Die großen Fragen des LebensWerte diskutieren

Sokrates verwickelte seine Mitmenschen oft in philosophische Gespräche. Pädagogische Fachkräfte sollten dies mit Schülerinnen und Schülern auch tun, empfiehlt die Erziehungswissenschaftlerin Barbara Brüning.

Wieso? Weshalb? Warum?
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Wer nicht denkt, bleibt dumm. Wer aber denkt, stellt Fragen – und darum geht es beim Philosophieren im Grundschulalter. Nicht die komplexen Gedanken der großen Philosophen stehen im Mittelpunkt, sondern die verschiedenen Weltanschauungen, die in heutigen Klassenzimmern aufeinandertreffen. Und Philosophie dreht sich ja darum, wie wir die Welt anschauen. Die UNESCO-Studie „Philosophie – eine Schule der Freiheit“ von 2007 attestiert gerade Grundschulkindern eine urphilosophische Haltung der Neugier und des Staunens. In der frühen Schulzeit werden entscheidende Weichen gestellt auf dem Weg zur eigenständigen Persönlichkeit. Dazu gehört, sich Neugier, Unvoreingenommenheit und Fantasie zu bewahren und eine differenzierte Wahrnehmung zu entwickeln. Kinder sollen lernen Probleme zu lösen, Konflikte auszutragen und Selbstkritik zu üben. Sie können Sensibilität, Empathie und Respekt für Andersartigkeit entwickeln. Auf all das setzt das Philosophieren in der Schule. Die Kinder beginnen, über eigene Ansichten nachzudenken und sie zu hinterfragen. In der Grundschule, und insbesondere in der Ganztagsschule, sollte der Umgang mit sich selbst und den anderen im Mittelpunkt stehen. Das ist wichtig für ein gutes Miteinander – in der Schule und in der Gesellschaft. Um trotzdem auf die großen Philosophen zurückzukommen – schon in der Grundschule kann man sich beim Sprechen über die Welt an den vier Fragen Immanuel Kants orientieren: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

klasseKinder!: Frau Brüning, wann haben Sie das letzte Mal mit Kindern philosophiert?
Barbara Brüning: Vor ein paar Tagen mit meinen drei Enkeln: Es ging um die Frage, ob Hunde Freunde sein können. Wir haben gemeinsam überlegt, welche Eigenschaften Freunde besitzen. Man kann mit ihnen Spaß haben und seine Freizeit verbringen. Das trifft auch auf den Hund zu. Aber über Probleme sprechen, Geheimnisse anvertrauen? Das geht nicht. Die Jüngste kam dann zu der Überzeugung, dass es sich zwischen Mensch und Tier um eine andere Art von Freundschaft handelt.

Sie fordern seit vielen Jahren, dass das Philosophieren einen festen Platz in den Grundschulen bekommt – warum?
In vielen Fächern werden philosophische Themen angeschnitten. Um beim Hund zu bleiben: Auch im Sachunterricht sind Haustiere ein Thema. Was fressen sie, wie pflanzen sie sich fort? Wenn nun ein Kind fragt: Können Hunde denken? Dann sind wir bei einer philosophischen Frage, die sich nicht leicht beantworten lässt. Was ist Denken überhaupt? Unterscheidet es sich bei Tieren und Menschen? Solche Fragen entstehen auch im Deutsch- oder Matheunterricht. Deshalb plädiere ich dafür, dass das Philosophieren fächerübergreifend in den Unterricht einfließt. Es gibt zwar in vielen Bundesländern Ethik oder Philosophie als Wahlpflichtfach, aber daran nehmen nicht alle Kinder teil.

Wie sieht es mit dem Nachmittag aus, gehört die Philosophie auch in den Hort?
Unbedingt! Im Hort wird unter anderem vorgelesen. In einem Buch wie „Pippi Langstrumpf“ stecken unzählige philosophische Fragen: Was heißt es, dass Pippi ohne Erwachsene lebt? Geht das? Brauchen Kinder Eltern? So oder ähnlich kann man ins Gespräch kommen. Der Nachmittag eignet sich dafür hervorragend, weil man mehr Zeit und keinen Leistungsdruck hat. Man kann alles, was Kinder sagen, zulassen – ohne es mit Noten bewerten zu müssen.

Bei Philosophie denkt man an Kant, Hegel, Nietzsche, an komplizierte Texte. Verstehen Sie, dass pädagogische Fachkräfte teilweise Hemmungen haben, selbst zu philosophieren?  
Das verstehe ich auf jeden Fall. Es hängt davon ab, was man unter Philosophie versteht. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hat mal gesagt, jeder Mensch sei ein Philosoph. Dem schließe ich mich an. Alle Menschen stellen sich die grundsätzlichen Sinnfragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum gibt es böse Menschen? Allen voran Kinder, weil sie sehr viel über diese Welt nachdenken.

Geschichten können ein Ansatzpunkt für einen philosophischen Dialog sein. Gibt es noch andere Techniken?
Es muss nicht immer ein Text sein. Man kann malen, was man unter Freundschaft versteht. Man kann zeichnen, wie man sich die Schule von morgen vorstellt. Auch Rollenspiele sind eine Möglichkeit. Gerade Kinder, die unsere Sprache noch nicht beherrschen, oder Kinder mit Behinderungen können sich manchmal mit anderen Formen besser ausdrücken.

Was unterscheidet ein philosophisches von einem normalen Gespräch?
Der Gegenstand des Philosophierens sind Fragen an die Welt, Fragen, die das Selbstverständnis des Menschen betreffen. Zum Beispiel: Was ist ein gutes Leben? Diese Frage kann man nicht eindeutig beantworten. Ein philosophisches Gespräch ist ein Prozess des gemeinsamen Nachdenkens. Nicht immer findet man eine Antwort, die alle zufriedenstellt. Das macht nichts. Es geht darum, sich zuzuhören. Das müssen nicht nur Kinder lernen, sondern auch Erwachsene. Was sagt der andere und warum vertritt er diese Ansicht? Beim Philosophieren sind alle Meinungen gleich viel wert; alle werden ernst genommen. Man muss seine Meinung aber auch begründen oder Beispiele anführen. Auf diesem Weg lernen die Kinder eine Diskussionskultur, die in unserer Gesellschaft häufig zu kurz kommt.

Kann diese Diskussionskultur auch im Alltag hilfreich sein, zum Beispiel im Umgang mit Kollegen oder Eltern?
Ganz sicher! Beim Philosophieren lernt man, über Begriffe nachzudenken. Was bedeutet Glück? Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, das Wort zu definieren. Durch das Philosophieren hinterfragt man das scheinbar Selbstverständliche kritischer. Das kann helfen, in Konfliktsituationen besonnen zu bleiben und zu überlegen, was mein Gegenüber mir überhaupt sagen will. Anschließend kann ich versuchen zu begründen, warum ich anderer Meinung bin.

Die sozialen, kulturellen und religiösen Hintergründe der Kinder unterscheiden sich teilweise stark. Wie kann man das aufgreifen – etwa beim schwierigen Thema Gerechtigkeit?
Man kann zunächst Beispiele sammeln. Ungerechtigkeitserfahrungen machen alle Kinder. Davon ausgehend kann man überlegen: Wenn das alles ungerecht ist – nicht mitspielen dürfen, ausgeschlossen oder benachteiligt werden –, was wäre dann aus eurer Sicht gerecht? Auf diese Weise lernen die Kinder, dass es keinen vorgefertigten Merksatz gibt, sondern dass man sich den Begriff gemeinsam erarbeiten muss.

Muss ich als pädagogische Fachkraft in solchen Gesprächen neutral bleiben oder darf ich meine Überzeugungen ebenfalls einbringen?
Die eigene Haltung ist sehr wichtig! Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher beim Philosophieren antidemokratische Positionen einnimmt – etwa: Mädchen seien weniger wert als Jungen –, dann muss eine Erzieherin oder ein Erzieher eingreifen und durch Beispiele und Argumente dieses Vorurteil auszuräumen versuchen. Es gibt Grundwerte in unserer Gesellschaft, und es ist wichtig, dass sie den Kindern so vermittelt werden, dass sie diese verstehen.

Sie blicken als Wissenschaftlerin auf jahrzehntelange Erfahrungen beim Philosophieren mit Kindern zurück. Was fällt dabei auf? Bleiben die großen Fragen des Lebens stets dieselben?
Es gibt auf jeden Fall Fragen, die gleich bleiben. Aber es kommen angesichts der aktuellen politischen Situation auch neue hinzu: Warum müssen Menschen fliehen? Warum sollten wir ihnen helfen? Ich habe im Laufe der Jahre großen Respekt entwickelt vor Kindern und ihren komplexen Ideen. Oft geringschätzen Erwachsene das. Sie meinen, die Kinder hätten nur irgendwas aufgeschnappt. Nach dem Motto: Die können doch noch gar nicht philosophieren. Das stimmt nicht – sie können sehr wohl! Für mich sind Kinder ebenbürtige Gesprächspartner, egal wie alt sie sind.

Das Gespräch führte Astrid Herbold. 

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