Lebendiger RhythmusDas Lesetempo als Gestaltungsmittel

Zu Beginn einer Lesung sollte ein Lektor sich bewusst machen, dass er sich für seinen Dienst Zeit nehmen darf. Denn schon allein das Bewusstsein, sich nicht beeilen zu müssen, wird ein für das Vorlesen günstiges Lesetempo schaffen. Darum ist es ideal, nach der Einleitung einer Lesung (z.B. „Lesung aus dem ersten Buch der Könige“) tief Luft zu holen und mit dieser Spannung den Text zu beginnen. Wer sich Zeit zum Atmen lässt, hat auch Zeit zu lesen.

Besonders entscheidend für das Sprechtempo ist die Größe und die Akustik des Raumes: Je größer der Raum, desto mehr ist auf den Hall zu achten. Schnelleres Sprechen ist in sehr großen Räumen problematisch, weil sich die Silben und Wörter „vermischen“ und beim Hören nicht mehr auseinander gehalten werden können. In kleineren Räumen ohne Nachhall überschlagen sich die Wörter nicht, so dass die Sprache in der Regel überall gut zu verstehen ist.

Schließlich ist es noch eine Frage der Persönlichkeit, ob jemand eher dazu neigt, schneller oder langsamer zu sprechen. Unabhängig davon bleibt es die Aufgabe jedes Lektors, den Text entsprechend zu gliedern. Wie lässt sich aber beim Tempo das richtige Maß finden?

Sprache strukturieren

Langsames, deutliches Lesen kann zu gleichförmigem Lesen führen. Ein Wechsel im Tempo ist jedoch ein wichtiges Mittel um die Sprache zu strukturieren und dem Text Lebendigkeit zu verleihen. Wie gelingt dies?

Erstens: Durch Beschleunigung. Man sollte in der Lage sein, das Tempo anzuziehen, bisweilen im gleichen Gedankengang - analog einem accelerando in der Musik. „Achtet sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt.“ (Eph 5, 15) Diese Aufforderung sollte in einem zügigen Tempo zum Ausdruck kommen. Genauso muss es möglich sein, das Tempo zurückzunehmen, vergleichbar einem ritardando in der Musik: „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach; sonst betrügt ihr euch selbst.“ (Jak 1, 22) Der erste Teilsatz sollte im Tempo gesteigert, der zweite Teilsatz zurückgenommen werden. Der Gedankengang wird in einem Bogen gesprochen, die Aussage dadurch verdichtet. Der Text erhält Struktur und es entsteht ein lebendiger, mitreißender Sprechrhythmus.

Rhythmus entwickeln

Zweitens: Textbezogene Tempowechsel. Hier kommt das erzählerische Element, das Narrative ins Spiel. Je stärker ich die Handlung gedanklich und verstehend mitvollziehe, desto besser kann ich das Tempo bewusst steuern.

Drittens: die Länge der Silben und Wörter. Unbetonte Silben und Wörter sind kürzer als betonte Silben. Sie werden daher auch gerne „verschluckt“. Wenn sie allerdings sorgfältig artikuliert werden, ohne ihnen zu viel Gewicht zu geben, ergibt sich ein lebendiger Rhythmus zwischen länger und kürzer. Ein Wechsel von schnell und langsam bedeutet, sich auf den Rhythmus des Textes einzulassen. Der Lektor darf sich nicht hinter einem Einheitstempo verstecken. Tempowechsel heißt, den Impuls eines Textes aufzunehmen und ihn dem Hörer im Gottesdienst weiterzugeben.

Das Lesetempo einüben

Tempowechsel bieten sich an, um das Narrative, das erzählerische Moment, in einem Text zu entwickeln. Dazu möge die Lesung 1 Kön 19, 4-8 (Mess-Lektionar für die Sonn- und Festtage, II, S. 321) als Beispiel dienen. Zu Beginn wird aus der Erzählperspektive berichtet, was der Protagonist Elija tut. Ein moderates Tempo ist angemessen. In der folgenden wörtlichen Rede („Nun ist es genug, Herr“) kann das Tempo verlangsamt werden, denn spätestens im Vers 5 („Dann legte er sich unter einen Ginsterstrauch und schlief ein“) sollte eine langsamere Lesegeschwindigkeit die Ruhe zum Ausdruck bringen.

Sobald der Engel erscheint, sollte das Tempo wieder angezogen werden. Die wörtliche Rede „Steh’ auf und iss!“ erfordert eine Beschleunigung, wie sie sich auch in unserer Alltagssprache bei einer solchen direkten Ansprache einstellt. Danach setzt wieder die Erzählperspektive ein („Als er um sich blickte, …“). Sie verlangt ein moderates Tempo wie zu Beginn der Lesung. „Er aß und trank und legte sich wieder hin.“ Dies kann wieder verlangsamt werden.

Das erneute Auftreten des Engels erfordert die gleiche Beschleunigung wie zuvor. Das drängende „Sonst ist der Weg zu weit für dich“ muss auch in einem Tempo, das nach vorne treibt, zum Ausdruck kommen. Der letzte Satz berichtet die weitere Handlung mit dem Aufbruch Elijas. Dies kann mit dem gleichen gemäßigten Tempo des Anfangs gesprochen werden. Der Schluss („… bis zum Gottesberg Horeb“) verträgt eine Verlangsamung, ohne in der Intensität der Sprache nachzulassen.

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