wesentlich bedroht sind, kann eine Kirche sich eher politisch zurückhalten und sich auf ethische Einzelfragen konzentrieren. Anders in einer Zeit multipler, gravierender Krisen und extremistischer Angriffe auf die menschenwürdige Ordnung der liberalen Demokratie: Da müssen sich Kirchen eher mehr als weniger zu Wort melden, gegen den Trend.

In seinem Werk „Der Aufstand der Massen“ definierte José Ortega y Gasset den Staat als „den Status, die Statik, die Gleichgewichtslage der Meinungen“. Gibt es in Demokratien einen zu starken Sog in eine politische Richtung, droht Gefahr für die Freiheit des Einzelnen und die Klugheit politischer Entscheidungen. Denn übermächtige Mehrheiten neigen dazu, denkfaul zu werden und intolerant. Dann kann auch für Kirchen eine Devise Thomas Manns angeraten sein: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht - und umgekehrt" (Brief an Karl Kerényi, 20.2.1934). Das Bild vom Kahn bedeutet übrigens, dass man sich tunlichst schon umpositionieren sollte, bevor eine Schieflage sich dem Kipppunkt nähert. Nur so kann man sie noch ausbalancieren. Eine kluge Ökologie des Staates muss wie die Ökologie der Natur vorausschauend auf politische Entwicklungen reagieren. Christen sollten deshalb tendenziell antizyklische, skeptische Staatsbürger sein: „Prüfet alles, das Gute behaltet“, mahnt der Thessalonicherbrief (5,21).

Mit einem anderen Bild kann man auch sagen: Kirche muss keine „Eulen nach Athen“ tragen. Auch noch zu betonen, was eh schon en vogue ist, kann sie sich, selbst wenn es richtig ist, eher verkneifen als ethische Positionen zu verteidigen, die angefochten oder minoritär geworden sind. Damit macht man sich zwar leicht unbeliebt, aber nach christlicher Lehre kommt es vor allem auf den letzten Richter an, dem man Rechenschaft zu geben hat, und die Clausula Petri bestimmt klar: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). Eine Grundformel christlicher Freiheit! Ein Stück „Entweltlichung“ im guten Sinn Benedikt XVI.: nicht als Rückzug aus der Welt, sondern als ein geistliches, vom Evangeliums inspiriertes Auftreten in der Welt und für sie, jedoch unabhängig von weltlichen Erwartungen und Maßstäben und vom Urteil anderer.

Christliches Gewissen

Es braucht also eine unabhängige Kirche und innerlich unabhängige Christen. Übrigens auch innerhalb der Parteien. Mein Respekt vor den Unions-Bundestagsabgeordneten, die im Januar und im Juli ihrem christlichen Gewissen gemäß abgestimmt haben und dafür zum Teil später bei Ämterbesetzungen übergangen und als illoyal abgestempelt wurden. Artikel 38 (1) Grundgesetz lautet aber nicht: „Die Abgeordneten sind Vertreter ihrer Partei. Sie unterliegen der Fraktionsdisziplin“, sondern: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Als Referent für Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin schlug ich meinen Stipendiaten im Grundseminar immer vor, eine Inschrift am Rathaus zu Ingolstadt auswendig zu lernen: „Was andere meinen, auch zu meinen, ist nicht schwer./ Nur immer anders als die anderen meinen auch nicht sehr./ Weißt du aus eigener Kraft, in mutig stillem Wagen,/ hier ehrlich ja, dort ehrlich nein zu sagen;/ gleich ob dich alle loben oder keiner,/ dann bist du einer.“

Im Gottesdienst ist den Kirchen in der Regel zu politischer „Diät“ zu raten, aus Gründen des Glaubens wie der Vernunft. Politik oder kirchenpolitische Kontroversen in Liturgien hinein zu panschen, um die heilige Handlung „aufzupeppen“, in die Medien zu kommen oder sich auf der „Höhe der Zeit“ zu zeigen, wäre ein kurzsichtiges Kalkül. Man riskierte damit, wenn die Causa verantwortungsethisch nicht klar zu beurteilen ist wie zum Beispiel bei der Nachrüstung in den Achtzigerjahren, das Evangelium der Unglaubwürdigkeit preiszugeben bei jenen, die andere politische Schlüsse ziehen. Das Leitungsgremium des Reformierten Bundes rief damals den „Status confessionis“, den Bekenntnisfall aus und setzte die Befürwortung der Raketenstationierung so mit einer Leugnung des Evangeliums gleich. Pech nur, dass der NATO-Doppelbeschluss später zur Abrüstung von Raketen in Ost und West führte, zur politischen Wende in Russland beitrug und damit zu mehr Sicherheit und Frieden in Europa. Wir lernen: Bei der Frage nach christlich verantwortbarer Politik sind komplexe Zweck-Mittel-Relationen zu beachten. Eine kurzschlüssige Automatik einzelner Bibelworte und gesinnungsethischer Eifer können vom Regen in die Traufe führen und das Gegenteil dessen bewirken, was man beabsichtigt. Von ethischen Schein-Paradoxien darf man sich nicht beeindrucken und in die Irre führen lassen. So wussten schon die Römer: „Si vis pacem para bellum“ – frei übersetzt: Wenn du Frieden willst, bereite dich auf Krieg vor.

Optimierung christlicher Positionsbestimmung

Deshalb entwickelt man christliche Positionen in politischen Fragen am besten in einem dreistufigen Verfahren: Auf die sachwissenschaftliche Analyse – religiös noch unspezifisch – folgt die normative Wertreflexion, die schon christlich inspiriert ist, aber je nach Thema mehr oder weniger Spielraum für unterschiedliche Positionen von Christen lässt. Erst danach kann eine spezifisch christliche prophetische Sinndeutung folgen. Bei den meisten politischen Fragen wird diese Stufe aber gar nicht erreicht. Sonst wären christliche Positionen in der säkularen Öffentlichkeit ja schwer kommunizierbar und kaum bündnisfähig.

Zudem besteht bei Politik im Gottesdienst die Gefahr, dass der Zelebrant oder das Team im Altarraum in fragwürdiger Weise seinen Machtvorteil ausnutzt, denn unmittelbare Gegenrede ist nicht möglich. Ganz abgesehen vom Risiko, als Theologe zu dilettieren, denn politische Wissenschaft und Klugheit werden weder bei Weihe und Ordination noch bei der Bestellung für andere liturgische Dienste mit übertragen. Kirchliche Stellungnahmen zur internationalen, Bundes- oder Landespolitik haben ihren besten Platz in übergeordneten Gremien wie Synoden, Diözesanräten und dem ZdK, dem Rat der EKD und der Bischofskonferenz, in deren Beratungen eine breite und interdisziplinäre Expertise einfließt. Das ist nötig, weil die Anwendung von Prinzipien und Normen christlicher Sozialethik realistische Lageanalysen voraussetzt, um zu fundierten Positionen zu gelangen. Politische Predigten Einzelner oder wortreiche Fürbitten mit Belehrung zur Weltlage erinnern hingegen manchmal an Jesu Mahnung: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden“.

Der Forderung dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, entspricht sozialethisch der Grundsatz der "iusta autonomia", der rechten oder „relativen Autonomie der Kultursachbereiche“, von der das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ (Nr. 36) spricht: „Durch ihr Geschaffensein haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muss.“ Daraus folgt: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“. Ob ein Thema zur Kompetenzschnittmenge von Staat und Kirche gehört, ist sorgfältig zu prüfen.

„Christozentrik“ versus „Anthropozentrik“?

Neben einem allzu diesseitigen Missverständnis christlichen Glaubens mit kirchlicher Selbstsäkularisierung und übergriffigem Politisieren gibt es aber auch das jenseitige Missverständnis: ein „Sakristeichristentum“, das völlig abhebt vom Zustand der Schöpfung und des Gemeinwesens, von der Not der menschlichen Kreatur und ihrer Aspiration, vom angeblich doch schon „angebrochenen“ Reich Gottes auch etwas zu spüren. In der Rede von „himmelschreiender“ Ungerechtigkeit leuchtet auf: „Christozentrik“ darf nicht gegen „Anthropozentrik“ ausgespielt werden. 

Ein Schöpfer, der den Menschen nach seinem Abbild schuf, ihn „nur wenig geringer als Gott“ (Psalm 8) machte, der dann in Jesus selbst Mensch wurde und die den „geringsten Brüdern“ erwiesene Liebe als Dienst an sich selbst qualifizierte (Mt 25,40), hat eine so anthropozentrische Agenda, dass Kirchen ihn durch eine ebensolche schwerlich missachten können. Deshalb auch Alfred Delps Überzeugung: „Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen.“ Caritas und Diakonie sind gerade in Zeiten massenhaften Glaubenszweifels, kirchlicher Skandale und religiöser Gleichgültigkeit der trittsicherste Boden für verunsicherte Kirchen. Zur Caritas gehört aber auch das politische Mitdenken der Strukturen, die Hilfsbedürftigen das Leben erschweren oder erleichtern könnten.

Bei aller politischen Wachheit der Kirche und gesellschaftlichen Mitsprache muss allerdings klar bleiben, was der zweite Bundestagspräsident und engagierte Protestant Hermann Ehlers (CDU) 1953 betonte: „Der Staat lebt nicht nach den Weisungen der Kirche, sondern von den Früchten ihrer geistlichen Existenz.“ Auch nach Karl Barth (1938) besteht die wichtigste Leistung der Kirche für den Staat darin, „dass sie ihren Raum als Kirche behauptet und ausfüllt (...). Keine direkte Aktion, die sie, in wohlmeinendem Eifer selber halb oder ganz politisch handelnd, unternehmen (…) könnte, könnte auch nur von Ferne mit der positiven Relevanz derjenigen Aktion verglichen werden, in der sie, ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die staatlichen Belange, (…) den Glauben verkündigt: die rechte schriftgemäße Predigt und Unterweisung und (…) Verwaltung der Sakramente.“ Deren verborgene, indirekte politische Wirksamkeit brachte Richard Löwenthal in einem Aufsatz über „Widerstand im totalen Staat“ (1983) auf den Punkt: Was keine Aufzählung öffentlicher Konflikte zwischen NS-Regime und Kirche wiedergeben könne, sei „die Auswirkung der von der nationalsozialistischen bestimmten Öffentlichkeit so radikal verschiedenen Atmosphäre des Gottesdienstes auf die moralische Haltung vieler gläubiger Christen: Auch dann, wenn die Kirche kein Faktor des gewollten Widerstands gegen den Nationalsozialismus war, blieb sie überwiegend ein Faktor der Entfremdung von seinem Geist.“ Ohne geistliche Tiefe und Kraft drohte das politische Engagement der Kirchen uninspiriert, rückgratlos und bei Gegenwind opportunistisch zu werden - schales Salz, „von den Leuten weggeworfen und zertreten“ (Mt 5,13).

Auf den Einzelnen kommt es an

Im Vordergrund christlicher Weltverantwortung in Staat und Gesellschaft  haben aber eh nicht die Kirchen zu stehen, sondern viele einzelne Christinnen und Christen, die das Wort des Propheten Jeremia (29,7) beherzigen: „Suchet der Stadt Bestes (...) und betet für sie zum Herrn, denn wenn's ihr wohl geht, so geht's auch euch wohl.“ Zugegeben: eine recht pragmatisch klingende Begründung mit dem Eigeninteresse. Im Blick auf die ethische Qualität der Republik des Grundgesetzes, die Josef Isensee als „die bescheidenste Staatsform der Weltgeschichte“ charakterisierte, sollte es Christen aber nicht schwer fallen, das „Tua res agitur“ (Es geht um deine Sache) als Gebot der Vernunft und des Glaubens zu erkennen. Nach der deutschen Wiedervereinigung betonte der Dresdner Bischof Joachim Reinelt, im Grundgesetz sei die Würde des Menschen „in wunderbarer Weise“ verankert, er erkenne darin „verwirklichten Glauben“.

Demnach haben Christinnen und Christen besonderen Grund, in der genuin immer noch „Bonner Republik“ Verfassungspatrioten zu sein und die allgemeine Aussage des katholischen Weltkatechismus, „Die Heimatliebe und der Einsatz für das Vaterland“ seien „Dankespflichten und entsprechen der Ordnung der Liebe“ (Nr. 2239) nicht nur naturrechtlich, sondern auch christlich-ethisch zu verstehen und diese Ordnung gegen die Hetze ihrer Feinde zu verteidigen: als Wählerinnen und Wähler, bei Diskussionen in Familie, Freundes- und Kollegenkreis, in sozialen Medien, im Lehrberuf und in vielen anderen praktischen Diensten am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Freiheitlicher Rechtsstaat Darüber hinaus fordert das Konzil „geeignete“ Katholikinnen und Katholiken auf, sich „darauf vorzubereiten, den schweren, aber zugleich ehrenvollen Beruf des Politikers auszuüben, und sich diesem Beruf unter Hintansetzung des eigenen Vorteils und materiellen Gewinns zu widmen“ (GS 75). Könnte man kirchliche Denkschriften und Pressemitteilungen Eins zu Eins umtauschen in christliche Köpfe im Politikerberuf, wüssten wir dann nicht, was zu tun wäre? 1923 schrieb der Moraltheologe Joseph Mausbach: „Das Erste und Elementarste, das wir von uns selbst fordern müssen, ist ein lebendiges Interesse am Staat. (…) Demokratie wird notwendig zum reinen Zerrbild, wenn die tüchtigen, die gewissenhaften Männer und Frauen, sich vom Staatsleben zurückziehen und in private Sorgen einspinnen.“

Zehn Jahre später kollabierte die Weimarer Demokratie. Heute nimmt die Zahl der liberalen Demokratien wieder ab. Aber viele bei uns scheinen den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben. Ein zu lange währendes, selbstverständlich gewordenes Glück wissen Menschen oft irgendwann nicht mehr zu schätzen – bis hin zum Überdruss. Während ideologisch „glühende“ Parteigänger ein Vielfaches an Zeit und Geld für ihre fixen Ideen zu opfern bereit sind, geht gemäßigtes politisches Denken oft eher mit einer gewissen habituellen Lauheit einher. Gefragt dagegen ist eine „Militanz der Mitte“, die moderate Politikinhalte mit machtpolitischer Entschlossenheit und Überzeugungskraft im Meinungskampf verbindet und in der Systemfrage den demokratischen Rechtsstaat verteidigt gegen die Mode des großmäuligen Autoritarismus. In Abwandlung eines Brecht-Gedichts: „Stell Dir vor es ist Demokratie, und nur die Radikalen gehen hin – dann kommt die Unfreiheit auch über Euch! Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und lässt andere kämpfen für seine Sache, der muss sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will, denn es wird kämpfen für die Sache des Feindes, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.“

In diesem Sinne darf Kirche jedenfalls, ja muss sie auch politisch sein, sogar kämpferisch, als „ecclesia militans“. Eine Ordnung respektierter Menschenwürde und geschützter Freiheiten zu verteidigen, ist geradezu der Bekenntnisfall, schon begrifflich aufscheinend im Zeugnis eines Mannes, der vor Freisler gestanden hat, Eugen Gerstenmaier (1983): „Seid auf der Hut! Sonst war die ganze Erfahrung mit Hitler für die Katz!“; vor der Gefahr, „unseren teuer erworbenen Rechtsstaat unterwandern und erodieren zu lassen“, erinnere er daran, das „das einzige große, heilige Vermächtnis dessen, was hinter uns liegt, der freiheitliche Rechtsstaat ist.“

Der Text ist eine leicht redigierte Fassung einer Festrede, gehalten beim Jahresempfang des Kreiskatholikenrats Rhein/Sieg am 19.9.25.

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