Wenn man sich anlässlich des
100-jährigen Jubiläums der
„Marienberger Vereinigung
für [evangelische] Paramentik“ Gedanken
für einen Artikel in einer katholischen
Zeitschrift macht, laufen zunächst verschiedene
Bilder von Kirchenräumen aller
Jahrhunderte, von Prinzipalstücken jeder
Qualität und Zeitstellung sowie von altertümlichen
und modernen Paramenten vor
dem inneren Auge ab. Man hinterfragt, ob
man sie als Gottesdienstteilnehmer/in gesehen
hat, ob man ein persönliches Ereignis
wie ein Konzert mit ihnen verbindet oder
einfach „nur“ den Blick aus der Besucherperspektive
erinnert. Das heißt, dass liturgische
Textilien in vielfältigen Bezügen stehen
und wesentlich zum Gesamteindruck
eines Sakralraumes
beitragen.
Neben dem Blumenschmuck sind die
liturgischen Textilien diejenigen Elemente
innerhalb des Kirchenraumes, die während
des Kirchenjahres mehrfach wechseln. Hier
sind dem jahrhundertealten Brauch nach
vor allem die Antependien hervorzuheben:
farbige Textilien, die an der Vorderseite von
Altar, Kanzel und Lesepult hängen. In der
evangelischen Tradition erstrahlen sie an
den Christusfesten und den anschließenden
Festzeiten in hellem Weiß, weil sich Christus
im Johannesevangelium selbst mit dem
Licht der Welt identifizierte. Zu Pfingsten
und anderen Kirchenfesten symbolisiert
ein kräftiges Rot die Energie, die die Jünger
ergriffen hatte, das Christentum weltweit
zu verkündigen. Ein dunkles Violett soll in
den Vorbereitungswochen auf die Hochfeste
in der Passionszeit und im Advent, die ehemals
Fastenzeiten waren, die Gemeindeglieder
in Gedanken über die Unverfügbarkeit
menschlichen Lebens und die Besinnung
auf ihren Lebenswandel führen. Als vierte
liturgische Farbe ist Grün als Symbol der
Hoffnung charakteristisch für die Trinitatiszeit.
Das Vegetabile, das im Frühjahr und
Sommer das übernatürliche Wunder vom
Wachsen und Gedeihen,
Austreiben von Blüten und Früchten sichtbar macht,
kommt in vorrangig grünen Gestaltungen
sinnvoll zum Ausdruck. Manche Gemeinden
wählen ihren Konventionen entsprechend
zu Traueranlässen schwarze Paramente,
die allerdings der Farbsymbolik nach eine
Hoffnungslosigkeit anzeigen. Das Verständnis
der Symbolik der Farben ist nicht auf
die christliche Liturgie beschränkt, sondern
fußt auf einem Farbenverständnis, das sich
bereits in der Antike entwickelt hat und bis
auf kleine Ausnahmen in weiten Teilen der
Erde vergleichbar ist.
In diesem Jahr blicken die Mitglieder
der Marienberger Vereinigung für
Paramentik e. V. nicht ohne Stolz auf ihr
100-jähriges Jubiläum. Sie nehmen es zum
Anlass, den „Paramententag“ vom 11. bis
13. April 2024 in Helmstedt mit Vorträgen
und Gesprächen zu feiern. Heute zählen
neben weiteren Mitgliedern aus Theologie,
Architektur und Kunstgeschichte noch
sechs Werkstätten in partiell kirchlicher
Trägerschaft und zehn Einzelwerkstätten
zur Vereinigung. Kaum eine Werkstatt ist
fester Bestandteil eines Mutterhauses, und
nirgendwo arbeiten noch Diakonissen an
der Herstellung von Paramenten. Das bedeutet
vor allem, dass die meisten Werkstätten
teilweise oder vollständig organisatorisch
und finanziell unabhängig sind –
mit allen Rechten und Pflichten. Meines
Wissens werden, außer im katholischen
Bereich, nirgendwo sonst ausschließlich
Paramente gefertigt. Vielmehr umfasst das
Sortiment Textilkunst für verschiedene Belange.
Auch innerhalb der Sepulkralkultur
reagiert man auf individuellere Bedürfnisse
im Umgang mit dem Sterben und dem
Tod und entwickelt entsprechende Objekte
in zeitgenössischer Formensprache.
Die Paramentikerin: Berufsfeld
zwischen Kunsthandwerk und
Kostendruck
Die Ausbildung zum/zur Paramentiker/in
innerhalb einer dreijährigen Lehrzeit wurde
in der DDR durch fünf Diakonissenmutterhäuser
länger durchgeführt als in der
Bundesrepublik. Sie umfasste Unterricht
in Weiß- und Buntstickerei, Färben mit
chemischen und natürlichen Farbstoffen,
Bildweberei, Applikation, Brettchenweberei,
Spinnen sowie die Fächer Schriftschreiben,
Paramentenkunde, Fachkunde, Liturgik
und Symbolik. Ich selbst habe die Ausbildung
zur geprüften Paramentikerin der
Evangelischen Kirche in einer Werkstatt
absolviert, in der es eine Werkstattleiterin
und eine Ausbilderin – beides Diakonissen
–, vier Gesellinnen, sechs Feierabendschwestern
und sieben Schülerinnen gab.
Diakonische Einrichtungen in der BRD
unterlagen viel früher dem finanziellen
Druck, mindestens kostendeckend zu kalkulieren,
so dass die traditionellen Grundsätze
von höchster handwerklicher und
materialer Qualität nicht mehr tragbar
waren. Das alte Verständnis, weniger finanzkräftigen
Gemeinden den Erwerb von
Paramenten zu ermöglichen, um den Altardienst
würdig zu gestalten, konnte sich
dagegen in der DDR länger halten. Denn in
christlich geprägten Mutterhäusern sollte
aus politischen Gründen nicht gewinnbringend
gewirtschaftet werden. Mit der
Währungsunion wurden diese „Inseln“
unter den Dächern von Diakonissenmutterhäusern
„abgewickelt“, allerdings ohne
das Bemühen, ihre geistigen und geistlichen
Werte in die Institutionen der Kirche
zu übertragen. Wenn überhaupt, arbeitet
in den Nachfolgewerkstätten heute meist
nur eine ausgebildete Paramentikerin.
Die einzigartige handwerkliche Qualität,
die innerhalb der Ausbildung herrschte,
kann seitdem weder für innerkirchliche
noch für konservatorische Arbeiten weiter
gepflegt werden. Die Erfahrung, dass in
fast allen Fällen bei der Umstrukturierung
der Mutterhäuser in Diakonische Einrichtungen,
ohne Intervention der Landeskirchen
oder der EKD, auf die theologischen,
liturgischen und integrativen Dimensionen
von Paramentik bewusst verzichtet
wurde, ist für die Beteiligten bis heute
schmerzlich.
Auch wenn Diakoniehäuser ohne Diakonissen
keine Paramentikerinnen in
Tracht mehr haben können, heißt das nicht,
dass Gemeinden ohne gestaltete Liturgie
auskommen wollen. Diese Lücke füllen
teilweise Großhändler, die per Katalog und
im Netz Paramente anbieten, die weder mit
geeigneten Materialien noch mit einer Gestaltung
für einen konkreten Sakralraum
hergestellt werden, und deshalb nun den
Markt beherrschen. Allerdings könnte
diese Geschäftsidee nicht erfolgreich sein,
wenn den Entscheidungsträgern der Wert
von Paramenten klar wäre, die speziell im
Austausch mit der Gemeinde entwickelt
werden. Gleichzeitig hält sich der Gedanke,
dass liturgische Textilien quasi ehrenamtlich
angefertigt würden, äußerst hartnäckig.
Das Schicksal mangelnder Vergütung
von hochqualifizierter Handwerklichkeit
beschränkt sich nicht auf aussterbende
Mutterhäuser. Auch Frauenklöster, in
denen oft seit Jahrhunderten liturgische
Textilien in bewundernswerter Kunstfertigkeit
hergestellt werden, schließen Paramentenwerkstätten
mangels Nachwuchses
bzw. aus finanzieller Schieflage.
Der lange Weg zum Paramemt
Wie ein Parament individuell für die Gemeinde vor Ort gefertigt wird (YouTube-Video der Paramentenwerkstatt Neuendettelsau)
Die Neuausrichtung der Paramentik
geht seit den letzten Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts eher mit der Qualifizierung
der Werkstattleiterinnen an Fachhochschulen
für Textildesign bzw. Textilgestaltung
einher. Neben traditionellen
Aufgaben der Paramentenherstellung, bei
denen man flexibel mit Materialien und
Gestaltungsformen umgeht, nehmen zeitgenössische
Gestaltungsansätze den gesamten
Kirchenraum für textile Interventionen
in den Blick. Werkstätten, die nicht
auch für außerkirchliche Auftraggeber
gearbeitet haben, sind die Ausnahme. Das
schlägt sich auch im Titel der Werkstätten
nieder, in denen auf Textilkunst und Paramente
im Kirchenraum verwiesen wird.
Gleichzeitig wenden sich Auftraggeber
beider Konfessionen für die Gestaltung
von Prinzipalien nicht ausschließlich an
Paramentenwerkstätten, sondern auch an
freischaffende Künstlerinnen und Künstler.
Bei ihnen sind liturgische Vorkenntnisse
nicht unbedingt vorauszusetzen, weshalb
Leitlinien für sakrale Gestaltungsfragen
sinnvoll sind.
Evangelische Paramentik
Die Entwicklung der evangelischen Paramentik
ist eng mit Wilhelm Löhe (1808–1872)
verbunden. Der lutherische Pfarrer leitete
das bayerische Diakonissenmutterhaus Neuendettelsau
in den prägenden ersten Jahren
Mitte des 19. Jahrhunderts, in denen er sich
intensiv um die Ausbildung junger Frauen
aus Bürgertum und adligen Familien bemühte.
Zu einer fundierten Grundlage zählten
neben der Pflege von Kranken und Bedürftigen
auch die Hauswirtschaft. Obgleich manche
Frauen den Weg zur Aufnahme in die
Diakonissenschaft einschlugen, stand den
anderen ebenfalls die Ausbildung für Aufgaben
in der Familie und Kirchengemeinde
offen. Letzteres schloss die Vorbereitung des
Altars für den Gottesdienst und die Pflege seiner
Ausstattung ein. In dieser Zeit war es absolut
ungewöhnlich, dem Erscheinungsbild
des materialen gottesdienstlichen Zentrums
Aufmerksamkeit zu schenken. Dennoch
entwickelte der Diakoniepfarrer in Zusammenarbeit
mit Grafikern Ideen für die Einkleidung
des Altars. Er begründete die Formensprache
mit der Beschäftigung mit sogenannten
Altertümern wie der einheimischen
mittelalterlichen Textilkunst. Besonders ist,
dass er die Frauen nicht marginalisierte,
sondern die Arbeit an Altartextilien mit den
Amtshandlungen des Pfarrers verglich: Weil
durch das Wort und das Sakrament
Christus
anwesend sei, der Altar ihn sinnbildlich
verkörpere, gehörten auch die „weiblichen
Handarbeiten“ zu den heiligen Handlungen.
Die theologische Argumentation nimmt ästhetische
und handlungsspezifische Aspekte
wie das Vorbereiten des Altars auf, die dem
Begriff „Parament“ zugrunde liegen (vgl. lat.
parare mensam).
Interessant ist, dass die Grundlagen, auf
die sich die evangelische Paramentik bis
heute beruft, im Kontext dieser Ausbildung
entstanden sind. Die Diktate, mit denen der
Diakoniepfarrer Wilhelm Löhe die Mädchen
unterrichtete, wurden 1858 erstmalig unter
dem programmatischen Titel „Vom Schmuck
der heiligen Orte“ veröffentlicht (vgl. Wilhelm
Löhe: Vom Schmuck der heiligen Orte
[1857/58]. Kommentiert und bearbeitet von
Beate Baberske-Krohs und Klaus Raschzok,
Leipzig 2008). Als Bestandteil der Ausbildung gab man sie jahrzehntelang in Form des Diktates weiter, was
sich bis in die 1980er-Jahre des 20. Jahrhunderts hielt. Wilhelm Löhe
entschied sich, denselben liturgischen Farbenkanon als Grundlage
auch für Paramente der evangelischen Kirchen zu empfehlen, der
seit dem Mittelalter gültig ist und im nachtridentinischen Missale
Romanum (1570) festgeschrieben wurde.
Die Gründung der Marienberger Vereinigung
Mitte des 19. Jahrhunderts gab es bereits Regionalverbände für Paramentik,
darunter den Niedersächsischen Paramentenverein mit
Hauptsitz im Kloster St. Marienberg in Helmstedt. Die niedersächsische
Adelsfamilie von Veltheim stiftete dort einerseits eine diakonische
Einrichtung. Andererseits ließ sie die romanische Klosterkirche
sanieren sowie die Klausurgebäude neu aufbauen und schuf eine
räumliche und inhaltliche Nähe zur mittelalterlichen Anlage. Im
Erdgeschoss entstand ein großer, lichtdurchfluteter Raum für die
Paramentenwerkstatt mit Webstühlen, Stickrahmen, großen Arbeitstischen,
Spinnrädern und Arbeitsbereichen, etwa für das Waschen
von Leinen und Färben von Stickgarnen und Webwolle. 1924 vereinigten
sich die existierenden Werkstätten der Landesverbände zur
Marienberger Vereinigung für Evangelische Paramentik e. V. Abgesehen
von der Zeit des Zweiten Weltkrieges finden seitdem alle zwei
Jahre „Paramententage“ statt. 1954 wurde in Helmstedt über die
zukünftige Ausrichtung der Herstellung und Gestaltung gesprochen,
bei der man sich auf eine dezente und klare Formensprache einigte.
Das Musterbuch christlicher Symbole des Schriftkünstlers Rudolf
Koch (1876–1934) wurde vielfach als Vorlage genutzt und die Ausführungen
mit möglichst natürlichen Wollgarnen und Leinenstoffen
umgesetzt. Die Ehrfurcht vor der Schöpfung und die manuelle Bearbeitung
im Geist eines ehrlichen und bescheidenen Habitus zur
Ehre Gottes zeichnen die Paramentik der folgenden Jahrzehnte aus.
Weil die katholischen Werkstätten keinen eigenen Dachverband
hatten, wurde innerhalb der Marienberger Vereinigung in
den 2010er-Jahren über eine Satzungsänderung diskutiert, nach
der auch katholische Werkstätten beitreten können. Im Zuge dessen
wurde der Begriff „evangelisch“ aus dem Titel gestrichen. 2017
trat die Paramenten-Werkstätte Kloster Sießen in den Verband ein.
Schließlich luden diese Franziskanerinnen 2022 zum „Paramententag“
mit Werkstattbesichtigung, Vorträgen und Mitgliederversammlung
in das dortige Kloster auf der Schwäbischen Alb ein. Die
diskutierten Themen zeigten erneut, dass Fragen zur zeitgemäßen
Paramentik, zu deren Geschichte und ihrem Wert innerhalb gegenwärtiger
Transformationsprozesse überkonfessionell sind.
Die bleibende Bedeutung der Paramente
Farbige Antependien haben innerhalb der Liturgie eine Funktion
und tragen ihre Bedeutungsinhalte mit ästhetischen Mitteln weiter.
Sie spiegeln den Geist der Gemeinschaft auch dann wider, wenn Gottesdienste
bereits beendet sind. Meines Erachtens ist das auch deshalb
bedeutsam, weil Kirchenräume nicht ausschließlich Gemeindeveranstaltungen
dienen. Der Publikumsverkehr in offenen Kirchen
mag unberechenbar und organisatorisch schwierig sein. Dennoch
besuchen Touristinnen und Touristen diese Gebäude mit Interesse
und im Wissen um die religiöse Funktion. Das Erscheinungsbild
wird die Erinnerung prägen und mit ihm wird weniger eine Gemeinde
als vielmehr die Institution der Kirche wertend verbunden.
Darüber hinaus bezeugen Paramente ein christliches Verständnis
von Kontinuität und Einheit. Der Wechsel der Antependien entsprechend
dem Kirchenjahr geht auf Fest- und Besinnungszeiten
ein und charakterisiert diese auch in Form künstlerischer Gestaltung
anschaulich. Häufig nehmen Kirchenbesucher/innen nicht
konkret wahr, was sie beeindruckt oder was ihnen besonders gefällt.
Zudem ist es global gesehen nicht selbstverständlich, offen
zum christlichen Glauben stehen zu können. Kirchen werden weltweit
immer häufiger angegriffen bzw. die biblischen Religionen in
Frage gestellt. Auch deshalb ist es wichtig, den Bekenntnischarakter
sichtbar zum Ausdruck zu bringen.
Gestalterische Aspekte des Kirchenraumes sind in der Evangelischen
Kirche als „Kirche des Wortes“ zu wenig beachtet worden.
Für die Zukunft wird der ästhetischen Aussagekraft der Paramente
hoffentlich größere Bedeutung und Wertschätzung beigemessen werden
– dabei handelt es sich auch um eine überkonfessionelle Aufgabe.