LoslassenKolumne

Die Kinder sollen selbstständig werden. Aber ist der Schulweg nicht viel zu gefährlich, fragt sich unsere Kolumnistin.

Loslassen
© Matthias Wieber, Freiburg

Ich bin faul und überbehütend. Das ist nicht die schlechteste Kombination, wie ich kürzlich festgestellt habe. Denn natürlich haben mein Mann und ich unseren Zweitklässler jeden Morgen zur Schule, ach was, bis in den Klassenraum gebracht. Wie alle anderen Eltern an unserer Grundschule sind wir nämlich sehr besorgt und auf Sicherheit bedacht. Und den süßen Kleinen, die ja leider noch ach so verträumt und verspielt sind, ist ein Schulweg von zehn Minuten keineswegs zuzutrauen. Was könnte da alles passieren! Wir tun also, was alle in unserer Generation tun – obwohl unsere eigenen Eltern niemals auf die Idee gekommen wären: Wir quälen uns gemeinsam mit den Kindern in aller Herrgottsfrühe in Jacke und Schuhe, schultern den Schulranzen und übergeben den Nachwuchs persönlich ans pädagogische Personal.
Nun leben wir, das sei zu unserer Entschuldigung gesagt, inmitten einer großen Großstadt. Es gibt breite Straßen mit Ampeln, über die rücksichtslose Fahrradfahrer auch bei Rot heizen, und es gibt unübersichtliche Nebenstraßen mit parkenden Autos, die die Sicht versperren. Also wirklich keine idealen Bedingungen für kleine Verkehrsteilnehmer. Aber – und hier kommt meine zweite Charaktereigenschaft (die Faulheit) ins Spiel – irgendwie ist das trotzdem kein Dauerzustand. Das morgendliche Bringen nervt! Wie lange soll das noch andauern? Bis zur dritten oder gar vierten, fünften, sechsten Klasse? Ich beginne die Stimmung in meinem Umfeld zu beobachten. Frage auch den Sohn unauffällig aus: Wer aus der Klasse kommt denn schon allein? Es sind leider die allerwenigsten.

DIE FAULHEIT SIEGT

Hat wirklich niemand außer mir Leidensdruck? Ist da keiner, der morgens um halb acht ähnlich lustlos wie ich zur Schule schlappt? Und den leise Zweifel quälen, ob wir unsere Kinder zu ausreichend Selbstständigkeit erziehen?
Eines Morgens komme ich tatsächlich mit einer Mutter ins Gespräch. Ihre Tochter wohnt rund 500 Meter von der Schule entfernt – und genau auf unserem Weg. Die beiden Kinder mögen sich sehr. Sollen wir nicht versuchen, dass er sie morgens abholt? Begeistertes Nicken bei der anderen Mama. Am nächsten Tag bereits startet das Experiment. Mein Sohn findet die neu gewonnene Freiheit so obercool, dass er über Nacht gefühlte fünf Zentimeter gewachsen ist. Mit tausend mütterlichen Ratschlägen beladen („Pass an der Straße auf, immer gucken, nicht rennen …“) verlässt er frohgemut das Haus.
Alles klappt wie am Schnürchen. Natürlich. Die beiden Dreikäsehoch sind ab nun ein festes Schulwegteam. Jetzt werde ich übermütig. Wohnen nicht zwei weitere Klassenkameraden direkt in unserer Straße? Beide werden ebenfalls noch von den Eltern gebracht. Ich schreibe ein paar SMS, dann steht die Aktion: Wir haben jetzt eine Reihe gebildet. Kind 1 klingelt bei Kind 2, dann kommen sie zu uns (Kind 3) und gemeinsam wird noch Kind 4 eingesammelt. Auf dem Schulhof erzählt die Truppe selbstbewusst von ihrem morgendlichen Ritual. Andere wollen sich unbedingt anschließen. Die Kinder haben den Spaß ihres Lebens, tüfteln an komplizierten Routen und beugen ihre Köpfe über Stadtpläne. So sehen positive Kettenreaktionen aus.
Und ich? Ich ziehe jetzt jeden Morgen um 7:35 Uhr die Tür hinter meinem Sohn zu, winke nochmal vom Balkon und schlüpfe dann für ein paar Minuten zurück unter die Bettdecke. Herrlich!  

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