Vom blinden Befolgen zum HinterfragenMoralentwicklung

Auch hierüber ließe sich trefflich philosophieren: Was bedeutet moralisches Verhalten? Die Debatte ginge umso tiefer, je größer bei den Teilnehmern das Moralbewusstsein ausgeprägt wäre. Wie sich diese Haltung beim Menschen entwickelt, darüber hat der US-amerikanische Psychologe und Erziehungswissenschaftler Lawrence Kohlberg seine Stufentheorie der Moralentwicklung aufgestellt. Kohlberg zufolge gibt es einen Zusammenhang zwischen moralischer und kognitiver Entwicklung. Je älter und gebildeter der Mensch ist, desto höher entwickelt ist sein moralisches Verhalten. Laut dem Psychologen gliedert sich das Moralbewusstsein in drei Ebenen mit je zwei Unterstufen. Kinder ordnet er generell der untersten, von ihm präkonventionell genannten Ebene zu. Jugendliche und Erwachsene können – abhängig von Lebenserfahrung und Bildung – alle drei Ebenen erreichen. Kohlberg unterscheidet die Menschen danach, inwieweit sie in der Lage sind, auf inneren Prinzipien beruhende und damit moralische Entscheidungen zu treffen.

WUNSCH NACH BELOHNUNG

Auf Stufe 1 orientieren sich Neugeborene und Kleinkinder allein daran, wie ihre Bezugspersonen auf ihr Verhalten reagieren. Sie registrieren, wofür sie von ihrem unmittelbaren Umfeld sanktioniert und wofür sie honoriert werden. Die Furcht vor Maßregelungen und das Bedürfnis nach Anerkennung und Belohnung motiviert ihr Handeln.
Wenn Kinder erkennen, dass sie auch Vorteile daraus ziehen können, sich gelegentlich nach den Bedürfnissen anderer zu richten, haben sie Stufe 2 erreicht. Kohlberg spricht von der „instrumentell relativistischen Orientierung“. Kindern erscheinen zwischenmenschliche Beziehungen dann wie der Handel auf einem Basar: Ich gebe dir etwas, dafür bekomme ich aber auch etwas. Auch manche Erwachsene handeln zeitlebens nur nach dem sprichwörtlichen Motto: Wie du mir, so ich dir.
Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen verortet Kohlberg auf der konventionellen Ebene der Moralentwicklung. Diese beginnt mit Stufe 3, auf der Menschen ihr Verhalten nicht mehr nur nach dem unmittelbaren, sondern nach dem gesellschaftlichen Umfeld ausrichten. Sie suchen nach Anerkennung, indem sie dessen Regeln einhalten. Den Sinn der geltenden Regeln hinterfragen sie allerdings nicht.
Stufe 4 ähnelt diesen Verhaltensweisen, der Rahmen wird jetzt allerdings größer. Die Menschen orientieren sich nicht mehr nur an den Regeln des gesellschaftlichen Umfeldes, sondern an Recht und Ordnung. Sie akzeptieren, dass moralische Normen für das Funktionieren einer Gesellschaft nötig sind.

ARGUMENTE ANGEMESSEN ABWÄGEN

Nur etwa ein Viertel der Erwachsenen erreichen nach Kohlbergs Auffassung die höchste, sogenannte postkonventionelle Ebene. Dann akzeptieren sie herrschende moralische Normen nicht blind, sondern sind in der Lage, sie zu hinterfragen. Auf Stufe 5 der Moralentwicklung erkennen Menschen, dass auch andere Sichtweisen als nur ihre eigenen richtig sein können. Um an diesen Punkt zu kommen, ist nicht nur ein gehöriges Maß an Lebenserfahrung nötig, sondern auch umfangreiche Bildung – ein Argument für philosophische Erfahrungen schon in der Schule. In gesellschaftlichen Diskursen sind es vor allem diese Menschen, die unterschiedliche Argumente angemessen abwägen können und zu einem Ausgleich unterschiedlicher Interessen in der Lage sind. Auf Stufe 6 kommt noch hinzu, dass die Menschen ihr Verhalten an allgemeingültigen ethischen Prinzipien orientieren. Dabei folgen sie nicht ganz konkreten Moralregeln wie den Zehn Geboten, sondern abstrakten Prinzipien wie dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant („Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“). Bei Kant ist dies das höchste Prinzip der Moral.

KRITIK

Kohlbergs Entwicklungstheorie ist in den 1970er-Jahren auch unter Pädagogen populär geworden und hat noch immer viele Anhänger. Mittlerweile gibt es aber auch Wissenschaftler, die das Modell als zu wenig differenziert oder gar überholt ansehen. Sie kritisieren etwa die mangelnde Vielfalt der Probanden, denn Kohlberg entwickelte sein Stufensystem über die Befragung ausschließlich US-amerikanischer Männer. Auch die These, dass die kognitive Entwicklung allein entscheidend für das moralische Empfinden ist, wird inzwischen infrage gestellt. Denn aus der Verhaltensforschung weiß man, dass moralisches Empfinden und Empathie in einem engen Zusammenhang stehen. Das kognitive Wissen über ethisch richtiges und falsches Handeln ist zwar unerlässlich; aber nur die Kompetenz, sich in jemanden hineinzuversetzen und mitzufühlen, füllt dieses Wissen auch mit Leben.

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