Pluralistische GesellschaftVon Nathan lernen

Auch bei zurückgehender Kirchenbindung bleibt das Christentum in Deutschland eine prägende Kraft. Dabei sollte die Bedeutung von Judentum und Islam nicht vergessen werden.

Porträt Ulrich Ruh
Ulrich Ruh, Ehemaliger Chefredakteur der Herder Korrespondenz© Christian Klenk

Einer der berühmtesten Texte der deutschen Literatur ist die „Ringparabel“, in der Gotthold Ephraim Lessing in seinem Drama „Nathan der Weise“ Ende des 18. Jahrhunderts eine Vision für das friedliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen im Zeichen der Aufklärung entworfen hat. Damals waren die deutschen Territorien religiös gesehen christlich geprägt; Juden waren keine gleichberechtigten Staatsbürger und Muslime gab es in Deutschland nur als wenige Exoten. Heute leben vor allem als Folge von Arbeitsmigration Millionen von Muslimen im Land; die christlichen Konfessionen haben ihren offiziellen Status weitgehend eingebüßt. Die jüdische Gemeinschaft hat sich in Deutschland nach der Katastrophe des Holocaust neu konstituiert.

Das Miteinander der drei „abrahamitischen“ Religionen wird durch Asymmetrien gekennzeichnet: Die öffentliche Szene wird nach wie vor vom Christentum als traditioneller Mehrheitsreligion beherrscht, auch wenn (nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern) Christen inzwischen zur Minderheit geworden sind. Der Islam hat sich als gelebte Religion praktisch flächendeckend etabliert, wird aber noch immer in vieler Hinsicht als fremd empfunden. Die im Vergleich dazu verschwindend kleine jüdische Minderheit ist als religiöse Gemeinschaft für die meisten Deutschen nicht präsent; das Judentum wie auch der Islam spielen kulturell so gut wie keine Rolle. Dazu kommt ein in den letzten Jahren deutlich angewachsener Antisemitismus.

Die strukturell starken und rechtlich abgesicherten christlichen Konfessionen werden wie das Christentum als Kulturphänomen in Deutschland gesellschaftlich ein wichtiger Faktor bleiben, jedenfalls auf absehbare Zeit. Inwieweit der Islam als selbstverständliche religiöse Größe dazu treten kann und wird, muss sich erst noch zeigen, ist aber durchaus wahrscheinlich. Es wäre sehr zu wünschen, dass auch das Judentum in Deutschland seinen Platz in der religiös- kulturellen Landschaft wieder auf Dauer finden kann. Es ist schließlich die unverzichtbare Wurzel der drei biblisch-koranischen Religionen – Nathan der Weise war ein Jude!

Anzeige: Menschenrechte nach der Zeitenwende. Gründe für mehr Selbstbewusstsein. Von Heiner Bielefeldt und Daniel Bogner
HK Hefte

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt gratis testen