Ein bunter Stein für die "Indi-Zeit"Lernzeiten

Die Friedrich-Wöhler-Schule in Kassel hat die Hausaufgaben durch individuelle Lernzeiten im Unterricht ersetzt. „Indi-Zeit“ nennen die Kinder diese Lern- und Übungsphase liebevoll.

Ein bunter Stein für die
© Dr. Elke Reuting, Kassel

Der satte Ton einer Klangschale füllt das Klassenzimmer der „Delfine“. Es ist 11.40 Uhr, die zweite große Pause ist vorbei und die Klassenlehrerin hat mit dem Schlegel das Zeichen für die individuelle Lernzeit gegeben. Die Kinder gehen an ihr jeweiliges Fach im Klassenzimmer und holen sich ihre Arbeitsmaterialien heraus. Dann beginnt jedes mit seiner eigenen Aufgabe: Die einen üben Silben, die anderen lesen über ihr Lieblingstier, wieder andere arbeiten in ihrem Arbeitsheft „Matherad“.

„Wir schauen immer, wo eine Schülerin oder ein Schüler steht“, sagt Schulleiterin Daniela Schinke. Jedes Kind erhalte eine Aufgabe passend zu seinem Entwicklungs- und Leistungsstand. Diese individuelle Lernzeit ist nur ein Element eines umfassenden Ganztagskonzepts, das sich die Friedrich- Wöhler-Schule in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Lange Zeit war sie eine Grund-, Haupt- und Realschule im Verbund. Doch dann sanken die Schülerzahlen so drastisch, dass sich die Schule neu erfand: Heute ist sie eine reine Grundschule für 190 Kinder mit offenem Ganztagsangebot. Immerhin 92 Prozent der Schüler nehmen dieses Angebot wahr.

„Der Ganztag bietet uns viele Möglichkeiten, Kinder in ihren individuellen Begabungen zu fördern“, sagt Daniela Schinke. Die 45-Minuten-Stunden wurden abgeschafft zugunsten einer kindgerechten Rhythmisierung. Zudem gibt es Lernhäuser, in denen die 1. und 2. Klasse sowie die 3. und 4. Klasse gemeinsam im Klassenverbund lernen – Gruppen, die Namen wie „Möwen“, „Delfine“ oder „Pinguine“ tragen. Jede Klasse hat nicht nur eine Klassenlehrerin, sondern auch einen Bezugserzieher oder eine Bezugserzieherin. Hort und Schule arbeiten Hand in Hand, um Kindern eine bestmögliche individuelle Förderung zu bieten. Für dieses Gesamtkonzept wurde die Friedrich- Wöhler-Schule im vergangenen Jahr für den Deutschen Schulpreis nominiert.

EINE WÄSCHEKLAMMER ALS ZEICHEN

In diesem Konzept wurden unter anderem die klassischen Hausaufgaben komplett durch individuelle Lernzeiten ersetzt. Hausaufgaben wurden zu Schulaufgaben, nach dem Unterricht steht weder für Kinder noch Eltern weiteres Üben auf dem Plan. Dass dies auch im offenen Ganztag funktioniert, verdankt sich einer geschickten zeitlichen Strukturierung. Die klassischen sechs 45-Minuten-Stunden am Vormittag wurden durch zwei 80-minütige Unterrichtsblöcke samt Pausen ersetzt. Dadurch hat die Schule unter anderem 40 Minuten Zeit für individuelle Lernzeiten gewonnen, die nach den ersten beiden großen Lernblöcken im Anschluss an die zweite große Pause ab 11.40 Uhr starten.

In der „Indi-Zeit“ arbeiten die Kinder an Gruppentischen still vor sich hin. Klassenlehrerin und Bezugserzieherin sind mit im Raum und eilen bei Bedarf zu Hilfe: Wenn ein Kind solche Unterstützung braucht, steckt es eine Wäscheklammer auf ein kleines Gefäß in der Mitte des Tischs. Es ist das Zeichen für die Lehrerin, Erzieherin oder Sozialpädagogin, dieses Kind nun aufzusuchen. Das Ende der jeweiligen individuellen Lernzeit-Stunde wird mit Vivaldi-Musik eingeleitet. Dann beenden die Schülerinnen und Schüler ihre Aufgabe, sortieren ihre Arbeitsmaterialien und legen sie in ihr Fach zurück. Abgeschlossen wird die „Indi-Zeit“ mit einer Selbstreflexionsphase, in der Kinder darüber sprechen, womit es zufrieden war, was ihm gut gelungen ist, was nicht und was es sich vornimmt.

Dieses hohe Maß an Selbstständigkeit und freier Arbeit wird den Kindern an der Friedrich-Wöhler-Schule ganz bewusst zugetraut und abverlangt. Sie nutzt Arbeitsformen wie die Wochenplanarbeit, das Lernen an Stationen, Themen- und Projektarbeit sowie freie Arbeitszeiten. In den Klassen 1 und 2 steuern die Klassenlehrerinnen die Lern- und Übungsphasen noch und beraten ihre Schüler und Schülerinnen so individuell wie möglich. In den Klassen 3 und 4 steuern die Kinder ihre Lern- und Übungsphasen bereits so weit wie möglich selbst. Neben dieser andauernden prozessorientierten Lernberatung und -begleitung erhalten die Kinder auch regelmäßige Rückmeldungen zu ihren Leistungen und Lernfortschritten. Dann sichten Klassenlehrerin und Bezugserzieherin beispielsweise Arbeitsordner, Lernmaterialien und Übungshefte der Kinder während der individuellen Lernzeit. Einmal pro Woche gibt es auch eine schriftliche Rückmeldung ins Portfolio des jeweiligen Kindes.

Eine besondere Wertschätzung und Anerkennung erfahren die Kinder auch Woche für Woche in der individuellen Lernzeit. Wer fleißig und konzentriert bei der Sache war, erhält am Ende der Woche eine „Belohnung“: Dann gibt es als wertschätzende Geste einen bunten Stein.

Individuelle Lernzeit

Der Begriff „Lernzeit“ wird meist als Oberbegriff für viele verschiedene Formen von Übungszeiten verwendet. Die Bezeichnungen für diese Zeiten sind vielfältig und lauten zum Beispiel: FRÜBEN (freies Üben), Tüff (Trainieren, üben, fördern, fordern), ÜLE (Übungs- und Lernzeit), SEGELN (Selbstgesteuertes Lernen), Studierzeiten etc. In einem engeren Verständnis kann unter individueller Lernzeit eine Übungs- und Lernzeit verstanden werden, die inhaltlich und methodisch eng mit dem Regelunterricht verbunden ist, in der Regel im Klassenverband (in heterogenen Lerngruppen) stattfindet und unter Aufsicht der Klassenlehrer / Fachlehrer steht.

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